BESTE IHRER KLASSE

DIE GEFAHR, DIE AUS DER SCHÖNHEIT rührt, und das Erhabene, das aus dem Alltäglichen entsteht -das ist es wohl, worum es Julia Holter geht, dieser famosen digitalen Songschreiberin, der besten ihrer Generation. „Loud City Song“ heißt ihr neues, nunmehr drittes Album. Es handelt von den Geräuschen, aber auch von der Stille der Stadt. Es folgt einem Mädchen mit engelsgleichem Gesicht durch leere Straßen und in überfüllte Cafés voll aufgeregten Geplappers; wir sehen mit seinen Augen auf die fremde Welt draußen und kriechen zugleich tief in seine Wunschwelten hinein; mit flatternden Vögeln fliegen wir in seinem Kopf hoch über die Dächer und fliehen vor dem Trubel und dem Geschwätz in die Wildnis, wo nur die Bäume rauschen. Am Ende kehrt die Natur zurück in die Stadt, in den Gassen erhebt sich ein wilder Sturm und reißt den Menschen die Hüte vom Kopf! Wir hören Vogelgezwitscher und Pflanzengeräusche, rauschende Wellen und schreiende Möwen, schwebendes Synthesizerschnarren und sachtes Getut und Geschepper wie von einem gerade verlöschenden Bar-Lounge-Orchester; aber auch verzweifelt-verplüschte, besinnungslos drängende Trompeten-und Saxofonsoli wie von einer momentan sehr deprimierten Softrock-Kapelle. Und dann hören wir die Stimme von Julia Holter, staunend hauchend und mit kindlicher Kühle die Selbstwidersprüche der Welt kommentierend: Aus dem abstrakten Klanggeknirsch und Gemulm lässt sie die schönsten Popmelodien erblühen, die man sich vorstellen kann.

Die Inspiration für dieses Album, sagt Holter, sei aus „Gigi“ gekommen, einem Roman von Colette aus den 40er-Jahren über ein Pariser Mädchen, das zur Kurtisane erzogen werden soll. In Vincente Minellis Musical-Verfilmung aus dem Jahr 1958 gibt es eine Szene, in der Gigi erstmals die mondäne Maxim’s Bar betritt und die Gespräche darin sogleich verstummen -aus Staunen über die reine Schönheit des Mädchens. Umso lauter werde Gigi indes von den begehrlichen Blicken der Männer angebrüllt, erklärt Julia Holter. Es sei, als erstehe der Klatsch und das Plappern im stillen Voyeurismus umso lauter und dröhnender wieder auf.

Julia Holter ist eine sehr stille Frau, die einen beim Reden kaum anblicken mag, sie selber nennt sich schüchtern und introvertiert. Wenn sie über ihre Musik redet, wirkt sie wie eine Tonsetzerin aus einem Kloster, die sich mit ihren ganz aus dem Geist kommenden Klängen nur allmählich und langsam – Schritt für Schritt, ganz vorsichtig und voller Misstrauen – in die weite Welt hinauszubewegen vermag.

Eigentlich wollte sie nie singen, sagt sie, und auch nie auf einer Konzertbühne stehen. „Ich habe mich immer als Komponistin betrachtet, als jemand, der Musik schreibt, die von anderen Leuten aufgeführt wird und selber dabei im Hintergrund bleibt.“ Schon in der Kindheit habe sie mit dem Klavierspiel begonnen und an der Highschool dann Musiktheorie und Kompositionsklassen belegt. Ihre Stimme habe sie aber erst am Ende ihrer Collegezeit entdeckt, als sie mit Home Recording zu experimentieren begann: eine ideale Grundlage dafür, sich „ohne Angst“ den Möglichkeiten des eigenen Gesangs zu nähern. „In Los Angeles, wo ich damals am California Arts Institute studierte, wimmelte es nur so vor Leuten, die sich mit Self Recording befassten, das war eine sehr wichtige Inspiration für mich.“

Das Cal Arts wirkte in den vergangenen Jahren ja wie eine Brutstätte für postmoderne DIY-Pop-Alleinunterhalter. Zu Holters Kommilitonen gehörte etwa John Maus, der zu käsigen „Miami Vice“-Synthieklängen poststrukturalistische Theoreme besingt. Oder Ariel Pink, der sich zu Hall-and-Oates-artigem Softrock mit der Krise der Männlichkeit in der postmodernen Kultur befasst („Menopause Man“). Doch wo Maus und Pink einen vollständig ironischen Umgang mit Theorie und Musik pflegen, wird man bei Holter keinerlei Gebrochenheit finden oder künstlerische Distanz zu sich selbst. Im Gegenteil: Aus ihrem Gesang, ihren Texten, dem Umgang mit den literarischen Vorlagen ihrer Musik spricht ein unbedingter Wille zum Ernst und zur Erhabenheit; wenn man will, kann man auch Spiritualität dazu sagen. Zusammengearbeitet habe sie mit ihren Klassenkameraden ohnehin nie: „Nein, das waren alles Individualisten, Soziophobe, die schlecht mit anderen Musikern auskommen können oder mit Menschen generell. So wie ich! Ich selbst hatte auch eine sehr introvertierte Phase, ich saß meistens allein zu Hause und las alte Bücher oder nahm Musik auf. So ist dann auch meine erste Platte, ,Tragedy‘, entstanden.“

