Calexico – Von der Wüste in den Sumpf

Um dem Alltagstrott im heimischen Arizona zu entfliehen, reisten Calexico für ihr siebtes Album nach New Orleans, wo sie sich wieder einmal auf die Spurensuche nach (latein-)amerikanischen Musikstilen begaben. So erzählt "Algiers" auch von den Sicksalen kubanischer und mexikanischer Emigranten

Die Stadt im Video zu Calexicos „Para“ sieht flach, friedlich und etwas nichtssagend aus. Typ Vorort, mit einer ewig langen Brücke, darunter ein ausladender weißer Friedhof. Es flackern Super-8-Aufnahmen aus einer liebevollen Kindheit – schwarz-weiße 60er-Jahre, Laufstall, dicke väterliche Brille -, vielleicht jener von Joey Burns, dem Gitarristen und Sänger der Band, der die Straße entlangläuft und sich irgendwann rasieren lässt. Vielleicht gehört die Kindheit auch John Convertino, dem Drummer, den man einen sanft marschartigen Rhythmus spielen sieht. Die Bilder wirken so beiläufig wie der darunterliegende Folkrock, und doch gelingt es der Musik, mit ihrer sehnsüchtigen Dehnung höchst stimmungsvoll umzuschlagen: in eine Wanderung durchs Leben, unbestimmt nach vorne, nebendran der Tod und wie im Traum die Erinnerung an die Sicherheit des Anfangs.

Die Geschichte spielt allerdings nicht in der Bandheimat Tucson, Arizona, einer mittelgroßen Stadt im wüsten Grenzgebiet zu Mexiko, für dessen Sound Calexico so emblematisch steht. Sondern – fast im Gegenteil – in Algiers, dem Stadtteil von New Orleans, der dem neuen, siebten Album den Titel gab. Der zweitälteste Bezirk liegt höher als das French Quarter und war daher weniger von Katrina verheert. Die Long Bridge verbindet die Viertel über den Mississippi. „Viele Leute haben sich damals nach Algiers geflüchtet“, erklärt Burns. „Und es war der erste Bezirk, der nach Katrina wieder freigegeben wurde. Mittlerweile kehren auch die Leute und das Geschäftsleben zurück, es ist ein gewachsener Kiez, sehr untouristisch, sehr viel Soul.“

Für die meisten Bands wäre der Schritt, knapp zweitausend Kilometer von der Heimat aufzunehmen, vermutlich weniger bemerkenswert. Aber die wenigsten Musiker identifiziert man so stark mit einem geografischen Genius Loci wie Calexico, die ihn schon im Bandnamen tragen, der von einem Nest an der kalifornischen Grenze zu Mexiko stammt.

„Wir brauchten einen Ort ohne ablenkenden Alltag, an dem wir uns zwölf Stunden am Tag konzentrieren konnten“, sagt Joey Burns. „Eigentlich wollten wir längst mal in Europa produzieren. Aber Craig Schumacher, unser Produzent und Chef unseres Stammstudios Wavelab in Tucson, lag uns seit Jahren mit New Orleans in den Ohren.“

„Algiers“ ist vielleicht das kompakteste Album der Band, dabei scheint es dynamischer und lockerer denn je. Statt sich die Songs aus Skizzen übers Touren zu erarbeiten und dann aufzunehmen, haben sie sich diesmal auf die Initialzündung im Studio verlassen. Den Einfluss von New Orleans erkennt man zunächst eher nicht. „Es ging um den besonderen, fast europäischen Vibe, den es nirgendwo sonst in Nordamerika gibt. Und das Living Room Studio, in dem wir aufgenommen haben, hat einfach einen wahnsinnigen Sound“, sagt Burns. „Es ist eine alte Baptistenkirche, ganz aus Holz und oberirdisch. Ein reiner Klangraum, der schon einen guten Ton bringt, wenn man nur auf die Wand haut.“

Man kennt New Orleans natürlich für seinen Sound, den traditionellen Jazz, den Cajun-Country, den rollenden Rhythm & Blues – die Sümpfe von New Orleans sind ebenso Popstars wie die John-Ford-Landschaften Arizonas. Aber es führen auch individuelle Spuren zurück aus der altbekannten Musik, und beide Orte, mit den Zäunen zu Mexiko und dem Handelshafen zur Karibik, sind auch Grenzgebiete.

