25 vergessene & verkannte Meisterwerke

Eine weitere Auswahl von Alben, die sträflich übergangen werden, wenn es um die Kanonisierung von Back-Katalogen geht. Alben, die entweder nie von den Radarfallen der Kritikerzunft erfasst wurden oder es allemal verdienen, wiederentdeckt zu werden.

The Louvin Brothers

Tragic Songs Of Life

Capitol 1956

Ira und Charlie Louvin wuchsen in den Jahren der Depression auf, dort, wo die Armut am bittersten war: Sand Mountain im Norden Alabamas war so gottverlassen, dass sich Gottesfurcht schon aus Verzweiflung einstellte. Man sang also Gospel und pries den Herrn dafür, dass es nur besser werden konnte. Außerdem hörten die Louvins leidenschaftlich gern Radio. Es war die große Zeit der Duos in der Country Music, des Harmoniegesangs, der nicht selten aus brüderlichen Kehlen drang. Die Blue Sky Boys, die Monroe Brothers und die Callahan Brothers dominierten die Airwaves, die Louvins lernten. Und entwickelten ihren eigenen Stil, zu Mandoline und Gitarre, der das aufwühlend treibende Moment der Monroes mit der Harmoniegenauigkeit der Delmores verband. Selbst oft vom Leben hart angefasst, erzählten die Brüder herzzerreißende Geschichten über gefühlskalte, rachsüchtige Gestalten und ihre Opfer, sangen Mord- und Suizidballaden oder Tradiertes aus England, etwa vom Vater, der die heimkehrende Tochter verstößt und in den Tod treibt. Oder vom „Knoxville Girl“, das vom psychopathischen Ich-Erzähler gemeuchelt wurde, wofür er nun ewiglich büßt. Keine Liebe, nirgendwo.

Johnny Burnette

Johnny Burnette & The Rock’n’Roll Trio

Coral 1956

Den Revisionismus in der jüngeren Rockabilly-Geschichtsschreibung außen vor gelassen, besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass es eine schärfere, umwerfendere, coolere, energiegeladenere und fulminantere Rock’n’Roll-LP nicht gibt, „Elvis Presley“ eingeschlossen. Die schiere Wucht und ungemeine Verve, mit der das Elektriker-Trio aus Memphis hier zu Werke ging, bleibt unerreicht. Ob es nun Paul Burlison war, der die Burnette-Brüder Johnny und Dorsey mit seiner ingeniös verzerrten Telecaster befeuerte oder, wie neuerdings behauptet wird, das Session-Ass Grady Martin, lässt sich hier nicht erörtern. Wahr ist in jedem Fall, dass „The Train Kept A-Rollin'“, so oft der Song auch gecovert wurde, nie wieder so rasend unaufhaltsam dahinfegte wie auf dieser epochalen, die Röhren zum Glühen bringenden Aufnahme.

Chuck Berry

After School Session

Chess 1957

Chucks Schicksalszug rast nicht, sein „Down Bound Train“ rattert eher und scheppert countryfiziert hinunter in die Hölle, während der Allrounder, in Personalunion immerhin Sänger, Songwriter sowie Lead- und Rhythmus-Gitarrist, auf seiner ersten LP die Weichen auch in diverse andere Richtungen stellt. Sogar nach Kuba, wobei „Havana Moon“ mit seinem Fake-Patois dann doch etwas aus dem Rahmen fällt. Abwechslung hieß die Devise, weil man bei Chess Records so recht noch nichts anzufangen wusste mit dem ominösen LP-Format. Umso erstaunlicher, dass bei aller Uneinheitlichkeit des Materials aus Rock’n’Roll, Blues und rustikalen Instrumentals das Album Persönlichkeit hat, und keine gespaltene. „School Days“ fördert Berrys Teen-Appeal, „Wee Wee Hours“ rumort im Barrelhouse, und die Verachtung, mit der „Too Much Monkey Business“ attackiert wird, erwärmt. Roll over, Beethoven.