Auf „Tragedy“, 2011 auf dem Leaving Label erschienen, vertonte Holter mit vielfach gefiltertem und manipuliertem Gesang, mit Field Recordings, Industrialgedengel und vollständig allein eingesungenen gregorianischen Chören die antike Tragödie „Der bekränzte Hippolytos“, die der athenische Dichter Euripides im Jahr 428 vor Christus verfasste. Retro-Musik! Aber so retro, dass sie schon wieder post-retro ist. In dem Stück wird der titelgebende Protagonist von der eifersüchtigen Liebesgöttin Aphrodite nach sämtlichen Regeln der Kunst ruiniert, weil er mit der Jagdgöttin Artemis geflirtet hat. Wie kam sie auf dieses Thema? Warum ausgerechnet ein antikes Drama?“Das lag vielleicht daran, dass wir uns am College und an der Universität immer nur mit dem Allerneusten, mit zeitgenössischer Kunst befasst haben. Als Gegenreaktion begann ich mich erst für mittelalterliche Kunst zu interessieren und dann für die griechische Antike.“

Etwa die Hälfte der Texte habe sie direkt aus der Euripides-Vorlage übernommen und dann mit eigenen Lyrics ergänzt; darunter legte sie sparsame Keyboard-Motive und viele Field Recordings und Drones. „Das Interesse an Field Recordings“, sagt sie ,“kam über meinen Lehrer Michael Pisaro, einen Komponisten in der Tradition von John Cage. Ich war fasziniert davon, wie man durch zufällig aufgenommene Sounds den eigenen kreativen Prozess vorstrukturieren kann. Ich bin damals viel mit meinem Mini-Disc-Player in der Gegend herumgelaufen und habe aufgenommen, was mir vors Mikro kam.“ In dem Stück „So Lilies“ hört man etwa das Geräusch eines Zuges, der in einen hallenden Tunnel-Bahnhof einfährt; anderswo wird an einem Kurzwellenempfänger gedreht; auch ein Raum voller diffus murmelnder Menschen ist zu hören.

Ihre Stimme ließ Holter dazu wie einen Roboter schnarren oder wie ein melancholisches Elektronengehirn aus einem alten Science-Fiction-Film säuseln. Ist es eigentlich ein Zufall, dass so viele junge Künstlerinnen zurzeit -von Grimes über Channey Leanagh von Poliça bis zu Avantgardistinnen wie Holly Herndon -ihre Stimme elektronisch manipulieren? „Ich glaube nicht, dass man daraus einen Trend konstruieren kann. Ich glaube, das liegt vor allem an diesem magischen kleinen Ding namens Microkorg, das jetzt alle benutzen. Es ist erschwinglich und leicht zu bedienen, und man kann damit wirklich coole Sounds erzeugen.“

Ein Jahr nach „Tragedy“, im Frühling 2012, erschien ihr zweites Album, „Ekstasis“. Auch dieses produzierte Holter noch komplett allein: mit künstlich erzeugten Spinettund Harmoniumklängen; mit einem Rhythmus aus wiederum vocoderverfremdeten Schnipseln ihrer eigenen Stimme und dunkelbunt darüber erblühenden Chören aus immer nur von ihr gesungenen Melodien – mal gefiltert, mal verfremdet, mal schneller, mal langsamer abgespielt. „Mein Freund Cole M. Greiff-Neill hat es abgemischt, aber das war die einzige andere Person, die beteiligt war“, sagt sie. „Der Unterschied zu dem ersten Album lag vor allem darin, dass ich viel effizienter war und mir die Sache auch mehr Spaß gemacht hat; ich hab weniger herumgedaddelt, weil eben noch jemand anders daran beteiligt hat, darum war mehr Druck dahinter.,Tragedy‘ habe ich noch allein abgemischt: in Audacity, einer Open-Source-Software, so ähnlich wie Logic, nur eben kostenlos und nicht so gut strukturiert – da stand ich damals kurz vor einem Nervenzusammenbruch, weil ich einfach nicht zum Abschluss kam. Irgendwann dachte ich:,Das ist krank, ich brauche jetzt dringende Hilfe!'“

