Big (Music) Brother

RGENDWO IN DER 4.000- Seelen-Gemeinde Niederdorfelden haben die englischen Britpopper Suede ihre größten Fans -ein kleiner Club vielleicht, eine verschworene Suede-Gemeinschaft, die nächtelang „Bloodsports“ streamt. Und zwar so oft, dass sie damit in absoluten Zahlen die benachbarten Frankfurter Suede-Fans abhängen, obwohl in Frankfurt rund 170-mal so viele Menschen leben wie in Niederdorfelden.

Die Daten, die der Musik-Streaming-Dienst Spotify dem ROLLING STONE zur Verfügung gestellt hat, verraten einiges über unser Hörverhalten: In Wuppertal stehen laut Spotify überdurchschnittlich viele Menschen mit Daft Punk auf. Der Hit „Get Lucky“ wird dort zwischen 6.30 und 8.30 Uhr deutschlandweit am meisten gestreamt. In Aachen hingegen wird nachts zwischen 0 und 4 Uhr morgens verdächtig oft „Sympathy For The Devil“ gespielt. Wir hatten Spotify die Namen von verschiedenen Künstlern und Bands genannt – der Streaming-Dienst hat die Einwohnerzahl der Orte zu den Streaming-Abrufen ins Verhältnis gesetzt und so ausgerechnet, wo welche Musik am häufigsten gehört wird (siehe Karte).

Einige der Spotify-Daten deuten aber auch auf Ereignisse außerhalb der Musik-Welt hin: Das Ende des US-Serien-Hits „Breaking Bad“ wurde mit dem Song „Baby Blue“ von Badfinger unterlegt. In den nächsten elf Stunden stiegen die Streaming-Zahlen des 1971er-Tracks weltweit um 9.000 Prozent.

Noch experimentiert das junge Unternehmen eher damit, anonymisierte Streaming-Daten und nachrichtliche Ereignisse in Verbindung zu bringen. Grundsätzlich ist mit Big Data aber alles möglich: Im kalifornischen Santa Cruz macht ein Computer den Streifenpolizisten seit zwei Jahren Vorschläge, wo demnächst wieder ein Verbrechen begangen werden könnte. Dafür wertet ein Algorithmus Daten aus Kriminalstatistiken aus. Die Prognosen sind so gut, dass Polizisten auf dem entsprechenden Parkplatz warten können, bis jemand versucht, ein Auto aufzubrechen.

Das Hörverhalten von 25 Millionen aktiven Nutzern speist mittlerweile die Spotify-Datenbank, Tendenz steigend. In Schweden, dem Herkunftsland des Dienstleisters, ist Spotify bereits die größte Schnittstelle zwischen der Musikindustrie und den Hörern.

Bisher lassen sich nur bestimmte Events mit bestimmter Musik in Verbindung bringen. Wenn das Streaming-Echo stark genug ist, kann man diese Ereignisse aber live verfolgen: das Hörverhalten beim Depeche-Mode-Konzert im Münchner Olympiastadion beispielsweise. Am Tag vor dem Gig lagen die Streaming-Zahlen bei 221 Prozent, am Konzerttag selbst bei 446 Prozent und am Tag darauf bei 349 Prozent des durchschnittlichen Depeche-Mode-Niveaus.

Weil Musik aber emotional ist, spiegelt sie alles, was Menschen bewegt: In der Zeit nach den fürchterlichen Attentaten in Oslo und auf der Insel Utøya wurde der Song „Some Die Young“ der schwedischen Sängerin Laleh oft als Hintergrundmusik bei der Berichterstattung verwendet. Obwohl schon im Januar veröffentlicht, hielt der Track sich im April und Mai sieben Wochen auf Platz 1 der norwegischen Charts. In Lalehs Heimat erreichte „Some Die Young“ nur Platz 9.

Spotify kann die Stimmung von Millionen Nutzern erforschen: Was bedeutet es, dass die Liebeskummer-Ballade „Back To Black“ von weiblichen Hörern meist am späten Nachmittag gestreamt wird, Britney Spears sexuell aufgeladener Hit „I’m A Slave For You“ jedoch den Hör-Höhepunkt erst um 21 Uhr erreicht? Noch analysiert Spotify die Daten rückblickend – theoretisch lassen sich aber auch Prognosen aus den Musik-Protokollen erstellen: Was haben die wütenden Kids 2011 vor den Unruhen in London gehört? Worauf muss man sich gefasst machen, wenn „Macht kaputt was euch kaputt macht“ am Berliner 1. Mai ein Comeback feiert?

Es wäre aber auch schon spannend, herauszufinden, warum Suede gerade in Niederdorfelden so unglaublich beliebt ist.

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