History

Bruce Springsteens DDR-Konzert in Weißensee: Born In The GDR

Am 19. Juli 1988 absolvierte Bruce Springsteen das größte Konzert seiner Karriere – und das größte, das je in der DDR stattfand. Vor 160.000 Zuschauern trat der Boss auf der Radrennbahn Weißensee auf. Erinnerungen des Konzertgängers und Autoren Erik Kirschbaum.

Schon am Vormittag, sieben Stunden vor der Show, hatten sich die Zuschauer auf den Weg gemacht. In Weißensee, einem Wohnbezirk im Norden von Ost-Berlin, sollte am 19. Juli 1988 das größte Popkonzert stattfinden, das die DDR je erlebt hatte. Es war ein schwülwarmer Tag mit Temperaturen um die 30 Grad, und Zehntausende harrten schon ungeduldig am Eingang aus, als um 14 Uhr 10 endlich die Tore geöffnet wurden. Die Stasi mischte sich natürlich auch unters Volk und gab später zu Protokoll, dass um 16 Uhr – drei Stunden vor Konzertbeginn -bereits 50.000 Zuschauer anwesend waren.

Das Gelände war Teil eines großzügigen Parks, der von 1878 bis 1912 auch die Berliner Trabrennbahn beherbergt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Anlage in eine Radrennbahn umfunktioniert: Der Pferderennsport – wie auch die Sport-Wetten -galt in der DDR als elitär und war verpönt. Doch zumindest die „Rennbahnstraße“ vor dem Gelände sollte im Lauf des vergangenen Jahrhunderts ihren Namen behalten: Weder der alte Kaiser noch die junge Republik, weder Nazis noch Kommunisten wagten es, an dieser Tradition zu rütteln.

Der Austragungsort war eigentlich nichts anderes als ein planes Gelände ohne vernünftige Infrastruktur. Es gab nur einen großen Video-Screen, der 70 Meter vor der Bühne installiert worden war, damit die Zuschauer am hinteren Ende des Platzes zumindest noch eine vage Vorstellung hatten, was vorne auf der Bühne passierte. Zwei kleinere Screens waren zusätzlich an der Seite der Bühne angebracht. Es war vergleichsweise krudes Equipment, da es zur Zeit des Kalten Krieges ein Ding der Unmöglichkeit war, moderne Technologie auf die andere Seite der Mauer zu schaffen. Die örtlichen Veranstalter hatten also improvisieren müssen – und dabei bemerkenswertes Talent bewiesen: Die Bühne beispielsweise war mit Hilfe von Metallelementen errichtet worden, die eigentlich zum Bau einer Stahlbrücke in einer anderen Stadt eingeplant waren. Vor die Aufgabe gestellt, die Sound-und Video-Systeme zu synchronisieren, waren aber auch sie überfordert. Zu Anfang des Konzerts liefen Bild und Ton leicht zeitversetzt – ein Zustand, der bei Springsteen nicht gerade für Begeisterung sorgte. Das Publikum störte sich nicht daran -die Leute waren gekommen, um Springsteen zu erleben. Und sie ließen sich dabei von organisatorischen Mängeln nicht beirren.

Springsteen sorgte auch für den größten Verkehrsstau, den die DDR je erlebt hat

Als der Auftritt näher rückte, wurde die Menge immer größer. Die Stasi konstatierte in ihrem Report: „Um 18 Uhr kommen immer noch weitere Zuschauer auf das Gelände. Der Einlass zum Rockkonzert verläuft bis auf kleine Stauungen planmäßig und ohne Vorkommnisse. Nach bisherigen Einschätzungen halten sich circa 70.000 Besucher auf.“ Zehntausende von Ostdeutschen waren aus dem ganzen Land angereist -aus Leipzig, Dresden, Magdeburg, Cottbus, Karl-Marx-Stadt, Neubrandenburg, Potsdam, Halle, Erfurt, Jena, Suhl, Rostock und Schwerin. Sie kamen in Kolonnen sprotzender Trabis oder in überfüllten Eisenbahnabteilen. Viele hatten an diesem Dienstag die Schule geschwänzt, um Springsteen erleben zu können. Es war, wie eine ostdeutsche Zeitung schrieb, nicht nur das größte Konzert der DDR-Geschichte, sondern auch der größte Verkehrsstau, den das Land je erlebt hatte.

