21st Century Digital Boy

CD-Sammlung verkauft, von Berlin in die Schweiz gezogen, als Reporter bei der "Weltwoche" und als Anhänger von Westbam beim Schlager-Contest: Benjamin von Stuckrad-Barre, über den sich das Feuilleton schon Sorgen machte, kehrt mit seinem Buch "Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2" zurück. In dem für den ROLLING STONE verfassten Essay denkt die Ikone der neueren deutschen Literatur", wie der "Spiegel" kürzlich trompetete, über Musikrezeption und Medien nach, über falsche Gemeinsamkeiten und geheuchelte Nähe, über Blumfeld und Wir sind Helden und die ersten, die schönsten Eindrücke von Popsongs - auch eine Selbsterklärung. Mit Digitalfotos aus dem privaten Album des Autors.

Erpresser, aufgepasst: Es gibt eine brisante frühe Tonaufnahme von mir. Da sage ich alles. Widersetze mich, zeige ein wahres Gesicht, wenn nicht gar meins! Da singe ich sogar. Dynamit, reines Dynamit. Wir hören mal rein: Ich bin zu Gast bei meinen Großeltern, drei Jahre alt, und singe zum Gedudel meiner Lieblings-Platte. Die Grundfarbe des Covers war weiß. Das weiße Album der Beatles, das viele aus Image-Gründen als ersten eigenen Tonträger in ihre Biografie hineinlügen, war es in meinem Fall nicht, nein, ganz weiß war sie sowieso nicht – mitten im schönen Weiß saß ein Junge, den ein Leiden am Fuß plagte. Das verstand man, auch ohne den erläuternden Plattentitel „He du, he du, mich drückt der Schuh!“ Denn lesen konnte ich noch nicht, jedoch war die Sache klar: Der Fuß befand sich blickziehend im Covervordergrund und dick und groß, also AUA!, und dem Jungen tropfte es aus den Augen, also traurig. Ich muss dir was erzählen, mir ist etwas passiert, heißt es da. Und dass der Schuh drückt. Das Dasein ward mir kompakt umrissen mittels dieser, meiner ersten Platte.

Und auch mein Einstieg ins Pop-Plattenkaufleben ist offenbar die druntenste aller Möglichkeiten; ich toppe immer, von unten betrachtet, die Rangliste, bei diesem Gesprächspausenfüll-Klassiker, den viel zu früh erschienene Gäste eines abendlichen Durcheinanders verlässlich zu Hilfe nehmen, sich dabei zügig betrinken und verlegen im Kreis vor dem Kühlschrank stehend über jeden Wortbeitrag lauthals lachen. Am meisten über mich, aber das ist mir wirklich wurscht. Ich bin immer erstaunt, wenn Menschen ihre erste Platte, ja genau: angeben. Wow. Immer schon weitsichtig und cool und auf dem Laufenden, also vorneweg gewesen, von Anfang an, nicht schlecht. Kompliment, du Trotzdem&geradedeshalb-Langweiler.

Mein erster Tonträger war eine Doppel-MC, ein Sampler mit dem Titel „Hits 3“, und ich hatte ihn meiner Oma in den Einkaufekorb legen dürfen, für Weihnachten. Endlich „Take On Me“ hören ohne 70. Geburtstage, Elbtunnelstaumeldungen und anderen Radioballast. Und es wurde noch toller: Auf diesem Sampler fand ich auch Falcos „Vienna Calling“ – na also, genau diese beiden Lieder hatte ich mir beim Radiohören gemerkt und als herausragend empfunden; ich verstand kein Wort, und schon war ich drin. Endlich hatte die Musik mich entdeckt, mir den Weg aus dem Egalstaub gezeigt, die Ohren langgezogen und das Hirn ordendich durchgespült „Ohoho, Operator“ oder „Tucson, Arizona; Toronto, Canada“ oder ähnliches war vielleicht herauszuhören, wenn ich zackig in mich hineinflüsterte, auf bis heute nicht im Wortlaut verstandenen Silben herumkaute, die ich mir immer wieder anders falsch am Lied entlang zusammenreimte. Cha, Cha, Cha!

