DAMENWAHL

Claudia Roth tanzt, im Sitzen, sie kann nicht anders. „Disko! Disko! Partizani!“ „Parti! Parti! Partizani!“ Der fette Balkangroove von Shantels „Disko Partizani“ lässt den Kleinbus beben. „Disko Partizani“ geht, ganz klar. Nächstes Lied: „Spiel das mal an, bitte!““Deine Augen machen blingbling und alles ist vergessen Deine Augen machen blingbling und alles ist vergessen …“

„Augenbling“ von Seeed. Claudia Roths Schultern zucken vor und zurück. Wenn die Musik mal in einem Leben drin ist, geht sie nie wieder raus. „Augenbling“ kommt mit auf die Liste. „Und jetzt das …“ Ein torkelndes Akkordeon, bayrische Männer stimmen an, Claudia Benedikta Roth, geboren 1955 in Ulm, singt laut mit:“Welcome to Bavaria!“ Die Biermösl Blosn. Heimat. „Damit“, sagt Claudia Roth und lacht, „damit fangen wir an.“ Auf mehreren Zetteln hat sie mit fein geschwungener Schrift die Musik für den heutigen Abend notiert. Gut 30 Titel, von Rio Reiser bis Robyn, von den Black Keys bis Tocotronic. Überraschend viel neues Zeug ist dabei. Was sie aussucht, muss Kraft haben. Und Seele, sagt sie.

Hannovers Grüne Jugend hat Claudia Roth eingeladen, nachher, ab 23 Uhr, noch bei der Wahlkampfabschlussparty im „Baradies“ aufzulegen. Die Parteivorsitzende ist keine Frau, die solche Aufgaben auf die leichte Schulter nimmt. Ein paar Mal im Jahr bespielt sie auf Einladung Clubs, Scheunen und andere Räume mit ihrer Musikauswahl und hat Lampenfieber vor jedem Auftritt. Alles muss perfekt sein. Ihr Assistent sitzt vorn auf dem Beifahrersitz, hochkonzentriert, und speichert die aktuelle Playlist auf dem iPad. Claudia Roth sitzt hinter ihm im „Wohnzimmer“ ihres Wahlkampfbusses -kleiner Tisch, dicke Teppiche, Discokügelchen an der Decke -und schwenkt die Zettel. Letzte Hörprobe. Wie funktionieren die Übergänge? Kann man der Grünen Jugend einen wie Flo Rida zumuten? Wann kommt der erste Titel von Rio Reiser? Und wo passt „Candy“?

Seit dem vergangenen November darf „Candy“ von Robbie Williams nicht fehlen, wenn Claudia Roth für eine Wahlparty die Musik zusammenstellt. „Candy“ erinnert sie an den kuscheligen „Candy Storm“, der die Obergrüne damals via Facebook und Twitter umschmeichelte, nachdem sie die grüne Urwahl zur Bundestags-Spitzenkandidatur krachend gegen Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt verloren hatte. „Bitte, Claudia, schmeiß jetzt nicht hin!“, hieß es, tausendfach. Dabei war es die Parteivorsitzende selbst gewesen, die durchgesetzt hatte, dass die Grünen-Mitglieder ihre Spitzenkandidaten direkt bestimmen durften. Natürlich auch, weil sie, die Schrille, die verhasste Herzenslinke und liebste Witzfigur der „heute show“ beim Einfluss der grünen Flügelarithmetik und der medialen Meinungsführer nie eine realistische Chance auf diese Position gehabt hätte. „Klar kann ich dabei auch verlieren“, sagte sie vor der Abstimmung. Aber dass nur jeder vierte Grüne Roth siegen sehen wollte, haute sie dann doch aus den Schuhen. „Mein Problem ist, dass ich dann immer sofort anfange zu überlegen, was ich falsch gemacht haben könnte. War ich nicht gut genug?“ Natürlich wurde Roth Tage später auf dem Parteitag mit so vielen Stimmen zur Vorsitzenden wiedergewählt wie nie zuvor. Parole: „Alle lieben Claudia.“

Manch Grüner mag sich heimlich fremdschämen für die gern verwegen Gekleidete, die Politik prinzipiell persönlich nimmt. „Mir kann es nur gut gehen, wenn es meinem Nächsten gut geht“, lautet ihr anstrengendes, von der Großmutter übernommenes Lebensmotto. Und von Gloria Gaynor: „I am what I am“ – nehmt mich, wie ich bin, oder lasst es, aber ich habe keine Lust, mich zu verstellen. Der Titel steht natürlich auch auf der Playlist für den Abend. Als Erinnerung an die gleichermaßen belebende wie zermürbende Euphorie der grünen Aufbruchszeiten gehört Claudia Roth heute zum Markenkern der Partei wie Keith Richards zu den Rolling Stones.