Der Erfolg von „Tragedy“ habe ihr dann ermöglicht, mit einer Band aus Live-Musikern auf Tour zu gehen. „Ich wollte das schon lange, aber ich war einfach zu schüchtern, um eine Band zusammenzubekommen, darum hat es so lange gedauert.“ Den schönsten Moment habe sie dann erlebt, als sie die neuen Stücke für andere Musiker und für „echte“ Instrumente einrichtete: „Ich schrieb die Arrangements für das Schlagzeug, die Trompeten und die Posaune, und dann haben wir fünf Tage lang mit den Tourmusikern die Stücke eingeübt, das war wirklich eine großartige Erfahrung.“

„Loud City Song“ ist nun das erste Album, das Holter von vornherein mit einer Gruppe von Musikern eingespielt hat. Es gibt Saxofon und Trompete zu hören, einen bundlosen Bass, ein Cello und eine Geige; produziert hat wiederum Cole M. Greiff-Neill, ein ehemaliges Bandmitglied von Ariel Pink’s Haunted Graffiti – und der Lebensgefährte der geistesverwandten Vocoder-Folk-Sängerin Ramona Gonzalez alias Nite Jewel, die auf der Platte auch als Background-Sängerin zu hören ist. „Ich mag die Arbeit mit anderen Musikern“, sagt Julia Holter heute. „Ich war in meiner Kunst schon immer sehr kontrolliert, aber es gibt dann doch diese Momente, wo ich jemanden brauche, der mir hilft; der mir zum Beispiel sagt:,Deine Stimme muss anders ausgepegelt werden, du brauchst da mehr Höhen, mehr Hall ‚ Darum ist es so gut, in einem Studio zu arbeiten, mit analogem Equipment, und alles direkt auf Tape aufzunehmen.“

„Loud City Song“ ist nun die Quintessenz aus ihrer bisherigen Arbeit – ein Pop-Album, das experimentelle Techniken der Klangerzeugung mit unmittelbar eingängigen Melodien verbindet. Und das eine Geschichte erzählt, ohne sich zugleich ins Korsett einer konzeptuell vorgegebenen Struktur zu fügen. „Ich wollte eigentlich gar kein weiteres ,Konzeptalbum‘ aufnehmen. Ich hatte am Anfang nur den Song ,Maxim‘ im Kopf, der davon handelt, wie Gigi erstmals dieses Café betritt. Ich hatte mich total in diese Szene verliebt, aber als der Song fertig war, hatte ich das Gefühl, dass er ohne den Kontext, ohne die gesamte Geschichte nicht funktioniert. Darum habe ich dann einen Song nach dem anderen darum gestrickt. Und am Ende der Platte ja auch noch eine Reprise auf ,Maxim‘ komponiert.“

Die Songs erzählen aber keine lineare Geschichte, sagt Holter; man brauche sie -anders als auf „Tragedy“ – nicht in einer bestimmten Reihenfolge zu hören. Anders wiederum als auf „Ekstasis“, seien sie aber wieder durch ein leitendes Thema verbunden. „Das Thema ist Desillusionierung, Enttäuschung von der Gesellschaft. Gigi ist desillusioniert und enttäuscht, und die Songs handeln davon, wie man damit umgehen soll. Soll man weglaufen? Soll man die Stadt verlassen und sich in der Wildnis verstecken? Soll man zurückkehren und den Kampf mit der Gesellschaft aufnehmen, die einen so schlecht behandelt hat? Am Ende male ich dann ja ein apokalyptisches Bild, ein Sturm zieht auf und verwüstet die Stadt, und alles versinkt wieder im Naturzustand.“

Dies ist vielleicht der erstaunlichste Effekt, den Julia Holter mit ihrer Musik erzielt. Mit den synthetischsten Klängen, die man sich vorstellen kann, erzeugt sie eine Musik der größten Natur-Huldigung. Vielleicht könnte man darum auch Folkmusik dazu sagen. Aber die Natur, die Julia Holter beschwört, ist stets eine Natur zweiter Ordnung: eine Natur, die keinen ursprünglichen Zustand der Welt mehr darstellt, sondern nur als Fantasie kulturell überforderter Menschen zu verstehen ist und als Sehnsuchtsort, den man sich mit modernsten technischen Mitteln errichtet. Oder anders gesagt: Wenn es überhaupt eine Folkmusik gibt, deren Technik und Schönheit ganz auf der Höhe unserer Folkmusik-fremden Gegenwart ist, dann ist es die Folkmusik von Julia Holter.

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