Meine Eltern dachten, nun könne ein Besuch beim Neurologen nicht schaden, meine Erklärung „Och, so ein Lied“ auf ihre Nachfragen, was ungefähr ich denn da von morgens bis abends spastisch zuckend vor mich hin murmelte, schien ihnen nicht auszureichen. Aber ich konnte das nicht erklären oder übersetzen. Was für ein Text, herrlich, muss ich gedacht haben, eher wohl gespürt, denn ich sang ihn mit in Lautschrift, irgendwelche Knautschsilben, die ganz Musik waren, keiner Sprechsprache Rechenschaft schuldig.

Do the bang-bang-boogie, say upjump the boogie Do the rhythm on the boogie the beat Do the hip do the hop do the oh-oh-bebop Do the freestykRock’n and wenevergonna stop Herr Präsident, wir kennen eine Sprache Und diese Sprache heißt Musik The Sound of Musik Und das war’s dann nämlich. Ich tat den Oh-ohbepop wie den Freistil. Ich war mit von der Partie. Von der Party, geradezu.

Häufig berichten Menschen, die Sympathie für sich erzeugen oder eine normal verbrachte Jugend nachweisen wollen, wie mit dem Tennisschläger vor Spiegeln gestanden wurde, wenn nicht gerade Frösche mit Strohhalmen aufgeblasen oder eine Fernsehserie geschaut wurde, die jetzt, ob man das schon mitgekriegt habe, ja nachts im tschechischen Fernsehen wiederholt wird. Hattet ihr auch immer, kennst du noch, wie heißt noch mal, gibt es noch, warst du auch so verliebt in, haben bei euch auch alle, und man war ja so dermaßen, wie heißt noch mal dieses Lied, was hattest du für einen Abi-Schnitt, wann ging es bei euch los mit Kiffen, hast du noch Kontakt zu, wie findest du diese Coverversion jetzt von, es gibt ja jetzt bald wieder dieses Originaldingsdabumsda, vermutest auch du im Keller deiner Eltern irgendwo noch – du, ist es nicht lustig, das?

Nein.

Die Gemeinsamkeiten wärmen nur scheinbar. Hat man sich nicht trotzdem allein gefühlt, und das zu Recht und bis heute? Künftige Weggefährten waren und sind doch nicht ermittelbar durch möglichst große Übereinstimmung von Fabrikatsnamen in der Jugend bevorzugter Nahrungsmittel, Vorabendserien und Wichsvorlagen. Ich habe schon so viele Menschen kennengelernt, die sich auch an Beckers Wimbledonsieg, Mauerfall, Tschernobyl und Wackersdorf erinnern können, genau wie ich, ist das nicht irre? Dass gleichaltrige Deutsche in einigen Jahren feststellen werden, nicht die einzigen zu sein, die wissend nicken, wenn sie zum Beispiel durch eine Trivial-Pursuit-Frage konfrontiert werden mit Zwangsgepäck wie Dieter Bohlen, Red Bull, Gerhard Schröder, Nokia, Apple, Granny Smith, Thomas Gottschalk oder Gott -ja mei. Es tun immer alle so überrascht Dabei ist ja gerade das alles nicht interessant; von Belang vielmehr ist, was sich und worin man sich unterscheidet, wie der andere unter relativ gleichen Außenbedingungen im einzelnen doch komplett verschieden koexistiert (hat).

Allein so wird eine Epoche dreidimensional.