Dass Katrin Göring-Eckardt aus Friedrichsroda, Thüringen, bei den Grünen so richtig dazugehört, war eigentlich nie der Eindruck, den man von Parteiversammlungen mit nach Hause nahm. Ihren oft unbeklatschten Reden fehlte das selbstgewisse Feuer ökologischer Apokalyptiker, ihrem Habitus die klassische grüne West-Sozialisation. Von der Stärkung der Familien sprach sie schon, als das vielen Grünen noch wie der Eintritt in eine überkommene Lebensweise vorkam. Katrin Göring-Eckardt, das war doch die Nette mit den schönen braunen Augen und dem Holzkreuz auf dem Schreibtisch, den Bibelsprüchen als Bildschirmschoner, einem Pfarrer als Mann und zwei erwachsenen Söhnen -obwohl sie mit ihren heute 46 Jahren im überalterten Politgeschäft noch immer als Nachwuchskraft durchgehen würde. Und nun das: „Ich bin für das gewählt worden, was ich bin“, sagt Katrin Göring-Eckardt. „Das ist persönlich ein toller Erfolg, wenn die Partei sagt, wir wollen Dich als Spitzenkandidatin.“

Die Vizepräsidentin des deutschen Bundestags sitzt in ihrem geräumigen Büro -Kräutertee und Obstschale auf dem Tisch -und sieht aus, als wäre sie gerade aus einem sehr langen und sehr erholsamen Urlaub zurückgekehrt. Siege machen glücklich. Entspannt plaudert sie über ihre Jugend in der DDR, ohne sich dabei nachträglich zur großen Widerstandskämpferin zu verklären wie manch anderer Politiker mit Ost-Vergangenheit. Die Unfreiheit, das Gleichförmige habe sie sehr bedrückt; auch dass man über die USA nichts Gutes sagen durfte – außer über Martin Luther King oder Angela Davis. In der FDJ war sie trotzdem. In der Jungen Gemeinde der Kirche suchte sie nach Antworten auf Fragen, die man in der DDR viel zu lange nicht zu stellen wagte. Freiheit, Umwelt, Feminismus waren ihre Themen. Das Theologiestudium in Leipzig hatte Katrin Göring-Eckardt gerade unterbrochen, als sie am 9. November 1989 mit ihrem frisch geborenen ersten Sohn im Arm vor dem Fernseher saß und sah, wie die Deutschen auf der Mauer tanzten. „Im ersten Moment fand ich das gar nicht toll. Ich dachte, jetzt ist die Revolution vorbei.“ Die Revolution, die friedliche, mit der eine andere, bessere DDR geschaffen werden sollte und nicht einfach der Appendix zum satten, selbstgewissen Westdeutschland. „Die Revolution -das waren wir, das war nicht der Helmut Kohl.“

„Da kommt eine interessante Figur auf die politische Bühne Berlins“, sagte „Stern“-Chefredakteur Andreas Petzold über Katrin Göring-Eckardt, als er im Videoblog seines Magazins ein Interview mit ihr ankündigte. Ein paar Wochen ist das erst her. Eigentlich hat Katrin Göring-Eckardt seit der Wende vor über 20 Jahren kaum etwas anders bespielt als eben diese politische Bühne, und doch wird sie von vielen offenbar noch immer wahrgenommen wie ein Neuling. Als wäre sie nicht schon 1998 zur parlamentarischen Geschäftsführerin und 2002 zur Fraktionsvorsitzenden der damals noch mitregierenden Grünen gewählt worden und würde nicht bereits seit 2005 als Vizepräsidentin des deutschen Bundestags agieren. Allerdings geht von ihr, der „Unsichtbaren“, wie sie der „Spiegel“ gerade erst nannte, tatsächlich etwas angenehm Unaufdringliches aus. Bei ihren Auftritten im Urwahlkampf der Grünen überzeugte sie die Basis mit konzentrierten, alltagsnah formulierten Hinweisen auf die Konzepte der Partei und vermied die agitatorische Pose, die ihr ohnehin nicht steht. Vorbei sind die dunkelsten Tage der rot-grünen Regierungszeit, als „KGE“ Gewerkschaften, Linke und Attac beschimpfte („Besitzstandswahrer“), die „Politik des Umverteilens an der Grenze“ angelangt sah und Loblieder auf „die Wirtschaft“ sang, als bewerbe sie sich um die goldene FDP-Mitgliedsnadel. Mittlerweile beklagt auch Göring-Eckardt „Fehler“ bei Hartz IV, fürchtet um den „Zusammenhalt in der Gesellschaft“ und mahnt zur „Solidarität“ und höheren Steuersätzen. Leise, auf ihre Art. Bei Fraktionssitzungen frage man sich hinterher manchmal, ob sie eigentlich auch dabei gewesen sei, erzählt ein Parteifreund. „Katrin sagt etwas, wenn sie was zu sagen hat“, erklärt eine Kollegin. „Und wenn alle schon gesagt haben, was zu sagen ist, dann sagt sie eben nichts.“