Cliff Richard

Me And My Shadows

Columbia 1960

Zwei lange Jahre machte der britische Rock’n’Roll Furore, doch als die neue Dekade heraufdämmerte, schien sein Schicksal besiegelt und seine Metamorphose zu Brit-Pop unumkehrbar. „Wir konnten die Zeit nicht anhalten“, so Cliff Richard, „aber wir wollten als Band ein Album ganz nach unseren Vorstellungen machen, ohne den Druck, Hits zu produzieren.“ Ein Privileg, das gewährt wurde, weil man dem „boy with the Midas touch“ nach all den Millionensellern den Wunsch schlechterdings nicht abschlagen konnte. Mit eigenen Songs ging es also ins Studio, die Sessions verliefen in bester Spiellaune und warfen etliche exzellente Tracks ab. „I Cannot Find A True Love“ überschlägt sich fast, „She’s Gone“ überwältigt mit auratischem Fender-Twang, „Evergreen Tree“ überrascht mit Folk-Harmonika. So luxuriös geriet die Selbstverwirklichung, dass man für die Mono- und Stereo-Versionen auf differente Takes zurückgreifen konnte.

Thelonious Monk

Monk’s Dream

Columbia 1963

In den 40ern seiner Zeit voraus, in den 50ern ganz auf deren Höhe, indes fatalerweise durch eingeschränkte Auftrittsmöglichkeiten und privates Pech wiederholt zurückgeworfen, fand Thelonious Monk erst in den 60ern Erfolg. Der lukrative Deal mit Columbia sorgte für eine gewisse Zufriedenheit beim Künstler, Bahnbrechendes war mithin nicht mehr von ihm zu erwarten, und tatsächlich bieten etwa die Riverside-LPs der Vorjahre oft spannungsreichere Musik, insbesondere natürlich „Brilliant Corners“. Dennoch ist „Monk’s Dream“ wunderbar, des Meisters Bop-Präsenz so listig offbeat wie unverwechselbar, das Quartett spielt schlafwandlerisch und begeistert mit superben Versionen berühmter Monk-Kompositionen wie „Bye-Ya“, nur „Bright Mississippi“ funkelt neu. Kind of bright blue.

Reparata & The Delrons

Whenever A Teenager Cries

World Artists 1965

The Ronettes waren strahlender, aber für sie scheute Phil Spector keinen Aufwand. The Shangri-Las waren hipper, aber die hatten Shadow Morton an den Controls und die gewieftesten Songlieferanten für ihre Seufzer-Dramolette. Reparata & The Delrons aus Brooklyn hatten derlei Ressourcen nicht, ihr Label war eher eine Klitsche, ihr Produzent probte mit bescheidenen Mitteln den „spectacular Phil Spector touch“, wie die Linernotes treuherzig versichern. Doch Reparata, Carol und Sheila hatten Stimme, Stil und Gefühl, und obwohl ihr Girlgroup-Sound seinen Reiz von der Stange bezog, sitzt „That’s How It All Began“ doch wie maßgeschneidert, und der Titelsong berührt nicht nur Teenager. Das musikalische Äquivalent von rosaroter Zuckerwatte. Nicht unkitschig. Coney Island, Baby.

John Lee Hooker

It Serve You Right To Suffer

Impulse! 1966

Folk, Blues und Jazz konvergierten in den frühen Sixties insofern, als sie vom selben Publikum zehrten: weiß, gebildet, liberal. Muddy Waters feierte Triumphe bei Folk-Festivals, Jazz-Clubs waren Treffpunkte für Campus-Kids, die Grenzen verschwammen zusehends. Das Jazz-Label Impulse! eröffnete eine Folk Music Division und verpflichtete dafür John Lee Hooker. Der bedankte sich mit einer Glanztat, die kaum jemand für möglich gehalten hatte. Immerhin galt der Grantler nicht als Teamspieler, sein Timing war unberechenbar, seine Ungeduld gefürchtet. „It don’t take me no three days to do no album“, schnaubte er, doch kam das den von Produzent Bob Thiele aufgebotenen Jazz-Cracks durchaus entgegen. Kurzum, die Arbeit war intensiv, das Resultat überragend, weil Hooker entsprechend prädisponiert war. „Be relaxed“, empfahl er den Musikern, bevor sie „Shake It Baby“ angingen, „just ride it.“ Der resultierende Groove ist unwiderstehlich, wie auch beim enorm tanzbaren „Bottle Up And Go“, dem lasziven Shuffle „Sugar Mama“ oder der sarkastisch fordernden, von einer Posaune (!) geadelten Version des Barrett-Strong-Hits „Money“. Höhepunkt ist indes „Country Boy“, ein Lament aus eigener Feder über Entwurzelung und Verlorensein: „I ain’t got no place to lay my worried head“. Hookers Gitarre pocht hypnotisch, zwei Akkorde sind einer zu viel, immer getreu seinem Credo: „I don’t play no fancy guitar, the kind of guitar I want is mean, mean licks.“ Boom Boom.