Im Fernsehen wird ja bekanntlich in zunehmendem Ausmaß all das am liebsten aus dem Keller geholt und aufgebrüht, was endlich vorbei ist. Die Intensität und Skrupellosigkeit, mit der sie organisiert ist, diese ein Höchstmaß an kollektiver Lüge und Fälschung voraussetzende und nach sich ziehende Vernichtung von Geschichte und die ersehnte Absolution von jeglicher Verantwortung ihr gegenüber erfüllt vor allem einen Zweck: die Gegenwart verdrängbar zu machen. Zugleich wird die Geschichte zerschreddert. Was aus der Zukunft wird, mag man sich da kaum noch ausmalen.

Jedes Lied, das man wiedererkennt oder das nur „fast so klingt wie Wiehiessendienochmal“, ist in der Lage, uns in ein Erinnerungslabyrinth zu rocken. Da kann das Lied nichts für, in dieser Hinsicht muss dem Komponisten kein Dankesbrief geschrieben werden, der mit dem Satz beginnt, dass man sowas

normalerweise nicht mache, nein. Lassen Sie den Künstler in Ruhe, der hat nichts zu tun damit, dass Sie sich verstanden fühlen (endlich mal!), nein, Menno!, Sie sind nicht gemeint, Ihr Leben so wenig wie Ihre Eltern oder Ihr Heimatland, die Liebe, „die da oben“, der Papst oder Bush. Hat ein Tonbildner doch tatsächlich mal Ihr Grundgefühl die Welt betreffend artikuliert und Worte gefunden, nach denen Sie seit Jahren suchen, dann ist das prima für Sie, lieber Hörer, aber eigentlich komplette Einbildung. Oder sagen wir: Erfahrung.

„Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu.“ Erstere also macht man erst mal so vor sich hin und her, und denkt sich anschließend die dazu passende Geschichte aus, so beschreibt Max Frisch diesen Vorgang in „Mein Name sei Gantenbein“. Schließen Sie nun bitte die Augen und denken Sie sich Ihr Leben als Diavortrag, den Sie mit Platten Ihrer Wahl zu vertonen hätten. Wie – was? Ach, bitte, das ist doch nur eine Hilfestellung, ich weiß sehr wohl, dass es jahrelanger Übung bedarf, mit geschlossenen Augen Platten aufzulegen, seien Sie nicht kleinlich. Seien Sie lieber klein: so 12 oder 13 mal gerade kurz, bitte. Nun rekonstruieren Sie, wo, womit und mit wem, nicht zu vergessen: wann am Tag (nach der Schule, auf dem Schulweg, statt Hausaufgaben, statt Einschlafen, beim Zimmeraufräumen oder beim Schmollen – los, erinnern, bitte!) Sie damals hauptsächlich Musik hörten. Die Vergegenwärtigung der Ihnen damals zur Verfügung stehenden Gerätschaft schon wird ihr Erinnerungsvermögen stimulieren, wie?, Kopfhörer, na bestens, ja, erinnern Sie sich weiter.

Sehr gut, Schulbus. Raucherecke. Donnerstag abends britische Musik, sagen Sie, das war der Abend für Leute mit Frisur, damals, und Sie dabei, hervorragend, das wollen wir wissen. So, nun reicht’s – moin, moin Gegenwart. Jeder von uns kennt das Lied „Mensch“, Sie nicht? Ah, dann wissen wir jetzt alle eine Menge über Sie, höchstwahrscheinlich waren Sie im Sommer 2002 nicht in Deutschland, oder? Lieder sind Schwämme, heißt es bei Schopenhauer. Das Bild ist recht gut, aber es ist mir selbst eingefallen und klingt nach Abreißkalender, ansonsten haben Sie Recht, Schopenhauer hat das eher nicht gesagt, zumindest ist es nicht überliefert. Aber hätte er es gesagt, man würde es verschiedenartig beurteilen als mit dem Quellenverweis: So sprach kürzlich Vanessa, Ex-No Angel, nicht wahr? Vanessa ist so hohl, würde jemand sagen, und das Schwammzitat hohnlächelnd als beweisendes Beispiel anführen; ein anderer könnte mit diesem Schwamm-Apercu ebenso schlüssig das Präzise Schopenhauers nachweisen, jaja, sehr anschaulich, wie Schopenhauer haarscharf am Banalen vorbei und daher so zeitlos, allgemeingültig zu formulieren wusste.