Als Katrin Göring-Eckardt in der Schlussphase des Niedersachsen-Wahlkampfs verspätet auf einer Veranstaltung in Hildesheim eintrifft, merkt man es zunächst gar nicht. Während der Moderator des angekündigten „Kamingesprächs“ („leider ohne Kamin“) noch mahnt, dass man um 22 Uhr pünktlich Schluss machen müsse, weil man den Raum nicht länger habe, steht Göring-Eckardt plötzlich an der Garderobe im Eingangsbereich. Freundliches Lächeln, weißer Rollkragenpullover, braune Lederjacke (hoffentlich nicht echt).“Da isse“, tuschelt eine ältere Dame im Publikum. „Zehn Minuten, das geht ja noch“, brummt ein Herr in Tweedjacke. Spontanen Beifall gibt es nicht, eher beifälliges Gemurmel, das jäh erstirbt, als der Moderator am Mikrofon sich freut, „Katrin Göring-Eckardt in Hannover begrüßen zu dürfen“. Hannover. Sowas macht man nicht mit Hildesheim.

Es ist eine Veranstaltung, bei der man in Ruhe das Erfolgsgeheimnis des Politikmodells KGE beobachten kann. Neben ihr sitzen eine sehr aufgeregte Dame vom DGB, eine Vertreterin vom Verein „Business &Professional Women“ sowie zwei Herren vom BUND und vom Flüchtlingsrat. Katrin Göring-Eckardt ist eine begnadete, beruhigende Zuhörerin. Aufmunterndes Nicken, gefaltete Hände, und dann hinterher mit „erstens, zweitens, drittens“ das mehr oder minder brillant Vorgetragene der anderen noch einmal zusammenfassen: „Du hast es ja schon angesprochen.““Ganz simpel formuliert …“ „Was folgt für uns daraus?“ Ihre Stimme ist gerade laut genug, dass man ihr zuhören kann, und dabei genau so angenehm, dass man ihr auch zuhören mag. Wie bei einer geübten Predigerin verwandelt sich durch ihre Worten alles organisch in den Kernbestand des grünen Programms -genauso, wie die Theologen in der Kanzel für jede Alltagsbanalität den passenden Bibelvers auf Lager haben. Dass sie sich 2009 bei der Wahl zum Präses der Synode der Evangelischen Kirche gegen den CSU-Mann Günther Beckstein durchsetzte und als erste Grüne ein so hohes Kirchenamt bekleidet, fügt sich harmonisch ins Bild (bis zu den Bundestagswahlen lässt sie das Amt ruhen).

Das Publikum am heutigen Abend erinnert in seiner Zusammensetzung allerdings weniger an eine Kirchengemeinde als an ein Lehrerzimmer mit ein paar versprengten Oberstufensprechern. Viel graues Haar. Die Grünen sind in der demografischen Mitte angekommen. Konzentriertes Zuhören, keine Zwischenrufe, keine Ovationen. Für die eigentlich angekündigte Diskussion bleibt am Ende „leider keine Zeit mehr“, was aber niemanden zu stören scheint. Warm ist es geworden im Saal, sehr warm. Die Gesichter einiger Zuhörer nähern sich bedenklichen Rottönen. Katrin Göring-Eckardt hat ihre braune Lederjacke über dem weißen Rollkragenpullover zwei Stunden lang angelassen. Als sich die Versammlung auflöst, schwitzt sie nicht mal.

Claudia Roth kennt die Grünen noch aus einer Zeit, als eine hessische Landtagskandidatin mal bei einem Wahlkampfauftritt das Licht löschen ließ, weil sie Technik „generell ablehnt“. Eine Stunde lang missionierte die Dame ohne Mikrofon in den stockdunklen Raum hinein. Hinterher knüpfte man dann noch gemeinsam einen sehr langen Wollfaden zum „Netz der Liebe“. So etwas würden viele jener Männer, die sich gern „Hauptstadtjournalisten“ nennen, einer wie der Claudia wohl noch immer jederzeit zutrauen. Sie gilt in jedem Porträt als die Gefühlige, die Tränenreiche, obwohl sich auf Nachfrage niemand daran erinnern kann, sie jemals öffentlich weinen gesehen zu haben.

Sie hat mehr Länder besucht, als Guido Westerwelle auf der Landkarte findet, und kennt so viele internationale Politiker und Aktivisten persönlich wie kaum jemand sonst. Sie ist nicht cool, sie ist überpünktlich, die „preußische Schwäbin“, und betrachtet jede Minute Verspätung als persönliche Niederlage. Jede noch so kleine Rede notiert sie vorher auf kleine Zettel. Der Klavierlehrer ihrer Kindheit untersagte ihr, frei zu spielen, sodass sie nicht einmal die Stücke, die sie perfekt beherrschte, ohne Partitur in Angriff zu nehmen wagte. „Ich brauche den Rahmen.“ Man sieht ihr an, wenn sie jemanden mag und vor allem, wenn nicht. Dass man den notorischen Querkämmer Horst Seehofer in Journalistenkreisen anbetet, bei Claudia Roth aber jeden Friseurbesuch spöttisch registriert, erzählt viel über die mediale Wahrnehmung von Frauen in der Politik. Tatsächlich könnte man Roth mit einigem Recht als die erfolgreichste deutsche Parteivorsitzende der vergangenen zehn Jahre betrachten, es macht nur keiner. 2002, als sie erstmals an die Spitze der Grünen gewählt wurde, verzeichnete die Partei knapp über 40.000 Mitglieder. Heute sind es 60.000. Im Februar 2013 überholten die Grünen damit erstmals die FDP. Bei den Bundestagswahlen 2002 erreichten sie 8,6 Prozent, heute sehen Meinungsforscher sie bei 15. Und allein in den vergangenen beiden Jahren zogen die Grünen neu in fünf Landesregierungen ein.

Politik ist ihr Leben, sagt Claudia Roth. Abgehärtet durch ihre WG-Zeit mit Dauerdiskutanten aus der Marxistischen Gruppe München, als Managerin von Ton Steine Scherben und ausgestattet mit viel Theatererfahrung, hat Roth so gut wie keine Ortsgruppe unbesucht gelassen und gelegentliche innerparteiliche Zerklüftungen offensiv wegmoderiert oder einfach fröhlich ausgesessen. „In all den Jahren ist sie nicht bitter geworden“, staunte der konservative „Spiegel“-Vorzeigekolumnist Jan Fleischhauer neulich in einer Talk-Show und bekannte: „Ich mag sie, ich mag sie sogar sehr.“

„Von uns Grünen wird immer die absolute Treue zu den Inhalten verlangt“, erklärt Roth. „Wenn wir politische Kompromisse eingehen, weil wir nun mal nicht die absolute Mehrheit haben, müssen wir das immer sehr gut erklären. Das ist bei der Union oder der SPD anders.“ Ausgerechnet die Grünen, die anfangs auf so nervtötende Art unpolitisch wirkten, haben sich die Professionalität mit den Jahren gewissermaßen herbei debattiert. In einer Zeit, in der die „bürgerlichen“ Parteien sich wie die Bewohner einer narzisstisch gestörten Männer-WG gebärden (FDP) oder vorsichtshalber gar keine Positionen mehr beziehen wie die CDU und sich die SPD von einem schlecht gelaunten Krawallrhetoriker zerlegen lässt, wirken die Grünen plötzlich wie die Ausgeburt der politischen Vernunft.

Zurück zur Vernünftigsten von allen.“Wenn es um sachliche Themen geht, verwandelt sich die Wut bei mir immer schnell in ein Konzept“, erklärt Katrin Göring-Eckardt. Erstens, zweitens, drittens. Wenn die Wut dann noch nicht weggeht, bleibt immer noch das Trampolin in ihrem Büro. „Zehn Minuten, das ganze Blut geht nach unten, und oben ist wieder Platz zum Denken.“ Tanzen ginge auch noch, denn das kann sie richtig gut. Walzer, Tango, Cha-Cha-Cha, was man eben so lernt, wenn die Eltern eine Tanzschule besitzen und dem Kind etwas fürs Leben beibringen wollen. Wie man einen Tisch richtig deckt und mit guten Manieren Verbindungen schafft, gehörte dazu. Wenn sie als Bundestagsvizepräsidentin einen Redner auf die Überschreitung seiner Redezeit hinweist, schneidet sie ihm nicht gleich das Wort ab, sondern gongt erst einmal freundlich. Hört er dann immer noch nicht auf, sagt sie: „Dieser Gong ist keine Hintergrundmusik.“ Die erste Platte, die Katrin Göring-Eckardt unbedingt besitzen wollte, stammt von Gianna Nannini. Nichts illegal aus dem Westen Geschmuggeltes, sondern eines der im „bürgerlich-humanistischen“ Geiste geschaffenen Alben aus dem kapitalistischen Ausland, das vom DDR-„Komitee für Unterhaltungskunst“ zur Veröffentlichung auf dem volkseigenen Amiga-Label freigegeben wurde. „Die habe ich bestimmt 350 Mal aufgelegt“, erinnert sich Göring-Eckardt. „Ich bin mehr so der Typ, der ein Album immer wieder hört, statt alles Mögliche durcheinander.“ Mitsingen inklusive -„aber nur, wenn ich sicher bin, dass mich niemand hört. Mein Gesang ist eine Zumutung.“ Gemeinsam mit ihrem Bruder versuchte sie mal Gitarre zu lernen, aber der einzige Lehrer, der dafür in ihrer Heimat im Herzen Thüringens zur Verfügung stand, hieß Herbert Roth, eine Ikone der DDR-Volksmusik. Der brachte den Kindern lieber das „Rennsteiglied“ oder „Auf der Oberhofer Höh'“ bei als Lieder von Silly. Katrin Göring-Eckardt hielt drei Jahre Unterricht durch. Heute hört sie Clueso, den Thüringer, immer wieder den verehrten Leonard Cohen und Max Prosas „Flügel“. Der kam sogar schon mal zu einem Hauskonzert in ihre Wohnung. „Flügel aus Beton, und man fliegt trotzdem“, erklärt sie. „Das passt.“

Bei der „Grünen Jugend Hannover“ im kleinen „Baradies“ geht es eng zu heute Abend, hauteng. Mindestens die Hälfte der Partybesetzung sieht so aus, als habe man sie aus den Modeseiten des Magazins „Neon“ herbeigebeamt. Zwei Paare knutschen, beinahe alle anderen tanzen. „Disko Partizani“, „Augenbling“,“Alors on danse“ – alles funktioniert in dieser Nacht. Okay, Chers „Shoop Shoop Song“ knallt jetzt nicht ganz so gut wie ein paar Abende vorher auf dem Lande, aber bei „I Need A Dollar“ wird sogar mitgesungen. Claudia Roth steht neben dem DJ, sagt ihm ins Ohr, was als Nächstes kommt, wedelt mit den Armen und muss immer wieder stillhalten, weil jemand ein Handyfoto mit ihr haben will. Ein Zwei-Meter-Mann mit Bartflaum ruft: „Claudia! Claudia!“

Ein Heimspiel, keine Frage. Zwei Biosupermärkte sind ganz in der Nähe der Bar. Mit 22,6 Prozent der Zweitstimmen liegen die Grünen in dieser Gegend bei den Wahlen am nächsten Tag vier Prozentpunkte vor der CDU. Sogar im Haus über dem „Baradies“ wohnen beinahe ausschließlich grüne Familien. Nach dem dritten Partykracher von Claudia Roths Playlist verständigen sie die Polizei. Zu viel Lärm nach 23 Uhr. Da kann ja keiner schlafen. Im „Baradies“ wird die Anlage vorsichtig runtergefahren. Rio Reisers „Junimond“, mit dem Roth nach Mitternacht die musikalische Reise durch ihr Leben beschließt, hört man schon fast gar nicht mehr. Vor den beschlagenen Fenstern draußen stehen bis zum Ende der Party zwei Polizisten und achten darauf, dass nicht doch noch jemand lauter dreht.

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