Tim Hardin

Tim Hardin 1

Verve Forecast 1966

Seine Songs sind berühmt und wurden unzählige Male gecovert, doch blieb Tim Hardin ein unbesungener Held, weil er sich selbst zu oft im Wege stand. Geboren in Oregon, ein Getriebener, mit 21 im Greenwich Village aufschlagend, machte sich der Troubadour dort wenige Freunde. Dass er brillant war, sprach sich schnell herum. Wie auch anders, wenn einer Songs wie „Don’t Make Promises“, „Reason To Believe“ und „Hang On To A Dream“ im Gepäck hat. Doch Hardin war unangepasst, eckte an. Als sein Songwriting positiv mit dem Dylans verglichen wurde, protestierte er. Tim hasste Bob, hielt ihn für einen diebischen Scharlatan. „Yeah, him and Jesus“, war seine hohntriefende Replik auf die Frage, ob er Dylan persönlich kenne. Verbittert zog er sich zurück, das von „If I Were A Carpenter“ generierte Geld floss in die Venen, Hardin starb als Junkie.

Porter Wagoner

Soul Of A Convict

RCA Victor 1967

Ein dürrer Schlaks mit blondem Pompadour in bunt beperltem Nudie-Anzug: Porter Wagoner gab fürwahr eine seltsame Figur ab, wenn er auf der Bühne der Grand Ole Opry stand und seine noch merkwürdigeren, oft makabren und morbiden Songs performierte. Ein Rhinestone Cowboy mit mehr als nur einer Mission. Selbst arriviert, lagen ihm die Ausgestoßenen am Herzen, ihnen widmete er Songs, ja ganze Alben. Indem er in ihre Rollen schlüpfte, etwa in die eines betrogenen Ehemannes, der zum Doppelmörder mutiert in „The Cold Hard Facts Of Life“. Oder in die von Zuchthausinsassen, die reumütig ihr Leben Revue passieren lassen, während der Galgen immer längere Schatten wirft. „One mistake condemns them to a cell“, singt er in „Boston Jail“, „where every dream’s a forgotten thing and each day’s a living hell.“ Um Schuld und Sühne drehen sich diese „Prison Songs“, darunter so rührselige wie „Green, Green Grass Of Home“, doch nicht immer kann die Schuldfrage abschließend geklärt werden. In „The Snakes Crawl At Night“ führt der Teufel höchstselbst den Finger zum Abzug, da ist der Mensch machtlos.

The Kinks

Muswell Hillbillies

RCA Victor 1971

Muswell Hill ist heute fest in der Hand der betuchten Mittelklasse, worüber Ray Davies traurig den Kopf schüttelt. Als er und Bruder Dave dort aufwuchsen, war der Bezirk in Londons Norden heruntergekommen, wer nicht im Arbeitermilieu heimisch war, gehörte nicht dazu. Weg wollten freilich alle, am liebsten träumte man sich nach Amerika: „She lives in a house that’s near decay, built for the industrial revolution/ But in her dreams she is far away, in Oklahoma, USA“. Sehnsucht nach dem besseren Leben beflügelt diese Songs, Davies treibt Charakterstudien, der Ton ist bitter oder frivol, und die Kinks spielen burlesk transatlantisch, zwischen Cockney Music Hall und Nashville Country, Electric Boogie und New Orleans Funeral March. Ein Album nicht ohne Konzept, indes ohne Prätention. Aufklärung als augenzwinkernde Zivilisationskritik, die weder die Protagonisten schont noch ihre Peiniger in bürokratischen Herrschaftsapparaten, kurz „the people in grey“. Eine weitere beinahe unverkäufliche Kinks-LP leider, obwohl jeder Track hier mehr zu bieten hat als „Lola“. Populismus geht halt immer, und die Zeit für sarkastischen Pubrock war wohl noch nicht gekommen.