„Epic“, das kraftvoll schubbernde Eröffnungsstück von „Algiers“, erzählt vom nächtlichen, angespannten Warten im Gestrüpp und der Hoffnung auf eine neue Zukunft. „Puerto“ berichtet aus der unsicheren Perspektive mexikanischer Flüchtlinge und dominikanischer Einwanderer. Und in „Sinner In The Sea“ klingt schmerzvoll die historische Verbindung zwischen Havanna und New Orleans an. Einerseits erinnert die Art, wie sich die musikalischen Biotope zu einem eleganten Indie-Rock ineinanderschieben, an einen typischen Calexico-Song. Hier allerdings fällt von Beginn an eine Klavierfigur auf, die dem ganzen Stück einen mal deutlichen, mal eher subaquatischen Son-Rhythmus einhaucht.

Kuba ist dabei natürlich kein zufälliges Ziel. Burns schwärmt von Ned Sublettes 2008 erschienenem „The World That Made New Orleans“, das die Geschichte der Stadt seit den Tagen der Kolonisatoren und den Routen der Sklaverei über Haiti und Kuba nach New Orleans aufrollt. Denn schon „Black Light“, der Titelsong ihres zweiten Albums, widmete sich der kubanisch-newyorikanischen Musikszene. Zudem spielten Burns und Convertino vor ein paar Jahren in Havanna mit kubanischen Musikern.

„Mit dem ‚Sinner In The Sea‘ kamen einfach diese Bilder hoch, als wir dort gespielt haben“, erinnert sich Convertino. „Da denkt man eben an dieses lächerliche Embargo, das es seit 50 Jahren gibt, und wie Joey und ich uns heimlich ins Land schleichen mussten, damit wir dort aufnehmen konnten. Es ist aber natürlich weniger ein politischer Song als eine Liebeserklärung an Kuba und seine Kultur, und daran, wie Musik eine Brücke zwischen Ländern werden kann.“

Diese Brücke von Welt-Folklore zu Pop, das weiß man aus leidvoller Poperfahrung, wirkt oft genug nur wie plattnasiger Exotismus oder als Gimmick. Hier nicht.

„Weil wir mit unserer Musik so viel reisen, kommen wir an all diese Orte. Die direkte Erfahrung zählt. Natürlich sind die Ergebnisse unsere Interpretationen, aber es ist auch eine schöne Art, unsere Einflüsse und die mögliche Richtung zu kartografieren“, erklärt Convertino.

Calexico setzen die signalhaften Stilmarken – Mariachi-Trompeten, etc. – nicht traditionell ein, wie man das etwa bei Ry Cooder hören kann. Burns und Convertino denken egozentrisch im Sinne des Bandsounds.

„Wir verehren natürlich unsere Einflüsse – Art Blakeys Drums oder Charles Mingus‘ Bass, all die verschiedenen Latinstile oder die spanischen Gypsy-Sounds, Joeys irische Wurzeln, meine italienischen. Aber Calexicos Wesen besteht genau darin, impressionistisch am Detail zu arbeiten. Sergio Mendoza, der auf ‚Sinner In The Sea‘ am Klavier spielt, macht mit seiner Band mehr Salsa oder Mambo – aber er kann eben auch Indie-Rock. Kein Calexico-Musiker fixiert sich auf ein Genre, sondern deckt ein weites Terrain ab.“

Zu Stars sind sie mit ihrem kinematographischen, jazzigen Texmex-Folkrock über die Jahre nicht geworden. Aber zu einer unmittelbar erkennbaren Größe. Den atmosphärischen Ton, der auch in Kinofilmen von „Herr Lehmann“ bis „Collateral“ gern genutzt wird, gab es schon bei Giant Sand, Howe Gelbs Desert-Countryband. Über ein Jahrzehnt spielten Burns und Convertino bei Gelb, obwohl sie schon seit Mitte der Neunziger allein und seit 1996 als Calexico unterwegs waren.

