Another Side Of Paul McCartney

Wie ein Ex-Beatle und ein angesagter Produzent als The Fireman zu neuer musikalischer Freiheit fanden.

London. St. John’s Wood. Die Sonne scheint im schönsten Postkartenlicht auf die Abbey Road. Buntes Laub liegt auf den Bürgersteigen. Vier skandinavische Beatles-Fans stolzieren über den berühmten Zebrastreifen. Keiner läuft barfuß. Ein paar Meter weiter, vor einer weißen, mit allerlei Filzstiftenkrakeleien verzierten Mauer linsen einige Amerikaner mit ihren Kameras durch die Eingangstür zu den Abbey Road Studios. Am Empfang herrscht geschäftiges Treiben. So an die 30 Journalisten aus aller Herren Länder warten auf Einlass.

Schließlich geht’s durch die Milchglastür, den Gang entlang, linke Hand ins Studio 3. Hier haben Pink Floyd einst „The Piper At The Gates Of Dawn“ aufgenommen und ein paar Jahre später „Shine On You Crazy Diamond“, während Syd Barrett durch den Raum geisterte. Und hier entstand, wie wir später aus erster Hand erfahren, „Why Don’t We Do It In The Road“, die kleine Obszönität vom Weißen Album der Beatles.

Die Musik, die in der folgenden Stunde aus den Studiolautsprechern schallt, bewegt sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen – der floydschen Atmosphärik und dem rauen Rabbatz eines Avantgarde-infizierten Beatle: grummelnder Captain-Beefheart-Blues, akustische Balladen, ein aufgemotzter Gospel, hymnischer Pop, ätherische Ambientklänge. Wir hören „Electric Arguments“, das dritte Album eines gewissen Fireman.

Aufgenommen wurden die insgesamt 14 Stücke allerdings nicht an der Abbey Road, sondern in einer alten Windmühle auf dem Hogg Hill in Icklesham, Sussex. Ein wahres Schätskästlein der Popgeschichte. Hier stehen das Mellotron, das man zu Beginn von „Strawberry Fields Forever“ von den Beatles hört, das Harmonium aus „We Can Work It Out“, der Bass, den Bill Black auf Elvis Presleys „Heartbreak Hotel“ spielte. Und dieses illustre Instrumentarium kommt auch auf „Electric Arguments“ zum Einsatz.

Gerade als die versammelten Journalisten beginnen, zu Wein und Snacks über das Gehörte zu diskutieren, betritt der Hausherr der Hogg Hill Mill das Studio Nummer 3: Sir Paul McCartney. Graues Hahnentritt-Jackett, hellblaues Hemd mit weißem Blumenmuster, Jeans, klobige Sneakers. „Hello everybody“, grüßt er jovial in die Runde. Im Nu ist es mucksmäuschenstill, alle zücken ihre Diktiergeräte und hängen sich an die Lippen des Ankömmlings, als erwarteten sie nun die Bergpredigt —- oder zürn indest „The Fool On The Hill“.

Ursprünglich hatte „Electric Arguments“ ganz ohne Medientamtam veröffentlicht werden sollen. So wie 1993 „Strawberries Oceans Ships Forest“, das erste Album von The Fireman. Als ein Journalist des englischen „Guardian“ dieses Werk jahre später aus der Plattensamm lu ng des Stranglers-Sängers Hugh Cornwell fischte und erstaunt fragte, was das denn sei, erklärte der: „Das ist eine Platte des Produzenten Youth mit Paul McCartney. Youthhat Mc-Cartney zu Hause besucht, war zwei Tage langstoneci, nahm die 24-Spur-Bänder von McCartneys letztem Album mit und remixte sie. Da ist kein Gesang drauf, nur Geräusche. Das war McCartneys Idee.

Hat so um die zehn Exemplare verkauft.“ Etwas ausführlicher geht die Geschichte so: Paul McCartney hatte einen kleinen Dance-Hit mit einer Remix-Version seines Songs „Hope Of Deliverance“ vom 1993er Album „OffThc Ground“. Daraufhin beauftragte er Martin Glover alias Youth – ehemaliger Bassist der Post-Punk-Band Killingjoke, später Teil des Elektronik-Projekts The Orb und Produzent von u.a. The Verve, Primal Scream und den Futureheads-, weitere Stücke des Albums zu remixen. „Die Bedingung war, dass er nur Material verwendet, das wir selbst autgenommen hatten“, erinnerte McCartney sich später. „Denn meist haben Dance-Remixe ja ein Kick-Drum-Sample oder einen James-Brown-Snare-Sound, und am Ende klingt es dann, als sei das die Platte von jemand anderem.“

Youth schlug vor, statt einzelner Stücke das ganze Album zu dekonstruieren, von den Spuren verschiedener Tracks Samples anzufertigen und dann miteinander zu verbinden. McCartney- neuen Techniken gegenüber immer aufgeschlossen—war gleich Feuer und Flamme und begann, zusätzliche Musik für das Projekt aufzunehmen. So wurde aus der Auftragsarbeit schließlich eine Kollaboration. Das Ergebins der gemeinsamen Arbeit gefiel McCartney so gut, dass er sie statt auf 12-inch-Maxis auf einem eigenständigen Album veröffentlichte. Als Hommage an seinen Vater Jim, der Feuerwehrmann war, erschien das Album „Strawberries Oceans Ships Forest“ schließlich unter dem Moniker The Fireman. Nur das alte Parlophone-Label deutete auf den großen Namen hinter dieser Platte.

Vier Jahre später traten sich Youth und McCartney für die Arbeit an einem zweiten Album, „Rushes“, erneut auf dem Hogg Hill. Anlässlich einer Ausstellung des Künstlers Peter Blake,der einst das Plattencover zu „Sgt. Pepper’s Lonely Heurts Club Band“ entwarf, arbeiteten sie 2000 für einen Track erneut zusammen.

Der Austausch mit dem fast 20 Jahre jüngeren Youth schien McCartney beflügelt zu haben, Anfang des neuen Jahrtausends auch seine Solokarriere wieder anzuschieben. Vor allem „Chaos And Creation In The Backyard“ und „Memory Almost Full“ strotzten vor Ambition. Aber so ganz traute McCartney seiner eigenen Experimentierfreude noch nicht über den Weg- die spannendsten Stücke versteckte er auf B-Seiten. Um seinem Spieltrieb weiter nachzugehen, reaktivierte er 2007 dann The Fireman. Das kreative Ziel diesmal: An jedem Tag, den McCartney und Youth im Studio verbrachten, sollte ein neuer Track entstehen.

„Wir fingen morgens mit einem Groove an“, erzählt McCartney, „meist machte Youth einen Vorschlag. Ich spielte dann dazu, worauf ich gerade Lust hatte. Fast immer war es zuerst die E-Gitarre, weil mir das am meisten Spaß macht. Ich habe also ein paar Riffs gespielt. Youth saß im Kontrollraum und hatalles aufgenommen und dann auf dem Rhythmus-Track arrangiert. Dann ging’s weiter: ,Wie wär’s mit ein bisschen Schlagzeug, Paul? ‚Also ging ich zum Schlagzeug. Dann ein paar wilde Tom Toms, ein bisschen Mandoline, was auch immer.“

McCartney ist in seinem Element. Lautmalt jedes Instrument, singt Bassspuren, Beats und Gitarrenriffs, redet mit den Händen, tänzelt. „Die Arbeit am neuen Album unterscheidet sich von der an den anderen Fireman-Platten dadurch, dass Youth irgendwann sagte: ‚Wie wär’s mit ein bisschen Gesang?‘, und ich sagte: „Ich habe keinen Text.‘ – ‚Na, dann denk dir halt was aus.‘ Also habe ich alle möglichen Gedichtbände gewälzt, einzelne Zeilen rausgeschrieben und dann einfach auf den Track geworfen.“

Nicht alle Texte sind allerdings aus solchen Literatur-Samples entstanden. Vor allem die britische Boulevardpresse sah in „Electric Arguments“ eindeutig Maccas Abrechnung mit Mucca (so nennen sie auf der Insel seine Ex-Frau Heather Mills). Der Albumtitel spiele auf die fiesen Beschuldigungen an, die Mills per E-Mail verbreitet habe, hieß es da. Im furiosen Auftakt „Nothing Too Much Just Out Of Sight“ singt McCartney „You said you love me but was it true? The last thing to do was to lie about me silently“, und die Elstern aus der Ballade „Two Magpies“ sind wohl Heather und ihre Schwester Fiona.

Dem kleinen Label One Little Indian, auf dem „Electric Arguments“ nun erscheint, wird der Medienrummel recht sein. Die Identität des Fireman ist nun jeder britischen Hausfrau bekannt. Aber Mills ist natürlich kein Thema an diesem Nachmittag in Abbey Road.

„Ich habe zu den Toningeneu ren gesagt: „Haltet bloß die Klappe. Das könnten die peinlichsten Momente meiner Karriere werden“, lacht McCartney. „Hier war schließlich alles improvisiert, und ich hatte keine Ahnung, was am Ende dabei herauskommt. Ob überhaupt was draus wird. Aber ich nehme an, dass ich, weil ich schon so viele Stücke in meinem Leben geschrieben habe, auch bei der Improvisation ein Gespür dafür habe, was funktionieren könnte. Youth hat das als Produzent auch. Er hat einfach ausgesucht, was ihm gefällt, und ich vertraue ihm.“

McCartney scheint in Youth tatsächlich den musikalischen Partner gefunden zu haben, den er nach dem Ende der Beatles immer vergeblich gesucht hatte. „Ich weiß nicht, ob ich auf einen Kollaborateur angewiesen bin“, meint er. „Ich habe ja auch Platten im Alleingang gemacht. Aber nach einer Weile fühlt man sich wie ein entrückter Professor allein in seinem Labor. Ich erinnere mich an einen Track, den ich fürs ‚McCartney II‘-Album aufnahm, der war zehn Minuten lang („Secret Friend“, Maxi-B-Seite von „Temporary Seeretary“). Anstatt clever genug zu sein, die Maracas nu r für eine Strophe zu verwenden, habe ich sie den ganzen Track lang gespielt: chck-chck-chck. Irgendwann hatte ich einen Muskelkater im Arm. Und dann musste ich noch zehn Minuten Bass aufnehmen – was für eine Folter! Da dachte ich mir, es wäre nett, wenn ich dabei wenigstens nicht ganz alleine wäre.“ Wie auf ein Stichwort, klingelt genau in dieser Sekunde McCartney Mobiltelefon. „Hello? Hi babe…“am anderen Ende vermutlich McCartneys neue Freundin, die US-Millionärin Nancy Shevell.

So ganz kann man den Boulevard nicht raushalten aus diesem Text. Dabei hat „Electric Arguments“ das gar nicht nötig, erinnert es doch in seiner freien Form an die herrlich eigenwilligen Alben, die Mc-Cartney direkt nach den Beatles aufnahm. Ja, vielleicht muss man sogar noch weiter zurückgehen, um die Tradition hinter „Electric Arguments“ aufzudecken. In die mittleren Sechziger, als er in die Londoner Avantgarde eintauchte und seine Bandkollegen zu Experimenten wie „Tomorrow Never Knows“ und der bis heute unveröffentlichten psychedelischen Soundcollage „Carnival Of Light“ trieb. Ein Album mit dem Titel „Paul McCartney Goes Too Far“ hatte er damals auch geplant. Doch schließlich waren es George Harrison undjohn Lennon, die sich auf ihren frühen Soloveröffentlichungen betont avantgardistisch gaben.

Als McCartney schließlich begann, Alben im Alleingang zu produzieren, wählte er einen anderen Weg. Auf den ersten Blick waren sein LoFi-Debüt „McCartney“, das genialisch eklektische „Ram“ und das raue, spontane „Wings Wild Life“ traditionelle Songsammlungen. Der Mut und die künstlerischen Freiheiten, die McCartney sich hier erlaubte, wurden damals von der wenig wohlwollenden Kritik nicht gewürdigt. „Speziell auf die ersten beiden Alben bekomme ich mittlerweile sehr viel positives Feedback“, meint McCartney. „Vermutlich ist es tatsächlich diese Freiheit, die den Leuten gefällt. Und die Platten haben einen interessanten Sound. Niemand sonst hat damals sowas gemacht.“

Mitte der Siebziger zügelte McCartney aber seine musikalische Abenteuerlust und steuerte die Wings in den Mainstream. Hatte ihn die Kritik an seinen ersten Alben seinerzeit so stark getroffen? Er schüttelt den Kopf. „Ich wollte einfach wieder Ernst machen mit der Musik“, sagt er. Mein verzweifeltes „Aber warum denn bloß?“, kontert er mit gespielter Empörung: „Das ist mein Recht. Mein Recht als Frau.“ Dann – doch etwas angefressen: „Ich hatte einfach Lust dazu. Ich tue, was ich will.“

Wenn man von der ursprünglich nur für den Hausgebrauch bestimmten New-Wave-Synthie-Pop-Pionier tat „McCartney 11“ von 1980 absieht, ließ McCartney seinen Spieltrieb später nur noch selten von der Leine. Und wenn, dann unter Pseudonym. Percy Thrillington, Twin Freaks, The Fireman… Er scheint selbst eine Hochachtung vor der Marke „Paul McCartney“ zu haben, die es ihm nicht mehr erlaubt, sich unter eigenem Namen künstlerisch frei zu bewegen. „Da ist was dran“, nickt er. „Man muss seinem eigenen Image gerecht werden. Für den Fireman gilt das nicht, da bin ich in disguise. Wenn ich normalerweise ins Studio gehe und ein neues Album aufnehme, muss alles optimal sitzen, alles sauber gespielt sein. Wenn ich aber eine Fireman-Platte mache, mache ich einfach, worauf ich Lust habe. Wenn’s mal nicht klappt, landet’s halt im Mülleimer. Und wenn man so frei ist, stellt man fest, dass man viel mehr kann, als man eigentlich für möglich gehalten hätte. Einfach, weil da keine psychische Grenze ist.“

Am Ende von „Electric Arguments“ flüstert uns eine rückwärts abgespielte Stimme noch eine geheime Botschaft. Etwa „Paul is dead“?

Solange der Fireman noch lebt, kann uns das eigentlich egal sein.

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