Pete Atkin

Driving Through

Mythical America

Philips 1971

Ein Gespann wie kein anderes: Pete Atkin und Clive James stachen heraus, waren Disteln im florierenden Bio-top der Singer-Songwriter-Szene. Das Gefühlige war nicht ihre Sache, romantische Liebe und andere seelische Ausnahmezustände kamen bei ihnen nur als Krankheitsbilder vor. Oder als Zitate. Davon allerdings wimmelt es in den literarischen Texten, die der namhafte Autor James ersann. Den singenden Musiker Atkin aus Cambridge hatte er bei universitären Kulturveranstaltungen kennengelernt, der Wunsch, gemeinsam Songs zu schreiben, reifte in Diskussionen über die Unzulänglichkeiten des vorhandenen Angebots. Eine akademische Übereinkunft, die leicht hätte zu Verspannungen führen können. Doch die Kollaboration der Verstandesmenschen funktionierte, zumindest auf der kreativen Seite. Atkins Musik, melodisch eher spröde, seine kühle Stimme und klare Diktion gingen eine Symbiose ein mit James‘ bezugswütigen Reimen, die jede Anstrengung, sich darin zurechtzufinden, reich belohnten. Songs, in denen Rilke, Apollinaire und Shakespeare wohnen, in denen Charlie Christian und W.C. Fields koexistieren. „Gems of lyrical and musical construction“, lobte ein Kritiker, ein anderer forderte den Nobelpreis. Zahlende Abnehmer fanden sich freilich nur wenige für snobistische Zweizeiler wie „I fixed one chap a show on telly/ He limped like Byron and talked like Shelley.“

Waylon Jennings

Honky Tonk Heroes

RCA 1973

Outlaw Country war noch keine überbeanspruchte, abgenutzte Marke, stand für Ferne von Nashvilles Oligarchie und für Nähe zum musikalischen Erbe des Lone Star State, als Waylon Jennings dieses wegweisende Album aufnahm, in den „Nashville Sound“-Studios seiner Plattenfirma RCA. Subversion und Kameraderie waren zwei Stützpfeiler dieser Sessions, zwei andere waren die Songs von Billy Joe Shaver und eine vielköpfige Musiker-Crew aus Jennings‘ Touring Band, den Waylors, plus befreundeter Cracks wie Steve Young und David Briggs. Der zentrale Pfeiler freilich, die Statik sichernd, war Waylons Stimme. Ein Bariton mit beachtlichem Resonanzkörper, nicht mehr so smooth wie in den Sixties, an den Rändern ein wenig in Mitleidenschaft gezogen, aber noch nicht zum Knödeln neigend wie schon wenige Jahre später. Eine Stimme wie geschaffen für Shavers gelebte Songs über verlebte, illusionslose Vagabunden, über „old five and dimers, loveable losers and no-account boozers“. Tröstlich, dass sich der Autor dieser Songs, dessen eigenen Platten, wiewohl sehr hörenswert, kein vergleichbarer Erfolg vergönnt war, hiermit finanziell gut stellte. Schade indes, dass der Fluch des Geldes eine weitere Zusammenarbeit Waylons mit dem kongenialen Produzenten Tompall Glaser verhinderte. „We Had It All“, die dankbar resümierende Southern-Soul-Ballade von Troy Seals und Donnie Fritts, beschließt gravitätisch walzernd ein großes Album, dem mit „Dreaming My Dreams“ 1975 ein noch größeres folgen sollte, jedoch nicht mehr als Ausdruck des Outlaw-Credos, sondern als dessen Abgesang. Dann der Ausverkauf: Jennings, Nelson, Kristofferson und Cash als Wegelagerer.

Nils Lofgren

Nils Lofgren

A & M 1975

Noch war „Horses“ nicht erschienen, noch ahnte keiner, was Punk-Rock bald anrichten würde, als Lofgrens Solo-Debüt für gehörige Aufregung sorgte. Diesem virtuosen Energiebündel, erst etliche Jahre später zum Salto-Clown und Boss-Gehilfen degradiert, wurde eine blendende Zukunft vorhergesagt. Seine Band Grin hatte er gegen ein anderes potentes Trio eingetauscht, mit Aynsley Dunbar und Wornell Jones, Lofgren rockte hart und melodierte bittersüß, einen überzeugenderen Beleg für die Vitalität des Rock’n’Roll lieferte niemand. Die ihm zugedachte Star-Rolle erwies sich für den Strat-Magier indes als zu große Bürde, er war mehr Fan als Frontmann. „Keith Don’t Go“, seine flehentliche Ode an das Idol, brachte ihn zwar ins Gespräch als potenzieller Nachfolger von Mick Taylor, doch aus dem „Traumjob“ (Lofgren) wurde nichts. „Cry Tough“ – so hieß nicht von ungefähr die folgende LP, immer noch voller Ideen, doch bereits Sound-begradigt und über Gebühr poliert.