Das bedeutet: Was wir aus Text, Bild und Ton machen, wozu Kunst dient oder auch instrumentalisiert wird, kann ihr nur bis zu einem gewissen Grad eingeschrieben werden. So fallt es leichter, Leben und Werk von zum Beispiel Anton Corbijn und Leni Riefenstahl im Vergleich zu beurteilen.

Ace Of Base, kennen Sie die? Da muss ich immer sofort an allerlei denken, ohne je eine Platte von denen besessen zu haben. Oder so herum: Wer saß im Kino neben Ihnen, als vorn (eventuell akustisch obendrein auch hinter Ihnen, Dolby Surround, Sie wissen schon, nicht wahr?) die Titanic sank?

Bailando, Bailando. Natürlich ist das fürchterlich, und selbstverständlich höre ich gerne auf zu singen. Deutlich machen wollte ich, dass in diesem ersten Schritt nicht Ihr Geschmack gefragt ist, nicht Ihr Bescheidwissen, Sie Ihre Hip-Spasti-Clubkarte nicht vorzuzeigen gebeten werden. Vergessen Sie das. Erinnern Sie sich lieber.

Diese Informationsflut immer, nicht wahr, diese Datenattacke – wunderbar. Blind und dumm, wer, erschüttert von einer solchen, tatsächlich noch beim Austausch und Abgleich mit dem Assoziationsmenü anderer sich erstaunt zeigt, dass der andere nicht dort gewesen ist, wo ja – außer dem alsdann aufrichtig Bedauerten – alle waren (echt alle!). Da habe man nämlich wirklich was verpasst. Es folgen Ausführungen über Ausmaß, Verlauf und Folgenschwere dieser Zeit, die in die Geschichte eingegangen sei. Groß sei sie gewesen, jene Zeit Aus der Froschperspektive heraus stimmt das, und der Erzähler glaubt es sich selbst sehr gern, was aber nur im Plural Richtigkeit hat: In die Geschichten geht sie ein, diese Episode, die sich mit jeder Weitergabe mythischer verästelt und immer weiter vom wahren Hergang entfernt. Je nachdem, wer dort war, wer vom Türsteher abgewiesen wurde, wer mit wem ging und wie hoch der angerichtete Sachschaden oder der aktuelle Schwellenwert ist, ab dem etwas in der Nachbeurteilung von „Wie immer“ befördert wird in die Kategorie „Das stimmt wirklich“ bzw. „Kann man sich heute kaum noch vorstellen“. Macht man aber ja gerade, lügt es und sich selbst zurecht. Erinnern eben. Nein, ist das krass. Jetzt mal ohne Scheiß, die haben doch nicht etwa – unglaublich. Du willst mich verarschen.

