Bürgerschrecks im Bluesfieber

Die beschwerliche Odyssee des Blues begann im Mississippi-Delta und führte über Chicago nach London, wo ihn junge Rebellen stürmisch empfingen.

Die größte Sorge des 19-jährigen Gitarristen Keith Richard auf dem Weg zu einem Gig mit seiner gerade gegründeten Gruppe, den Rollin‘ Stones, galt dem Publikum: „I hope they don’t think we’re a rock’n’roll outfit.“ Die Mission der Stones, darin herrschte Einigkeit, war es, dem Blues in Britannien Geltung zu verschaffen. In einem Land, wo man die Fron auf Baumwollfeldern nur aus Büchern kannte und wo die wenigen schwarzen Einwanderer aus der Karibik stammten. Zu einem Zeitpunkt, als selbst die Schwarzen in Amerika nichts mehr wissen wollten vom leidgeprüften Erbe ihrer Vorfahren und sich stattdessen mit Wonne den ungleich sinnlicheren Verführungskünsten des Soul hingaben.

Als der Blues in den 40er-Jahren das Mississippi-Delta verließ und indie industrialisierten Metropolen des Nordens zog, vor allem nach Chicago, war dies Folge von Not und massenhafter Landflucht. Entwurzelt und ihres sozialen Umfelds beraubt, suchten die Neuankömmlinge in den urbanen Zentren ihre kulturelle Identität. Der Blues konnte ihnen die spenden, weil er selbst Teil der Völkerwanderung war und Geschichten erzählte, die mit der Wirklichkeit der Zuhörer korrespondierte. Inzwischen zwar elektrifiziert, weil in den vollen, lauten Spelunken Chicagos ohne Verstärkung kein Durchdringen war, aber in Schicksalsgemeinschaft mit seinem Publikum. Der daraus resultierende kreative und kommerzielle Boom der frühen 50er-Jahre verebbte mit dem Advent des Rock’n’Roll, in den frühen 60er-Jahren führte der Blues in Amerika nur noch ein Schattendasein.

Sicher, Muddy Waters hatte in der Blues-Diaspora von Folk-Festivals eine neue, aufmerksame Hörerschaft gefunden, unter weißen Studenten hauptsächlich, freilich nicht mit Chicago Blues, sondern mit traditionellem Country Blues zur Akustik-Gitarre, doch John Lee Hooker oder Howlin‘ Wolf bekamen den Bedeutungsverlust ihrer Musik bei der nachwachsenden Generation deutlicher zu spüren, nicht zuletzt durch schwindende Einkünfte. „Zu Beginn der 60er-Jahre schien Blues eine aussterbende Kunst zu sein“, erinnert sich Buddy Guy, „nur noch praktiziert von alten schwarzen Männern. Man macht sich heute keine Vorstellung mehr davon, wie ungläubig wir staunten, als uns die Kunde erreichte, dass im fernen London weiße Kids unsere Musik spielten. Und uns dann einluden und hofierten, als wären wir Könige.“

„When we started the Rolling Stones„, so Keith Richards, „our aim was to turn the world on to Muddy Waters, you know, to spread the word about Robert Johnson.“ Letzterer profitierte persönlich nicht mehr von der unermüdlichen Heldenverehrung, Waters und Wolf umso mehr. Beiden öffneten sich plötzlich Türen, etwa bei Tourveranstaltern oder TV-Sendern, die für sie stets verschlossen waren. „The Rolling Stones created a whole wide-open space for the blues, they said who did it first, paid their dues“, so Muddy Waters, „I tip my hat to ‚em. It took these people from England to hip my people.“

Hip to the blues: Das war im London der 50er-Jahre nur eine verschwindend kleine Szene, die ab 1960 immer größeren Zulauf und Zuspruch aus anderen Zirkeln erhielt. Die Trad-Jazzer wollten nichts davon wissen, aber aufgeklärte Jazz-Musiker wie Chris Barber boten nicht nur Hilfe und Auftrittsmöglichkeiten, sondern integrierten Blues-Nummern ins eigene Repertoire. Der Crawdaddy Club in Richmond wurde zur Pilgerstätte für die Rhythm-&-Blues-Crowd, in den Westend-Clubs wie dem Marquee und dem Flamingo traten sie alle auf, die jungen Wilden, die den Blues einer drastischen Verjüngungskur unterzogen. Nicht nur das, sie machten ihn enorm tanzbar, luden ihn mit Libido auf, verschärften ihn mit Stil. Und stellten nicht selten ein Aussehen und Auftreten zur Schau, das in der breiteren, miefig-spießigen Öffentlichkeit als reine Provokation wahrgenommen werden musste. Besonders die Stones und die Pretty Things taten sich als Bürgerschrecks hervor, während sich bravere Blues-Adepten wie Manfred Mann oder Georgie Fame & The Blue Flames äußerlich kaum unterschieden von Musikern in Jazz-Formationen. Kein Wunder, denn aus solchen waren sie ja hervorgegangen.