X Corp. Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus X Corp.
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Die Straßen in und um Weißensee waren so hoffnungslos verstopft, dass sogar der Fahrer von Springsteens Limousine Probleme hatte, eine Straßensperre zu passieren. Im Schritttempo quälte sich der Aushilfs-Chauffeur Georg Kerwinski durch die engen Straßen von Weißensee, als ihn Polizisten anhielten und befahlen, umzudrehen und zurückzufahren. „Ich versuchte, dem Polizisten klarzumachen, dass ich nicht umkehren konnte, weil ich nun mal Bruce Springsteen im Auto hatte“, erinnert sich Kerwinski, „und dass er zur Bühne musste, weil die ganzen Leute nur wegen ihm gekommen waren. Worauf der Polizist sagte, ihm sei es völlig schnurz, wer da im Wagen sitze.“ Aber selbst wenn er es gewollt hätte: Der Wagen war inzwischen so eingeklemmt, dass Kerwinski nicht wenden konnte. Glücklicherweise wurde die Straßensperre wenig später geöffnet -und Springsteens Limousine konnte passieren.

Es zeigte sich früh, dass mehr Zuschauer kamen als Tickets gedruckt worden waren. 160.000 Konzertkarten standen laut offizieller Angaben zur Verfügung, von denen die ersten 60.000 an die veranstaltende FDJ gingen. 20.000 weitere wurden an verschiedene „Sicherheitsorgane“ verteilt, 20.000 waren für die Abendkasse reserviert „und 20.000 wurden gebunkert, falls die Nachfrage der Jugendlichen die Erwartungen übersteigen sollte“ – wie die FDJ in ihrem Abschlussbericht schrieb. Die Absicht war gut, doch die Menge sollte beileibe nicht reichen. Die regulären Tickets (für 20 Ost-Mark) waren umgehend vergriffen -wovon sich die angereisten Konzertgänger aber nicht abschrecken ließen. Die Karten waren auf einfachem Papier gedruckt und ließen sich problemlos kopieren -obwohl Fotokopierer in der DDR rar waren und ihr Einsatz staatlich überwacht wurde. Dennoch waren offensichtlich Tausende gefälschter Tickets in Umlauf. Doch selbst die Besucher, die nicht einmal eine Fälschung in der Hand hatten, strömten weiter nach Ost-Berlin -in der vagen Hoffnung, irgendwie doch noch aufs Gelände kommen zu können.

Eine von ihnen war Ria Koch, damals eine 22-jährige Medizinstudentin und heute Anästhesie-Ärztin, die mit einem Freund aus dem zwei Stunden entfernten Pasewalk angereist war. „Als ich hörte, dass Springsteen nach Ost-Berlin kommen würde, musste ich dabei sein“, erzählt sie. „Als wir ankamen, sahen wir eine Schlange und stellten uns einfach an. Wir hatten nun mal Erfahrung mit langen Schlangen. Für eine kleine Ewigkeit schien nichts zu passieren, aber dann bewegte sich die Menge. Und plötzlich wurde daraus eine wilde Herde, die immer schneller nach vorne lief. Wir kamen an einem provisorischen Karten-Büdchen vorbei, das einfach niedergetrampelt worden war. Es gab zwar noch einen zweiten Kontrollpunkt, aber dort wollte niemand mehr Tickets sehen -es ging nur noch um den Inhalt unserer Taschen. Es war wie ein Wunder, dass wir ohne Tickets plötzlich auf dem Gelände standen. Die Dynamik der Menschenmenge war unbeschreiblich – und kam wie aus heiterem Himmel. Viele von uns hatten eine lange Anreise hinter sich und waren wild entschlossen, sich von niemandem mehr aufhalten zu lassen.“

„Bei den Ostdeutschen brachen alle Dämme“

Nicht wenige dachten, dass es möglicherweise ihre einzige Chance war, jemanden wie Springsteen live erleben zu können. Wer wusste schon, wie lange der „Wind of Change“ noch wehen würde? Wer konnte sicher sein, dass Gorbatschow nicht von Kreml-Hardlinern gestürzt würde -und dass die zarten Demokratisierungsversuche ebenso radikal niedergewalzt würden wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei?