Dabei fiel von Beginn an ihre Kontaktfreudigkeit auf: Sie begleiteten den alternativen Country von Victoria Williams oder Barbara Manning, trafen sich in den vergangenen Jahren mit Sam Beam von Iron & Wine und spielten immer wieder mit Figuren jenseits des Gringotrails, mit den Chanson-Experimentalisten Amor Belhom Duo zum Beispiel, den Tangoreros vom Gotan Project und lokalen Mariachi-Orchestern.

„Bei uns wechseln sich Singer/ Songwriter-Phasen und Bandtendenzen ab“, so Burns. „Wir wollen immer auch forschen und experimentieren, aber selbst in der Instrumentalband Friends of Dean Martinez (in der sie Mitte der Neunziger gespielt haben), waren viele Nummern eigentlich Songs.“ Auch der spanischfarbige Titelsong von „Algiers“ ist ein Instrumentalstück. Burns selbst meint dazu, „dass die Sounds und verschiedenen Dynamiken jetzt mehr in die Songs gewoben sind“.

„Außerdem“, sagt Convertino, „liegt unser letztes Album, ‚Carried To Dust‘, ja vier Jahre zurück, vier Jahre Lebens- und Berufserfahrung. Wir haben in der Zeit Filmscores geschrieben, zum Beispiel für ‚The Guard‘, mit dem phänomenalen Brendan Gleeson, und für die Dokumentation ‚Flor de Muertos‘ und den mexikanischen Zirkusfilm ‚Circo‘, in denen es um die Entwicklung entlang der mexikanischen Grenzen geht. Vermutlich haben wir uns dadurch diese filmisch-atmosphärische Seite erspielt.“

Die Atmosphäre des heimischen Grenzgebiets von Arizona liegt ihnen dabei am Herzen. Seit die „Politik der Angst“ herrscht, so Convertino, „geht es rauer zu. Die Politik treibt Keile zwischen Communities, die immer friedlich und respektvoll miteinander gelebt haben.“ Burns ergänzt: „Wegen der vielstündigen Wartezeiten an der Grenze bleiben die Leute jetzt zu Hause, und der wichtige Handel versiegt. Man vertreibt Leute ohne Papiere, die Schulen besucht und Steuern gezahlt haben. Letztens gab es sogar einen sogenannten Soundstrike, bei dem Musiker zu einem Boykott Arizonas aufgerufen haben.“

Diese politischen Dimensionen schwingen in den Stücken mit, nicht plakativ, sondern in kleinen Geschichten von Fremdheit, Unsicherheit und Sehnsucht. Dabei geht es allerdings um die Perspektive. „Ich habe mir neulich die Porträts aus Avedons, In The American West‘ angeschaut,“ erzählt Burns zum Schluss. „Zu den Fotos gibt es Geschichten von den unruhigen Figuren – Ölarbeiter, Drifter, Entwurzelte, Spieler. Knappe Storys, tolle Perspektive, aber am erstaunlichsten daran ist, wie man diese Charaktere überall auf der Welt entdeckt: in Südfrankreich oder Portugal, in Marokko, Deutschland – oder eben an der Ostküste der USA.“ markus schneider

Calexico Live

Der vierte Rolling Stone-Weekender findet vom 16. bis zum 17. November am Weissenhäuser Strand statt. Neben Calexico sind u.a. dabei: Animal Collective, Van Dyke Parks, Kettcar, Tindersticks, Kid Kopphausen, Spiritualized, Two Gallants, Poliça, Ewert & The Two Dragons, The Civil Wars, Admiral Fallow, Phantogram, Father John Misty, Hannah Cohen und Vadoinmessico. Weitere Informationen und Tickets gibt es online unter www.rollingstone-weekender.de

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