Das stetig wachsende Publikum bei Blues-Gigs lokaler Bands rekrutierte sich aus musikalisch heimatlosen Beatniks, aus dem riesigen Reservoir abtrünniger Skiffle-Fans sowie aus frustrierten Rock’n’Rollern, deren inzwischen gezähmte Idole nicht mehr zur Identifikation taugten. Konkurrenz gab es freilich auch, mächtige sogar. Parallel zum Londoner Rhythm-&-Blues-Dschungel war rasant ein anderes Biotop gewachsen, hauptsächlich in Englands Norden: das der Beat Music. Merseybeat nannten es die Liverpooler mit einigem Recht, weil einige der wichtigsten Vertreter dieser neuen, ganz und gar britischen und doch an amerikanischen Vorbildern orientierten, prinzipiell frischwärtig-positiven Musik aus der Stadt am Mersey kamen. The Beatles natürlich, deren Popularität im Laufe des Jahres 1963 solche Ausmaße annahm, dass man dem Phänomen einen Namen gab: Beatlemania. Aber auch eine Reihe anderer höchst erfolgreicher Beatgruppen wie die Searchers oder Gerry & The Pacemakers kamen aus der Hafenstadt. Nicht von ungefähr, denn wie in London war der Seehafen in den 50er-Jahren das Einfallstor gewesen für die begehrten, kulturstiftenden Schallplatten aus Amerika.

Merseybeat oder der Manchester-Beat der Hollies und Herman’s Hermits war, unabhängig vom jeweiligen Lokalkolorit, vornehmlich Melodie-motiviert und auf Eingängigkeit angelegt. Reiner Pop also mit mehr oder weniger ausgeprägtem Backbeat, angereichert mit transatlantischen Harmonien und unterfüttert mit Elementen jener noch jungen Tradition des britischen Pop, die Mitte der 50er-Jahre zu swingen begann und den Rock’n’Roll assimilierte. Die Soziologie des Beat weiß um den Gegensatz zwischen dessen Working-Class-Anbindung mit der primären Ambition zu unterhalten und der Middle-Class-Herkunft der Londoner R&B-Gruppen, deren Absichten eher untergründig-hedonistischer Art waren: Sex & Drugs & Rhythm & Blues. „Es ging alles wahnsinnig schnell“, berichtete Alexis Korner, der mit Cyril Davies die Urzelle des Brit-Blues namens Blues Incorporated betrieb, „gerade hatten wir unsere Sets im Blues & Barrelhouse Club noch vor ein paar neugierigen Nachteulen absolviert, auf einmal waren die Läden gerammelt voll von jungen Blues-Enthusiasten, die vielleicht Big Bill Broonzy gesehen hatten bei einem seiner Gastspiele oder Champion Jack Dupree.“ Blues Incorporated wurde zum Durchlauferhitzer für hoffnungsvolle Musiker, die vom Blues infiziert waren. Charlie Watts trommelte, Ian Stewart haute in die Boogie-Tasten, Mick Jagger sprang regelmäßig als Sänger ein und schaute sich bei Cyril Davies Harmonika-Kniffe ab, Brian Jones spielte Slide. Hier ging die spätere Speerspitze der Bewegung zur Schule, die wiederum andere inspirierte. The Animals aus Newcastle etwa, Sänger wie Long John Baldry und Chris Farlowe, Manfred Mann, The Yardbirds, The Kinks, The Who. Sie alle entwickelten ihren eigenen Sound und Stil, und doch gab es Gemeinsamkeiten, die sich nicht in der Abgrenzung vom smarten Beat erschöpften. Man hatte denselben Hintergrund: die Art-Schools.

Bevor die antipodischen Strömungen ab 1965 konvergierten und sich schließlich im pop-psychedelischen Dunst auflösten, schienen die Gegensätze unüberwindbar. „We’re not the Dave Clark 5“, schnaubte Them-Vokalist Van Morrison verächtlich, als seine Combo als Beatgruppe apostrophiert wurde. Eric Clapton verließ die Yardbirds, weil deren Hitsingle „For Your Love“ für ihn „Verrat“ am Blues war. Rod Stewart legte Wert auf die Feststellung, seine Debüt-Single „Good Morning Little Schoolgirl“ sei „definitiv Blues und kein bisschen Beat“. Was die Platten-umsätze betraf, hatte Beat Music freilich die Nase vorn, nicht zuletzt aufgrund der immensen Nachfrage nach Beatles-Schonkost. Die Fab Four hatten 1964 mit infektiösem „Yeah! Yeah! Yeah!“ gar Amerika erobert und global eine veritable Invasion britischer Popmusik losgetreten. An der die R&B-Bands zunächst wenig Anteil hatten, sieht man von den Stones ab. Doch selbst ihr „Little Red Rooster“, die erste (und auch letzte) reine Blues-Single, die je den ersten Platz der UK-Charts erreichte, Ende ’64, dank der Dauerbeschallung durch die Pirate Stations, stieß im Herkunftsland des Blues auf so viel Skepsis bei DJs, dass London Records welche Ironie! sie gar nicht erst veröffentlichte. Stattdessen setzte man dort auf „Time Is On My Side“, weil das „catchy“ war und „a more universal appeal“ hatte.

In Britannien verschwand Blues nie mehr von der musikalischen Landkarte, Bands wie John Mayall’s Bluesbreakers und Fleetwood Mac hegten und pflegten ihn, Taste und Savoy Brown rockten ihn, Cream auch, fast bis zur Unkenntlichkeit. Led Zeppelin schließlich, wiewohl personell durchaus derselben Traditionslinie angehörig, stampften ihn dann. In Grund und Boden.

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