Ry Cooder

Chicken Skin Music

Reprise 1976

Nichts gegen kanonisierte Kritiker-Favoriten wie „Into The Purple Valley“ oder „Jazz“, aber ein beglückenderes Album als „Chicken Skin Music“ hat Ry Cooder nie gemacht. Dabei scheinen seine stilistischen Versatzstücke und die mitwirkenden Musiker kaum kompatibel. Das Tex-Mex-Akkordeon von Flaco Jimenez, das hawaiianische Steel-Gefühl von Gabby Pahinui, der Gospel-Soul der Backing-Sänger um Bobby King und Terry Evans: alles addiert sich auf wundersame Weise zu stupenden Klanggefügen und heilsamer Musik. Zum Abschluss bittet Leadbellys „Goodnight Irene“ um einen Two-Step in die schwüle Nacht.

Gay & Terry Woods

The Time Is Right

Polydor 1976

Als Gründungsmitglieder von Steeleye Span schrieben die Ex-Eheleute Woods Folk-Rock-Geschichte, doch danach war ihnen kein Erfolg mehr beschieden. Ein Jammer, denn die vier LPs, die sie als Duo in den Mitt-Siebzigern veröffentlichten, sind durchweg exzellent. „The Time Is Right“ ist lediglich primus inter pares, erfreut wie die anderen drei mit der Verschmelzung dialektischer Gegensätzlichkeiten: traditionelle Strenge und intuitive Songs, britischer Folkpop und irische Weisen, Dulcimers und elektrische Gitarren, Gays weich-wonnige Stimme und Terrys körniger Drawl. Eine Totgeburt verdunkelte auch das musikalische Leben der beiden Abenteurer, die bis heute im Schatten von Richard & Linda Thompson stehen. Deren Liebhaber dürften diese Platte ins Herz schließen, besonders das hingebungsvolle „Back To You“ und das lyrisch desolate, himmlisch gesungene „Empty Rooms“: „All Alone with the pillars/ Concealing the terror.“

Jim Ringer

Tramps & Hawkers

Philo 1977

Früh verließ Jim Ringer das heimatliche Yell County in den Ozark Mountains von Arkansas, ein Entwurzelter, der mit 18 im Knast landete, dann als Hobo in Güterzügen hauste, als Hippie in Berkeley traurige Erfahrungen sammelte und es mit warmem Bariton und beachtlichem Songwriter-Talent als Folkie zu Ansehen brachte. Zu bescheidenem freilich nur, denn diese Welt ist nicht gerecht. Wäre sie es, würde sich diese LP auf unzähligen Plattentellern drehen, und „The Hubbardville Store“, die erschütternde, listig erzählte Geschichte vom Abfackeln eines blutsaugerischen Handelspostens, wäre Legende. 1992 starb Jim Ringer so unbemerkt vom Musikbetrieb wie er diesen bereichert hatte.

The Adverts

Crossing The Red Sea

Anchor 1978

„Come back when you’ve learned to play“ höhnt der Refrain mit solch vehementer Verachtung für die Urheber dieses Satzes, dass „One Chord Wonders“ fraglos gute Chancen hätte bei einer Wahl zum ultimativen Punk-Song. The Adverts, you see, waren Punks mit Leib und Seele, sie attackierten ihre Instrumente nach der Dilettanten-Devise learning by doing, sie hassten Prätention und Pomp, sie liebten es laut, rasant, prägnant. „I always write singles“, so Sänger TV Smith, „I love choruses.“ Und so wirkt dieses Album: wie eine atemlose Abfolge toller Singles. Wobei die Adverts ihren größten Hit, das makabre „Gary Gilmore’s Eyes“, außen vor ließen. Punk-Ethos, you know. Der Gegenentwurf zum zynischen Recycling-Manöver „Never Mind The Bollocks“. Auch mit ihren Mängeln als Musiker gingen die Adverts entwaffnend offensiv um. Die Panda-äugige, auf der Bühne nahezu provozierend unbewegliche Bassistin Gaye und Drummer Laurie Driver hatten nie Berührung mit ihren Instrumenten, bevor sie sich mit Begeisterung der Band anschlossen. So bloody what.