Sind die Reaktionen der Geschichtenempfäönger im Durchschnitt dieser Art, ist ein neues Kapitel entstanden im virtuellen Nachtlebenmärchenbuch, aus dem abends einander erzählt wird, um bloß nicht einzuschlafen. Die Präsenzbibliothek hat für jeden eine andere Ausgabe dieser Fabeln parat, im Ganzen bekommt das Werk niemals jemand in die Hände, ja nichtmal eine Inhaltsangabe oder Einordnung, eine fundierte Kritik ist möglich. Allein die Sprache und die aktuell leihbaren Auszüge modifizieren sich ständig, je nachdem, wer sie wann wo aufschlägt. Und morgen schon wird das heutige Fragment im gegenwärtigen Aggregatzustand nicht mehr aufzufinden sein. Krakiger als die Bibel ist dieses rahmenlosen Sittengemälde, diese nicht alphabetisch geordnete, durch nichts Reales begrenzte Enzyklopädie; sie ist unzerstörbar, nicht zusammenzufassen und nie am Ende, letzteres sind bloß die Helden oder Handlungsorte hin und wieder: Wer nicht mehr kann und am immer Heute anzeigenden Abreißkalender nicht mehr regelmäßig sich parat zu melden in der Lage ist, wird abgeworfen, landet auf dem Boden und versinkt im Nichtmehr. Unter sich und neben sich die Tage, die nicht mehr zählen, da oben geht es unsentimental vorwärts, die Funktionen aller Jahreszeiten marodieren absolut gleichzeitig in diesem Dickicht droben, blüht dort prächtig etwas auf, fallen zugleich direkt daneben letzte Blätter, die Früchte sind geerntet, das Schärflein beigetragen, das wär’s dann, war schön, weiter, voran. Jeden drückt ein anderer Schuh, und die persönlichen Trittspuren, egal wie mühevoll abseits der Haupttrassen sie hinterlassen werden, gehen allesamt in Trampelpfaden auf. Und du gehst Rüssel an Schwanz hinterher, wie Judith Holofernes so schön singt, die in einem anderen Lied, der „Reklamation“, bezeichnenderweise ganz wunderbar bei „Ca plane pour moi“ und DAF klaut. Und hier und dort. Anders geht es nicht, das Zurückgeben und Weitergehen.

Es ist eine der vorrangigen Verpflichtungen im Rahmen der Verstandesaufzucht und -Pflege, sich jeglicher Art kultureller Tradition, Neuerfindung, Äußerung oder Hervorbringung gegenüber weniger anmaßend zu verhalten, als von Geburt bis Pubertät in steigendem Maße geschehen. Etwas zuerst gekannt zu haben, als es noch ganz klein und ganz wild und ganz unbekannt war natürlich (besser sowieso, versteht sich ja von selbst, genau wie die, die solches daherlabern, die verstehen sich auch super und ganz von selbst; zum Kaputtlachen), das sollte nicht mehr ausschließliches Fundament Ihres Selbstwertgefühls sein, Herrschaften. Auch nicht das „Erster!“-Schreien beim Blödfindkonter, sobald ein K7Künstler bei „Wetten, dass…?“ mit Traktoren scratcht oder ein Klagenfurt-Dödel im Olympiastadion seine neuesten (plus ein paar Mitgrölklassiker, natürlich), nicht auf Endreim zugespitzten Elfzeiler darbietet. Klar ist die Mehrheit furchtbar dumm. Wenn sich deren Stahlbetonmembran aber ausnahmsweise einmal als durchlässig für Wunderbares erweist, welch ein Glück! Zudem Aufgabe und Chance des Künstlers.

„Spex“ und Charlotte Röche präsentieren Blumfeld in irgendeiner Biergrotte und finden Benjamin v. Stuckrad-Barre scheiße, klar, das ist auch punkig, und erst echt mit auswendig paraten Michael-Moore-Simplizitäten. Ab zwei Michael-Moore-Büchern im Nachtkästchen darf man übrigens guten Gewissens bei Greenpeace austreten. Zitat aus irgendeinem Blumfeld-Interview in irgendeinem Blättchen:

„Hier endet das Band. Peter, Andre und Michael erzählten außerdem von ihren anderen Bands, vom ehemaligen Bassisten Eike Bohlken, äußerten sich zu Benjamin v. Stuckrad-Barres Blumfeld-Lobeshymnen (in etwa: ,Wer sich unsere Texte durchliest, kann sich schon ausrechnen, was wir von einem Benjamin v. Stuckrad-Barre halten…‘) und witzelten über Detlef Diedrichsens kaputten CD-Player und seine schlechte Anlage (Diedrichsen hatte ,Testament der Angst’vor allem wegen des schlechten‘ Sounds verrissen).“

