111 Songs: Die Goldenen Zitronen – „Das bisschen Totschlag“

In der Rolling-Stone-Beilage: "Pop in Deutschland" haben unsere Autoren 111 Bands und ihre besten Songs zusammengetragen. Frank Castenholz erklärt, warum „Das bisschen Totschlag“ von Die Goldenen Zitronen einer davon ist.

Natürlich hätte hier auch „Am Tag als Thomas Anders starb“ stehen können, doch wäre es unfein, ausgerechnet diesen Frühschuss stellvertretend für den Output einer Band mit solch furioser Erneuerungswut zu nennen. Auf ihrer Debüt-LP schworen sie sich im Chor mit den Ärzten und den Toten Hosen noch darauf ein, „Für immer Punk“ zu sein. Deren eingleisigen Weg in die Charts wollten die Zitronen indes nicht gehen. Avancen der Major-Label lehnte man rigoros ab. Angewidert von der wachsenden Schar stumpfer Teilzeit-Punks mit Oberlippenbart, die die Band als Bierzelt-Combo missverstanden, machte man 1990 mit der LP „Fuck You“ Schluss mit lustig. Über Labelwechsel und personelle Häutungen suchten die Ober-Zitronen Schorsch Kamerun und Ted Gaier nun nach Wegen, um Haltung und musikalische Form wieder in Einklang zu bringen. So reagierten sie auf das Bröckeln linker Gewissheiten nach dem Mauerfall und den bundesweiten Flächenbrand rassistischer Übergriffe mit der HipHop-Single „80 Millionen Hooligans“ (1992) und der LP „Das bisschen Totschlag“ (1994).

Der von giftigen Orgel-Vamps getriebene Titeltrack scheint nicht nur musikalisch vom kämpferischen Freigeist eines Gil Scott-Heron inspiriert. Während der Text auf die Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit gegen rechte Gewalt zielt, persifliert das Video Integrationsklischees aus der keimfreien Welt der Fernsehwerbung. Auf weiteren Platten hielten Jazz, Elektronik und Avantgarde Einzug in ihre Klangwelt. Mittlerweile skandiert Kamerun seine assoziativen Impressionen gerne über seltsamen Grooves – die Grenzen zwischen Track und Soundtrack, Punkrock und Kunst, Humor und Hirnfick sind endgültig gesprengt. Die „Goldies“ müssten wohl schon eine Pop-Platte aufnehmen, um ihr aktuelles Publikum noch zu verstören.

Frank Castenholz

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