The Raincoats

Odyshape

Rough Trade 1981

Ihre erste LP war eine kratzbürstig-schrammelige, keineswegs hüftsteife Affäre mit vagabundierender Violine und spontan entbundenen Vocals, für diese zweite hatten die Raincoats bereits ein Konzept. An die Stelle von Intimität und Unumwundenheit trat nun eine andere Art Post-Punk: eine avantgardistische, lyrisch verrätselte. Immer noch minimalistisch, ergänzen sich die Töne nun nicht mehr zu stringenten Tunes, vielmehr zu Ton-Collagen, in denen Vicky Aspinalls Fiedel nicht umherirrt, sondern zikadenhaft zirpt oder sirenenhaft warnt, inmitten eines scheinbaren Chaos aus unkeuschen Dub-Flirts und anarchischer Sangeslust. Herrlich verschroben.

June Tabor

Abyssinians

Topic 1983

Martin Simpsons Gitarre, Dave Bristows Keyboards und Ric Sanders‘ Streichin-strumente umschmeicheln Junes strenges Timbre wie jene Kätzchen auf dem Cover, denen die LP ihren Titel verdankt. Allerdings genügen davon die ersten beiden Silben, um den wahren Charakter der Platte zu beschreiben: Abgrund. So bodenständig Tabors frühes Trad-Folk-Repertoire war, so bodenlos scheinen einige der hier zelebrierten Songs. „The Scarecrow“ aus der Feder von Lal und Mike Waterson etwa oder das hoffnungsarme, verzweifelte „She Moves Among Men (The Bar Maid’s Song)“ von Bill Caddick, todtraurig interpretiert, ja untröstlich.

Randy Travis

Storms Of Life

Warner Brothers 1986

Es waren vor allem vier Aufrechte, die Mitte der 80er-Jahre für frischen Wind in Nashville sorgten, stilistisch grundverschieden, aber so traditionsverhaftet wie jung. Dwight Yoakam revitalisierte den Hillbilly-Yodel, Lyle Lovett den Western-Swing, Steve Earle den Country-Rock und Randy Travis den Honky-Tonk. Nie in Reinkultur, aber mit genug Attitüde und Stilwillen, um den Vorbildern, sofern sie noch am Leben waren, mehr als nur beifälliges Nicken abzutrotzen. Randys Idol George Jones zeigte sich äußerst angetan, ärgerte sich aber insgeheim darüber, dass der genialische Song „On The Other Hand“ vom Gespann Overstreet/Schlitz über die Macht der Versuchung nicht ihm, sondern diesem Grünschnabel angedient worden war. Zwölf Wochen lang führte „Hand“ die Country-Charts an, das Album übertraf alle Erwartungen, Randy Travis brillierte als Sänger und etablierte sich als großer Stilist, erreichte das hohe Niveau seiner Debüt-LP danach aber nie wieder. Was die epigonalen Hat-Acts heutzutage nicht daran hindert, ihn als Pionier zu verehren.

The Flaming Stars

Songs From The Barroom Floor

Vinyl Japan 1996

„Dedicated to Dean Martin, Sterling Morrison and Charlie Rich“ steht auf dem Inner Sleeve, daneben: „Recorded entirely using valve equipment at Toe Rag Studios.“ Credits, die mehr als ein Credo beinhalten, erst recht in Zeiten von Britpop und digitaler Gleichschaltung. Doch ließen sich diese verwegenen Londoner auch keiner Gegenkultur zurechnen, keinem Tribe, keiner Szene. Ihre Musik war aufgeladen mit Garage Punk und Rock’n’Roll, mit schlierigem Blues und mitternächtlichem Twang, doch klangen und klingen die Flaming Stars wie niemand sonst. Nach vier Coolness-Nachweisen auf 7inch lieferte die Combo um Front- und Tastenmann Max Décharné eine LP ab, deren Songtitel schon alles verrieten: „Burnt Out Wreck Of A Man“, „Downhill Without Brakes“, „Oncoming Train“, „Bring Me The Rest Of Alfredo Garcia“. Es ist nicht verbürgt, ob Warren Oates den letztgenannten Track je gehört hat, aber man darf wohl davon ausgehen, dass er ihn grinsend goutiert hätte. The Flaming Stars fabrizierten eine Handvoll weiterer toller LPs und ein gutes Dutzend fabelhafter Singles, nahmen diverse Peel-Sessions auf und tourten extensiv, ordneten sich aber nie den PR-Gepflogenheiten des Biz unter. The price you pay.

Edith Frost

Calling Over Time

Drag City 1997

Es ist Ediths Gesang, der ihr bestes Solo-Album zu einem Ereignis macht, beliebig oft wiederholbar und immer wieder fesselnd. Dabei stellt die nach Chicago verzogene Texanerin nicht viel an mit ihrer Stimme, sie moduliert verhalten, beinahe rezitativ und ungeheuer ruhig. Als ob sich all die in ihren Songs versammelte seelische Pein sublimierend bewältigen ließe durch Pulsentschleunigung und stille Entfernung von den Ursachen, durch monotone Diktion, durch schlichte, flimmernde Akkordfolgen aus dem gläsernen Sarg der Realität. Transparenz und Dichte, Distanz und Intimität, bebende Spannung durch beherrschte Leidenschaft.

Black Box Recorder

England Made Me

Chrysalis 1998

Verstörend ist keine Vokabel, die inflationär gebraucht werden sollte, doch hier darf sie herhalten. Die Songs von Luke Haines und John Moore aus dem Mund der schönen Sarah Nixey vor dem Hintergrund deliziöser Folk-Figuren, subtiler Samples und periodischer Ensemble-Erregungen kammermusikalischer Art irritieren wie Vexierspiegel, in denen Wunsch und Wirklichkeit ins Groteske verzerrt werden. Das privilegierte Mädchen in „Ideal Home“ ist voller Abscheu für die verlogenen Eltern, grausame Kinder prüfen die Überlebensfähigkeit von Spinnen, überall Gemeinheiten und Frivolitäten, Angstzustände und Kriegslisten: „Sleeping with the enemy before betraying both sides.“ Es sind morbide Lieder ohne moralischen Imperativ, süße Melodien mit subversiven Botschaften. „Life is unfair“, weiß Sarah und rät mit Silberzunge: „kill yourself or get over it.“ Sexuelles Terrain erkundende Nymphen, überforderte Teens als Mütter, Ausreißer, Kidnapper, verkorkste Kinder: keine Lieder zur ruhigen Nacht.

Goldfrapp

Felt Mountain

Mute 2000

Bevor sich Alison Goldfrapp von der Discokugel hypnotisieren ließ, war sie ein von Neugier getriebenes Wesen, experimentierfreudig und auf der Suche nach musikalischer Eigenständigkeit. Die sie gefunden zu haben schien mit ihrem ersten Album, einem elegant-elegischen Selbstzeugnis breitwandiger Proportionen und kalter Pracht, das sie mit ihrem Partner Will Gregory in monatelanger Abgeschiedenheit kreierte. Alisons Stimme ist synthetisch gefiltert, die Texte sind abstrakt, in den Klanglandschaften gedeihen Stilpflanzen aus unterschiedlichsten Zonen: Pop und Electronica, Folk und TripHop. Wie Soundtracks zu imaginären Spionage-Thrillern oder Sci-Fi-Monster-Movies. Eine einmalig faszinierende Platte, leider.

Grey De Lisle

Homewrecker

Hummin’bird 2003

Bobbie Gentrys Südstaaten-Grandezza klingt zuweilen an, das verführerische Innuendo ihrer rauchigen Stimme, aber auch Tammy Wynettes Country-Twang wie aus einem Trailer-Park in Tennessee, randvoll mit emotionalem Trash und gepflastert mit den besten Vorsätzen. Natürlich wird viel fremdgegangen, etwa mit einer „golden-haired chanteuse“, es wird gelitten und gesehnt bis die Tränen kullern oder Kampfeswille erwacht. Grey De Lisle singt so hinreißend wie sie aussieht, und Produzent Marvin Etzioni gibt ihrer Stimme den nötigen Raum, sich zu entblättern. Ob Rockabilly oder Border-Ballade, ob Tearjerker oder orchestrales Dramarama, Grey trifft den richtigen Ton zu Pedal-Steel und Wah-Wah, ergreifend wie Ronee Blakley in Robert Altmans „Nashville“. Derangierte Walzer, schlüpfrige Boogie-Avancen, schummrige Beichten, „Papa Was A Rolling Stone“-Wah-Wah-Funk: Grey De Lisle will vieles, kann alles. What a gal.

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