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Während wir uns in Biergärten und Freibädern vergnügen, arbeitet man in Hollywood eifrig daran, das Kino für die Zukunft fit zu machen.

Steven Spielberg ist für Hollywood mittlerweile, was Yoda für den staunenden Luke Skywalker war. Als viel gefragter Augur hat er stets den Fuß in der Tür zur Zukunft des Kinos und kennt dessen Vergangenheit intimer als die meisten. Als Schicksalslenker fördert er Protegés und hilft Kollegen auf Blockbuster-Kurs, als Unternehmer jongliert er mit Mogulen, als Regisseur mit Legenden. Dementsprechend bedächtig lauscht man, wenn er listig wie eine alte Eule durch seinen weißen Rauschbart raunt. Als er 2002 mit „Catch Me If You Can“ einen dezidiert altmodischen Film bewarb, hatte ihn tiefe Melancholie gepackt. Klassisches Filmmaterial werde bald zugunsten digitaler Kameras entsorgt, klagte er so betroffen, dass ihm Tom Hanks tröstend die Schulter tätschelte. Letzte Restbestände von Zelluloid würden von Puristen vom Markt gekauft, und dann sei das Medium unwiderruflich ein anderes.

Womöglich ein besseres? „Wissen Sie“, seufzte Spielberg damals, „ich besuche regelmäßig die Entwicklungslabors führender Unterhaltungskonzerne, um zu sehen, was uns übermorgen erwartet. Allein im Gamer-Bereich wimmelt es von irren Effekten und erstaunlichen Techniken, die das Kind in mir sofort mitreißen. Doch als Regisseur frage ich mich ständig: Brauchen wir den Klimbim überhaupt? Können wir dadurch etwas sichtbar machen, was dem Kino sonst verborgen geblieben wäre? Und was geben wir dafür an kultureller Identität auf? Diese Fragen stelle ich mir oft, denn das Kino verändert sich durch die Verschmelzung mit dem Computer schneller als je zuvor in seiner Geschichte. Es zerreißt mich, ehrlich gesagt. Bei aller Neugier auf die Zukunft geht immer auch ein Stück Kultur verloren.“

Im Sommer 2011 ist Spielberg offensichtlich noch immer so zerrissen, dass er auf die gegensätzlichsten Hit-Hoffnungen der Saison setzt. Einerseits produziert er die blitzmoderne Destruktionsorgie „Transformers 3“, unter der Regie von Michael Bay vom „Avatar“-Team in 3-D gedreht, sowie Jon Favreaus Genre-Bastard „Cowboys & Aliens“, in dem eine Westernstadt von den coolsten Raumschiffen attackiert wird, die es bei George Lucas‘ Trickschmiede ILM zu kaufen gibt. Extraterrestrisches sucht auch eine Kleinstadt in der Spielberg-Produktion „Super 8“ heim, bevor nach wenigen Bildern verblüffend evident wird: Der für gewöhnlich so fortschrittshungrige Regisseur J. J. Abrams („Lost“) setzt diesmal auf das volle Nostalgieprogramm für Babyboomer und hat seinen Film als schwer spielbergverliebte, in goldenes Licht getauchte Zeitreise in die Kino-Kindheit der Achtziger inszeniert, die nun mal geprägt waren von „E.T.“ oder „Goonies“.

Dass Spielberg zudem schon den Start der mit Peter Jackson ausgeheckten 3-D-Adaption von „Tim & Struppi“ plant, zeigt, an wie vielen Fronten er arbeitet, um das Kino für die Zukunft fit zu machen. An der zwingenden Notwendigkeit dieser Maßnahme zweifelt kein Experte, obwohl Hollywood im Vergleich zur Musik- oder Verlagsbranche auf hohem Niveau klagt. 10,46 Milliarden Dollar trugen allein die Amerikaner 2010 ins Kino. In nackten Zahlen das zweitbeste Ergebnis der Geschichte. In Deutschland war die Zahl der Kinobesucher im gleichen Zeitraum zwar rückläufig, doch obwohl mit 126,6 Millionen Zuschauern 13,5 Prozent weniger in die Lichtspielhäuser gingen als im Vorjahr, sank der Gesamtumsatz der Branche nur um 5,7 Prozent auf 920,4 Millionen Euro. Wenn auch die Umsätze noch einigermaßen stimmen, sind die Bedrohungen doch evident. Piraterie und Downloading sind als neues Hobby des 21. Jahrhunderts nicht einzudämmen, während heimische Wohnzimmer zu kleinen Multiplexen aufgerüstet wurden. Parallel sinken in der harten Konkurrenz zu Internet oder Spielkonsolen die Erlöse des DVD-Marktes.

Dass die Filmindustrie ihr Heil vor allem in der Reproduktion alter Erfolgsrezepte sucht und auf Sequels wie „Fluch der Karibik 4“ oder den Mitte Juli anlaufenden letzten Teil der „Harry Potter“-Saga setzt, kann den Filmliebhaber nicht freuen, doch an diesen Blockbustern hängt ein ganzes Geschäftsmodell, das die schwer kalkulierbaren, künstlerisch wertvollen Werke der Soderberghs, Coens oder Eastwoods erst ermöglicht. Ausgerechnet diese Balance zwischen Massen- und Qualitätskino droht zu kippen, seit Hollywood für seine Erlöse auf das Ausland angewiesen ist. Machte der Rest der Welt in den Achtzigern nur ein Drittel der globalen Umsätze aus, sind es inzwischen fast 60 Prozent. Die scheinbare Dominanz verteilt sich jedoch auf weniger Filme. Weil parallel die nationalen Branchen aufholten und zum Beispiel in Deutschland Til Schweiger das Publikum für romantische Komödien im Alleingang abschöpfte, setzt Hollywood verstärkt auf Produkte, mit denen keine ausländische Produktion konkurrieren kann: ultrateure, effektgeladene, mehrheitsfähig polierte Eventfilme.

Vorbei die Zeiten, in denen der Star noch ein Star war, dessen Name genügend Fans mobilisierte. Inzwischen hat der Eventcharakter von Produktionen das leibhaftige Personal als wichtigstes Werbeinstrument abgelöst. Ständig wird das Einreißen von visuellen Barrieren versprochen, und immer mehr digitale Figuren jagen in der dritten Dimension durch immer prächtigere, daheim unmöglich reproduzierbare digitale Explosionen. „In fünf Jahren“, kündete kürzlich gar James Cameron an, „wird jeder vernünftige Kinofilm in 3-D gedreht.“

Ein kühnes Statement, selbst gemessen an den immer übergroßen Visionen des „Avatar“-Champs, hat sich die seligmachende Heilkraft des 3-D-Verfahrens doch längst nicht jedem Cineasten erschlossen. Vielmehr ist ein kreativer Richtungsstreit entbrannt, der Camerons Kollegen allmählich in zwei Lager teilt. „Ich beobachte die Entwicklung“, sagte etwa Michael Mann, „doch noch scheint mir die Technik nicht ausgereift und allein auf spektakuläre Schauwerte reduziert. Müsste ich einen meiner alten Filme in 3-D erneut drehen, wäre das sicher kein Actionfilm wie ‚Heat‘, sondern ‚The Insider‘. Es wäre interessant zu experimentieren, wie sich die Rezeption eines traditionellen Dramas durch Dreidimensionalität verändert.“ Diese Mühe mag sich Sam Mendes gar nicht erst machen, der gerade den nächsten 007-Film plant und Leuten rät, doch besser ins Theater zu gehen, wenn sie raumfüllende Schauspielerei sehen wollen.

Auch Kinofreaks wie Christopher Nolan (dreht „The Dark Knight Rises“), Quentin Tarantino (plant „Django Unchained“) oder David Fincher (fertig mit „The Girl With the Dragon Tattoo“) erweisen sich einstweilen als Traditionalisten und beargwöhnen den Siegeszug der Stereokoskopie. Gewohnt puristisch verlacht Tarantino den „Kirmeseffekt, der wieder verschwinden wird wie bei früheren 3-D-Versuchen“. Repräsentativer für die Gefühlslage der Zweifler scheint die Einschätzung von J. J. Abrams, der sich beim ROLLING STONE-Gespräch vergangenen Mai in London mit der Frage plagte, ob er jetzt „Star Trek 2“ inszenieren oder nur produzieren soll. Einer der Gründe für Kopfschmerzen: Bei einem Genre wie Sci-Fi wird von den Studios quasi vorausgesetzt, dass die hohe Investition durch das 3-D-Siegel aufgewertet wird. Notfalls durch nachträglich bearbeitetes Bildmaterial, ein durch „Alice in Wonderland“ oder „Thor“ standardisiertes Verfahren. Derzeit werden etwa die unkaputtbaren „Titanic“ und „Star Wars“ für ihre 3-D-Wiederaufführungen konvertiert.

„Vielleicht ist es mein individuelles Problem“, sinniert „Super 8“-Macher Abrams, „doch dafür kenne ich dann doch zu viele Leute mit demselben Problem: 3-D irritiert mich bislang eher, als dass es mich in Filme versinken lässt. Mal ist die Leinwand zu dunkel für die Brille, weil der Theaterbesitzer teuer umbauen musste und jetzt Strom spart. Dann gibt es Schärfeprobleme, Schwindel oder Kopfschmerzen. Bestimmt alles Geburtsschwierigkeiten, die mit der Zeit ausgeräumt werden können, doch ich bin nicht sicher, ob sich auch unser Gefühl anpasst. Es ist schwer zu beschreiben, aber schon eine analoge Projektion kann mir ein Gefühl persönlicher Verbundenheit zu Filmen geben, das sich bei digitalen Bildern nur sehr selten einstellt.“

Sentimentaler Quatsch wäre das garantiert aus der Sicht James Camerons, der Tage zuvor einem denkwürdigen Termin in Los Angeles beiwohnte. Ein exklusives Gipfeltreffen mit „Transformers 3“- Regisseur Michael Bay. Fragen der handverlesenen Zuschauer waren nicht erlaubt und das Gespräch wurde schließlich zur öffentlichen Liebeserklärung an die 3-D-Technologie, was aufhorchen lässt, weil sich Michael Bay noch 2009 vehement gegen die Innovation ausgesprochen hat. Schon vorher, erzählt Bay, sei Jeffrey Katzenberg gekommen und habe ihn in einen 3-D-Jünger verwandeln wollen. Katzenberg, muss man wissen, ist als Gründer von DreamWorks (Partner: Steven Spielberg) und Chef der Animationssparte („Shrek“) der mächtigste Lobbyist der dritten Dimension und trommelt seit Jahren für Hollywoods kollektiven Schritt in die bebrillte Zukunft.

Doch es war erst Cameron, dessen „Avatar“-Equipment in „Transformers 3“ wieder im großen Stil zum Einsatz kommt, der Bay dazu brachte, seine Meinung zu ändern. Und so schwärmen beiden von „flüssigen Shot-Designs“ und kleiner werdenden Kameras („That 3-D helmet is so fucking cool!“), verteidigen hohe 3-D-Investitionskosten und lassen sich nur zu gern als Pioniere bestaunen. Vereint in der Begeisterung für ihr „neues Spielzeug“ (Bay) schwärmen Bay und Cameron wie frisch verliebte Teenager von den Herausforderungen eines 3-D-Drehs. Als seien sie angesteckt von einem Fieber, das sie nun bereits Bilder erahnen lässt, die anderen noch verborgen bleiben. Überzeugungstäter halt. Gegen jedes kleinkarierte Argument gewappnet, „denn vergessen Sie nicht“, so Cameron, „dass wir uns entwicklungstechnisch erst dort befinden, wo die Autoindustrie 1905 war“.

Mit einiger Verspätung tritt der 3-D-Boom erst jetzt auch in die Phase ein, in der die Grenzen des Kreativen ernsthaft getestet werden. Der Erfolg von „Avatar“ hatte alle überrascht – es dauerte seine Zeit, bis nach den üblichen Genre-Schnellschüssen („Piranha 3D“) auch Projekte arrivierter Regisseure annonciert wurden. „The Great Gatsby 3D“ von Baz Luhrmann, „Prometheus 3D“ von Ridley Scott, „The Hobbit 3D“ von Peter Jackson oder „The Invention of Hugo Cabret 3D“ von Martin Scorsese – da weiß kein Mensch, ob eine weitere Dimension visuellen Reichtums in Overkill oder Gesamtkunstwerk mündet. Aber wer wollte nicht sehen, wie solche Leute ihre Vorstellungskraft einem neuen Spielfeld öffnen. Wenn „Avatar“ der „Star Wars“ unserer Zeit war, folgt hoffentlich auch ein neuer „2001“. In 3-D.

So oder so sind die Investitionen in 3-D-Filme und -Kinos zu weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr als kleiner Irrtum der Evolution verbucht werden können. Ohne die Berührungsängste von Old-School-Filmfreaks wächst bereits eine Generation von Teenagern heran, die mal ihre ersten Kinoerinnerungen mit 3-D verbinden wird. Für die Brillenverächter läuft im Saal nebenan die günstigere Ikea-Version mit einer Dimension weniger. Ob die neue Technologie auch in Zukunft nur den Schauwert und Eventcharakter des Kinos erhöht oder sich daraus eine neue, der Magie des Mediums gerecht werdende Ästhetik entwickelt, bleibt abzuwarten. Die Bedürfnisse regulieren den Markt. Mitunter gnadenlos, wie unlängst Robert Zemeckis erfahren musste.

Über Jahrzehnte hatte er das Blockbuster-Segment von der „Zurück in die Zukunft“-Trilogie bis zu „Forrest Gump“ so sicher bedient wie sonst nur Steven Spielberg, bis er die sogenannte Motion-Capture-Technologie als Ding der Zukunft entdeckte. Geschlagene zehn Jahre steckte Zemeckis in Filme wie „Der Polarexpress“, in denen er Publikumslieblinge wie Tom Hanks in animierte Versionen ihrer selbst verwandelte, nur mit toten Augen und abgehackter Gestik. Obwohl Zemeckis durchaus seine Hits landete, blieben die Technik ungeliebt und der Beistand prominenter Kollegen aus. Als zu Beginn des Jahres mit „Mars Needs Moms“ ein rarer Motion-Capture-Familienfilm von Disney brutal floppte, zog die Branche die Notbremse. Auch Zemeckis, der gerade Schauspieler für ein ebenfalls mit dieser Technologie inszeniertes Remake von „Yellow Submarine“ besetzt hatte, wurde mitsamt seiner Passion für schräge Trickfiguren vor die Tür gesetzt.

Einigkeit besteht in dieser ziemlich überhitzten, zudem noch krisengeschüttelten Phase des Hollywood-Spiels nur darüber, dass die Positionierung von Filmen als weltweite Events und Franchises nur zunehmen wird. Das Indie-Kino ist derweil schon lange am Boden, doch Optimisten wie Jodie Foster oder Robert Redford prognostizieren wenigstens neue Distributionskanäle. Sehenswerte Low-budget- Debüts künftig eher via iTunes? Da käme man dann aber endgültig um den körperlich spürbaren Genuss einer grandiosen Kinoerfahrung. Wie spürbar, das testet man gerade in Nordamerika. Auf der ewigen Mission, zugleich den Erfahrungshorizont des Besuchers zu erweitern und irgendwo drei Dollar extra zu erheben, kann man seinen Sitz jetzt mit Stromschlägen so einstellen, dass er synchron zur Verfolgungsjagd auf der Leinwand ruckelt. Willkommen im Kino der Zukunft.

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