Das ist jetzt aber selbstreferenziell und total Popliteratur, dass das da steht, stimmt’s, Ihr Schlauheinis? Schnauze, mein Text. Leckt, ja leckt bitte nicht mich, leckt weiter Jochen und so weiter, denen scheint das nichts auszumachen, denen gelingt ja sogar, in ihrer Lockerkritischallesversteherpose inmitten lässiger arschgesichtiger Nebensatzwatschen, ganz ohne sich zu schämen oder ausnahmsweise mal sogar selbst kurz zu, Achtung, Eure Lieblingsverbkonstruktion!, zu hinterfragen, Niveau und Sichtweise drittklassiger Drecksboulevardmagazine zu atmen. Noch ein Zitat aus noch einem Blumfeld-Interview aus noch so einer Art Blättchen:

„Anke Engelke und Stuckrad-Barre sollen ja gesagt haben, dass ihre Vorliebe für R. D. Brinkmann sie verbunden hat. Ich meine das nur, zur Rezeption und Bedeutung von Brinkmann heute.

Jochen Distelmeyer: Ist ja eine schlechte Voraussetzung für eine Beziehung. Sind die nicht schon wieder auseinander?

Ja. Angeblich.

Jochen Distelmeyer: Hat für mich jetzt aber keine weitere Bedeutung.“

Blumfeld ist eine der besten Bands der Welt, finde ich, Blumfeld sind wirklich, wirklich, und jede Platte für sich, unfassbar groß. Aber als ein Leider-Leider-Abonnent der „Spex“ zum Beispiel möchte ich die Schreibheinis immer zurück hinters Absperrgitter winken, denn ein Interview ist keine Audienz, eine Rezension kein Butterfahrtsflyer, eine Titelgeschichte kein von schlechtem Gewissen befeuerter, leichenschmausbegleitender Lobpreisungsreigen sich mitschuldig fühlender Hinterbliebener eines zehnjährigen Selbstmörders.

Ist ja toll, dass es toll ist. Aber warum, bitte? Diese Nachfrage ist keine Zweifelanmeldung, nur will ich eine anständige Berichterstattung, eine, die nachvollziehbar und zunächst rein deskriptiv den Gegenstand ins Zentrum der Ausführungen rückt; das Geduldsdarlehen des Lesers wird in der Regel nicht geködert durch in Aussicht gestellte Teilnahme an Verweisprahlerei, Schwanzvergleich oder Kompensation frühkindlichen Stotterns von so Musikschreibern. Dachte ich zumindest immer – nein, nicht von Geburt auf, sondern erst seit ich selbst diesen Beruf ausprobiert und aufgegeben habe, denk und weiß ich das, bin mir da sogar sicher, vor allem auch der Notwendigkeit einer wiederholten und nachdrücklichen Erinnerung in Richtung der musikbeschreibenden Industrie. Wir sind auch Fans, aber ganz gewaltig, das kriegen wir alleine hin, macht Ihr mal Eure Arbeit da, bitte. Jochen macht das Fenster zu. Das hat eine solche Klarheit und Richtigkeit, yeah. Eines Nachts sah ich im Musikfernsehen Charlotte Roche und Judith Holofernes, die oben schon genannte Sängerin der Gruppe Wir sind Helden, die ich von A bis Z scheiße finde, den Hit aber super, Punkt, dachte ich eine Weile lang, aber jetzt, ein paar Monate später ist es ganz anders, die Platte ist wunderbar, die Frau, der so von Roche genannte Hammer, ganz recht, dies Denkmal-Lied allein, spitze, und ehrlich gesagt: Standpunkte machen gute Laune, ihre stetige Überprüfung und Infragestellung, Messung an inzwischen anderweitig Begriffenem oder Erfahrenem, das macht noch viel bessere Laune. Nun, jedenfalls: Im Fernseher also sah ich die Moderatorin und die Sängerin einander versichern, dass sie sich (die andere, aber ganz offensichtlich auch sich selbst) super finden. Und dass sie alles richtig machen, man aber auch total aufpassen müsse. So wie sie. Diese Scheißwerbung, igitt, ekelten sich die beiden Bausparpunkerinnen (das Wort dachte ich, ab ich das sah, aber Wir sind Helden sind trotzdem super). Nun gut, prima, wie richtig Ihr das alles seht, doll aufrecht und so, Ladies, soll und will der Zuschauer denken, und mitten in all der Einigkeit wurde das Programm ganz geschwind mal unterbrochen durch, ahm, leider: die Werbung. Dann ging’s weiter. Charlotte und ich haben uns mal gekannt, keine Ahnung, warum sie sich nicht mehr meldet, vielleicht hat Jochen Distelmeyer es ihr verboten, auch kriege ich noch Geld von ihr, aber darum geht es gar nicht, ich muss nur so lachen, wenn ich sehe, wie die gesamte über Pop berichtende Genieversammlung freiwillig und notlos Blumfeld oder Charlotte Roche, zwei herausragende Beispiele, mit lallendem Dauerlob einseift und schlicht und skandalöserweise ihren Beruf nicht ausübt. Das ist für alle schade.

Blumfeld im Gespräch mit „Spex“, man muss es einfach mal lesen. Oh, jetzt sagen aber viele Arschloch, und mir ist das nicht egal, ich find’s schade, zugleich aber, und das überwiegt, wirklich lachhaft. Natürlich sind Blumfeld unglaublich und großartig. Aber wenn man es nicht beschreiben kann, bitte bleiben lassen. Denn die Gelobten glauben den Superlativkladderradatsch inzwischen. Charlotte sagt dem „Spiegel“, der Männchen macht, und sie fragt, ob sie denn auch schön kritisch und unbedingt sie selbst bleiben wird für immer und speziell, wenn sie bei Pro7 bekannte Menschen interviewen wird. Ja, sagt sie. Aber hallo. Sie habe doch schon Robbie Williams für den Kommerzsender interviewt, man kann wahrscheinlich gar von Vorknöpfen und Durchdiemangelnehmen sprechen. Da seien ganz schöne Hämmer drin gewesen, in dem Interview mit, Lachpause, Robbie Williams. Und drin geblieben seien sie, die Hämmer, echt jetzt! Ist nicht wahr. Doch ist wahr, keine Zensur. Totale Freiheit Auf ProZ Na Mahlzeit Und das werde, sagte sie noch, alles sehr hoch gehängt Da kämen dann Leute wie Heike Makatsch und Bruce Willis. Hyper Hyper.

„Unten“ heißt die wunderbare Platte der Regierung, auf der „Runterbringer“ und „Corinna“ drauf sind: „Hey Corinna, was ist das für’n Leben/Wir kriechen im Staub und wir schlafen im Regen… Und du weißt, sie wollen dich besitzen“. Sollen mal alle alles schön hoch hängen, dann können wir unten höher hüpfen, im Moshpit Mein Bruder ist Arzt und wurde kürzlich vom „Metal Hammer“ zu den Folgen von Headbangen befragt. Muss ich ihn also nicht mehr selber fragen. „I love my docs“ von den Bates kennt niemand, und die sind auch Scheiße, finden alle, und jetzt hat Distelmeyer gesagt, man könne doch bitte bla-bla-bla – und alle haben gejubelt, aber ich bin eingeschlafen. Und draußen weht der Wind und immer wieder. Von der „Spex“ bekomme ich auch noch Geld, für eine Westbam-Titelgeschichte, hygienebedachte Leserbriefspießer greinten, für sowas von sojemandem würde doch wohl bitte kein Geld gezahlt. Nee, keine Sorge, Ihr Cordhosen, kein Cent. Je okayer das Blatt gilt desto schlechter die Manieren, ist so.

Ein Plakat: 33 – 45. Hin da. Aber wo landen wir? Was wird beworben?