Einer der 74 ausländischen Journalisten, die in Weißensee eine Akkreditierung erhalten hatten, war Cherno Jobatey, der damals für „Die Zeit“ und den „Tagesspiegel“ arbeitete und später im Frühstücksfernsehen Karriere machte. Er erinnert sich an den endlosen Treck, der vom Bahnhof zum Konzertgelände führte. „Irgendwas lag in der Luft. Überall sah man Pärchen, die wild knutschten. Ostdeutsche hatten schon immer den Ruf, in sexuellen Dingen sehr locker zu sein, aber in dieser Nacht schienen alle Dämme zu brechen. Die Atmosphäre war einfach unglaublich. Man hatte gleich das Gefühl, Zeuge eines ganz besonderen Ereignisses zu werden. Etwas, das man nur einmal in seinem Leben erlebt. Die Veranstalter hatten offensichtlich nicht mit diesen Menschenmengen gerechnet, aber niemandem schien der stundenlange Anmarsch etwas auszumachen.“

Birgit Walter von der „Berliner Zeitung“ erinnert sich daran, von allen Seiten so eingepfercht gewesen zu sein, dass sie auf eine Mülltonne kletterte, um wieder atmen zu können und einen besseren Blick zu haben. „Es war ein fantastisches Konzert und die Stimmung konnte nicht besser sein“, erzählt sie. Für eine Ost-Berliner Zeitung zu arbeiten, bedeutete allerdings auch, sich in der Berichterstattung zu beschränken, weil die Zensoren sonst die ganze Story gekillt hätten. „Ich konnte nicht schreiben, was ich schreiben wollte. Ich konnte nicht schreiben, dass die Mehrzahl der Besucher lieber heute als morgen in den Westen geflohen wäre -und dass die FDJ das Konzert veranstaltet hatte, um junge Ostdeutsche davon abzuhalten, weiterhin Ausreise-Visa zu beantragen. Ich konnte auch nicht schreiben, dass das Konzert amateurhaft organisiert war und die Leute hinten vermutlich kaum etwas sehen konnten. Ich konnte nicht über die Unzufriedenheit schreiben, die sich in diesen Jahren immer mehr aufstaute.“

Bruce Springsteen 1988

Mit dem Artikel, den sie letztlich schrieb, war Birgit Walter trotzdem nicht unzufrieden. „Es war einfach ein großartiges Konzert -und eine unglaubliche Erfahrung für Ostdeutsche, diesen Weltstar auf ihrer eigenen Bühne zu sehen. Es war, als sei aus der Menschenmenge plötzlich eine echte Community geworden. Die Leute dachten sich:,Hey, wir sind tatsächlich eine Macht. Vielleicht können wir ja noch mehr erreichen.'“

Die DDR-Organisatoren räumten später ein, dass mindestens 200.000, vielleicht auch 300.000 Zuschauer auf dem Gelände waren. Andere Schätzungen gehen sogar von bis zu 500.000 Menschen aus. Roland Claus behauptet jedenfalls, dass es die größte Menschenmenge gewesen sei, die je in der DDR zusammengekommen ist – und dass die offiziellen Schätzungen aus gutem Grund dahinter zurückblieben. Claus ist heute Bundestagsabgeordneter der Linken, 1988 war er als FDJ-Funktionär für die Sicherheit beim Springsteen-Konzert zuständig. „Es waren damals wahrscheinlich 300.000 Menschen oder mehr“, erinnert er sich. „Aber diese Zahl konnte nicht kommuniziert werden, weil wir keine Genehmigung hatten, so viele Leute auf das Gelände zu lassen. Hätten wir eine realistische Zahl veröffentlicht, hätten wir Ärger bekommen.“

Weiter auf Seite 2:

Jeff Kravitz FilmMagic
Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates