Das große Diso-O-Inferno

Sie galt doch als die Zukunft der Musikindustrie - steht jetzt etwa schon das Ende der CD bevor? Viele halten das Pressen von Silberscheiben mittlerweile für unrentabel, der wahre Grund für den Absturz ist aber die geänderte Hör-Mentalität

Die Nachricht kam überraschend. An einem Sonntag im April teilte das ansonsten eher für Tradition und Gemütlichkeit bekannte Beverungener Label Glitterhouse mit, dass sich demnächst alles ändern werde. Neben dem Umzug nach Berlin: der komplette Umstieg auf das digitale Geschäft, bei künftigem Verzicht auf die Produktion jeglicher physischer Tonträger. „Den sinkenden Absatzzahlen der Tonträgerindustrie und der Schwäche des Handels“ könne man einfach nicht mehr entgegenwirken. Die Rettungsleine: Downloads. Neu eingestellt als „Digital A&R“: Walkabouts-Chef Chris Eckman (der bislang eher als überzeugter Vinyl-Liebhaber bekannt war). Ja ja, schon klar. Der besagte Sonntag im April fiel auf den 1. – und nicht wenige auf den Scherz erst einmal rein.

Indes wohl nicht nur aus Gutgläubigkeit, denn die geschilderte Situation klang gar nicht so unrealistisch. Schon seit Jahren sagen oft selbsternannte Spezialisten den Untergang des traditionellen Musikhandels voraus und entwerfen dabei die wildesten Zukunftsszenarien. Sogenannte „Musik-Futuristen“ erklären in bezahlten Vorträgen, dass die heutige Tonträgerindustrie Schnee von gestern sei und sich in spätestens 30 Jahren auch ganz bestimmt niemand mehr an Tonträger erinnern kann. Dabei ganz oben auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Formate: die Musik-CD, deren Verkäufe sich seit einiger Zeit in einem bedrohlichen Sinkflug befinden.

Das US-Marktforschungsunternehmen Nielsen Soundscan zum Beispiel zeigte den rasanten Verfall anhand eines Vergleichs auf. Wieviele verkaufte CDs waren im Jahr 1997 notwendig, um in die Top 5 der amerikanischen Billboard-Charts zu kommen – und wieviele im Jahr 2007? Das für die Branche deprimierende Ergebnis: ein Minus von 67 Prozent. Im ersten Quartal 2007 verzeichneten die CD-Umsätze in den USA dann allein gegenüber dem Vorjahr einen Rückgang von rund 20 Prozent. Auch der Handel spürt die Krise. So musste die legendäre Kette Tower Records, einst die Top-Adresse für High-Street-Shopper wie Raritätensucher, Ende 2006 die traditionsreichen Pforten schließen; unzählige Fachhändler ereilte dasselbe Schicksal.

Wer in britischen Musikmagazinen die Anzeigen für neue Single-Releases durchblättert, wird in der letzten Zeit eine Veränderung festgestellt haben: „Available on 7″ and download“, ist dort vermehrt zu lesen – von CD-Singles keine Rede mehr. Jeff Rabhan, als Musikmanager unter anderem für Kelis und Jermaine Dupri tätig, traut den „Silberlingen“ nicht mehr viel zu: „CDs sind mittlerweile kaum mehr als Werbung für Konzerte und Merchandising-Produkte eines Künstlers“, sagt er in der „New York Times“.

Dabei gehört die CD nach wie vor zu den Hauptumsatzbringern im seit Jahren schrumpfenden Markt – in Deutschland machte das Format 2006 noch stolze 85 Prozent der Gesamtumsätze aus, bei CD-Alben gab es gegenüber 2005 sogar leichte Zuwächse. Was die absoluten Zahlen allerdings verbergen: Die Download-Umsätze stiegen in derselben Zeit um 40 Prozent an. Eine Tendenz, eine deutliche aber.

So machte der damalige EMI-Chef Alain Levy in seiner Eröffnungsrede zum letztjährigen „London Media Summit“ eine klare Ansage: Die CD sei quasi tot und werde von den meisten Kunden ohnehin nur noch dazu genutzt, um Musik auf digitale Abspielgeräte zu übertragen. Der einzige Ausweg aus dem Dilemma: Die Musikindustrie müsse sich neue Strategien überlegen, um die seit vielen Jahren unter zerbrechlichen Plastikschachteln und teuer bezahltem Füllmaterial leidenden Kunden zurückzugewinnen. Maßnahmen also, die durchaus seit längerer Zeit Einzug in die Angebotspalette erhalten haben: ein Lied mehr, eine zusätzliche DVD, Web-Gutscheine, 72-seitige Booklets oder in dicke Kartonagen eingelassene Tonträger.

Die jeweiligen Fans mögen das goutieren, eine spürbare Breitenwirkung lässt sich bislang jedoch nicht ausmachen. Bernd Dopp, Chef von Warner Music Deutschland, Österreich und Schweiz, sieht in derartigen Aufwertungsversuchen auch nur wenig Sinn: „Unsere Marktforschung belegt, dass die überwiegende Mehrheit der Albumkäufer nicht bereit ist, aufgrund einer aufwändigeren Verpackungsgestaltung wieder zur CD zu greifen, geschweige denn einen höheren Preis zu bezahlen.“ Vielmehr, so Dopp, müsse man den Konsumenten verstärkt preislich und inhaltlich attraktive digitale Angebote machen. Ist digital also wirklich der wichtigste Vertriebskanal der näheren Zukunft?

Zumindest im Single-Segment ist der Trend aus England auch in Deutschland angekommen, sind CDs schon lange ein Auslaufprodukt – es dominiert die Online-Musik. „Hier werden schon bis zu 80 Prozent der Stückzahlen digital generiert“, bestätigt auch Bernd Dopp. Überraschend ist diese Entwicklung nicht, sondern folgt einer simplen ökonomischen Logik. Denn wer gibt schon fünf Euro für eine so genannte „Maxi-CD“ aus, wenn es zumeist nur um einen einzigen Titel geht, den es nun auch schon für 99 Cent gibt?

Dieses nur im Digitalen mögliche Cherrypicking macht allerdings auch vor den Alben nicht halt. Denn auch das waren CDs: ein konstanter Umsatzbringer, dessen Konfiguration von den Labels vorgegeben wurde und von den Kunden entweder genau so oder gar nicht gekauft werden konnte. Die digitale Musikdistribution basiert dagegen auf einem Track-bezogenen Verkaufskonzept und damit auf der Qualität jedes einzelnen Musikstücks.

Hat ein Album nur drei beliebte Stücke, werden also auch nur genau die gekauft. Die zunehmende und durch das Web begünstigte Autonomie des Kunden macht es möglich. Auch deshalb ist der amerikanische Medienberater Aram Sinnreich vom langfristigen Tod des Album-Konzepts überzeugt – und führt zudem ein geändertes Rezeptionsverhalten der Konsumenten als weiteren Grund an. „Musik wird heute zunehmend über Unmengen von Playlists und als Mix einzelner Songs gehört“, so Sinnreich in der „New York Times“. „Wer mit einem iPod aufgewachsen ist, wird sich insbesondere auf solche Künstler konzentrieren, die diese Entwicklung aktiv unterstützen.“ Was indes eine Rückkehr zur Single bedeuten würde – analog zu den 50er und 60er Jahren, als viele Künstler erheblich mehr Singles als Alben verkauften.

So ganz teilen wollen die Musikmanager die Einschätzung allerdings noch nicht. Denn hat sich die letzte Platte der Red Hot Chili Peppers, eine Doppel-LP mit immerhin 28 Songs, nicht knapp zwei Millionen Mal verkauft? Und das, obwohl es jedes Stück parallel auch als Einzel-Download gab? Eben. Jedoch konzedierte Capitol-Boss Jeff Kempler kürzlich in einem Interview, dass für manche Künstler eine auf Alben basierende Kalkulation schon bald ein Relikt der Vergangenheit darstellen kann. Mit anderen Worten: Wessen Karriere ohnehin nur von Hit-Singles und Radio-Airplay abhängt, wird in Zukunft eben darauf reduziert. Die Qualität entscheidet über die Quantität des Song-Outputs.

Und so reagiert Glitterhouse-Vize Rembert Stiewe auf die Diskussionen noch mit westfälischer Gelassenheit. „Unsere Zielgruppe beschäftigt sich zwar auch mit Downloads, weiß den Wert eines physischen Tonträgers aber absolut noch zu schätzen. Die verbinden mit Musik auch ganz andere Emotionen, als es das Gros der Mainstream-Hörer vermutlich tut.“ Im Gegensatz zu vielen anderen mag Stiewe auch noch nicht so recht an das digitale Wirtschaftswunder glauben. „Der Umsatz, den wir als kleines Indie-Label bislang mit Downloads machen, reicht gerade einmal aus, um den Tabakkonsum unserer Mitarbeiter zu finanzieren.“ Stiewe kennt allerdings auch nur drei Glitterhouse-Künstler, die ohne Neben-Job allein von der Musik leben können.

In ganz anderen Dimensionen denkt derweil Ex-Talking Heads-Sänger David Byrne. Beim diesjährigen SXSW-Festival in Austin hielt der eigenwillige Musiker einen mit „Record Companies: Who Needs Them?“ recht deutlich betitelten Vortrag. Seine Kernthesen: Das Internet ermöglicht die künstlerische Selbstverwaltung, Labels werden weitestgehend überflüssig und die CD ist in spätestens fünf Jahren komplett vom Markt verschwunden. Und dann outete sich Byrne als Musikpirat: Weil die meisten Musikdienste die Songs nur in Verbindung mit einem Digital Rights Management (DRM) anbieten, bediene er sich eben bei den Tauschbörsen.

Sein Appell, doch einfach auf DRM zu verzichten und auf diese Art den Online-Musikmarkt noch attraktiver für die Kunden zu machen, scheint indes gehört worden zu sein: Unlängst kündigte die Plattenfirma EMI an, einen Großteil ihres Katalogs in den Online-Shops ab sofort ungeschützt anbieten zu wollen. Denn in einem kundenfreundlichen digitalen Musikmarkt liegt, und da sind sich immer mehr Manager und Künstler einig, wohl doch die Zukunft.

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