Ein Land im Wahn, Massenbewegung, Enthusiasmus, Macht, Vernichtung, Überlebenskampf. Opfer und Helden, Dämonen und Nutznießer.

So untertitelt könnte das Plakat mit dem Slogan ,33-45″ einen Vormittag mit Guido Knopp ankündigen. Aber genauso gut eine Nacht mit Sven Väth. Es kommt aufs Umfeld an, in dem der Hinweis auftaucht, auf den Übermittler, auf Medium, Uhrzeit, Ort und Gestaltung. Sinnvoll ist eine Reflexion darüber, warum man es erfahren hat, wo man sich so rumtreibt, wem man zuhört, was man beachtet kurz gesagt und bitter in jedem Fall: Welcher Zielgruppe man angehört, so dass diese Werbemaßnahme für sinnvoll gehalten wurde und nicht wie ja so vieles unbemerkt blieb.

Ich kam langsam dahinter, als ich begann, alles zu kaufen, was es von Herbert Grönemeyer so gab. „Bochum“ kannte ich von meinem Bruder, „Sprünge“ kaufte ich im Musikhaus, wo es auch Instrumente gab und auch der „Hits 3“-Sampler angeschafft worden war, und „Ö“ kaufte ich in einem Euro-Spar-Markt. Bei den folgenden Grönemeyer-Platten ging ich jeweils ab einem halben Jahr vor Veröffentlichung jeden Montag fragen, ob nicht vielleicht doch schon überraschend was da sei. Na, und mit Singles und Alben, das hatte ich inzwischen begriffen, dass noch eine andere Zeitmessung als die Herrschaft der Nationalsozialisten zwischen 33 und 45 stattfindet.

Können ja nicht alle alles gleichzeitig machen. Ich hab die schon dann und dann gesehen, noch mit dem und dem, tjaja – aha. Na schön. Ich war da im Freibad, war auch geil. Ich war auch bei Konzerten von Gianna Nannini und Klaus Lage. Erste Reihe und sehr begeistert. Und Rio Reiser musste ich mal Haschisch besorgen, ich ging zur schönsten Frau meines Jahrgangs, sonst redete ich sie nie an, aber ich wusste, sie kannte jeden. Für Rio Reiser! Da kann man schon mal fragen. Sie war größer als ich und hatte sehr reine Haut und weiße Jeans und augenscheinlich nie ein Problem. Manchmal mit der Pünktlichkeit, na noch toller. „‚N Fuffi“, hatte Rio geordert, ich hatte wissend „Alles klar!“ gesagt, aber was hieß das? 50 Mark? 50 Gramm? Ich klaute meinem Vater 50 DM, gab sie dem Mädchen, und abends lag ein Briefumschlag vor der Haustür, der in der Mitte einen Hubbel hatte, da war was drin. Braun. Der Stoff. Herrliche Welt. „Die Mutti guckt alleine Krimi oder Quiz“, wie es bei Lindenberg heißt, „Und die Tochter ist da, wo die action is.“ Und ich dann also auch, auf zur Action, mit dem Stoff in der Tasche, der Krimi ist, wo wir sind. Mit dem Rad zu Rio ins Hotel. Er freute sich, guckte aber so ganz und gar müde, und ein Jahr später war er schon tot. Am Ende der oben beschriebenen Tonbandaufnahme versuchen die Großeltern mich dazu zu bewegen, mal ohne Playbackunterstützung zu singen. Ängstlich jammernd weigere ich mich da: „Mit die Kinder! Mit die Musik!“ Oder, wie Neil Tennant singt:

Music on the radio Dance music at the disco Live a lie, dance together all night long to your favourite song Live and die, it’s all that we know I need a friend at the journey’s end Hit music in Stereo It’s allabout love and it’s about forgetting Choose a song when the night’s too long We all need love and we want protection I need a friend at the journey’s end.

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