Das Meer in mir

Zwei alte Freunde sitzen am Lagerfeuer, irgendwo in den Wäldern der Cascade Mountains an der amerikanischen Westküste. Der eine, Mark, ist verheiratet und steht – wie man so sagt – fest im Leben. Der andere, Kurt, offensichtlich ein Späthippie, mit verwildertem Gesichtsbart, schütterem, wirrem Haar, oft in kurzen Hosen undjeansjacke, ist eine Art Peter Pan. Er hat einen recht infantilen Zugang zur Realität und lässt sich lieber treiben als Entscheidungen zu treffen. „Ich sehe Dinge, die andere Leute nicht sehen, weil sie sie nicht sehen wollen“, sagt er einmal. Vielleicht ist das der Blick eines Narren — oder der eines Künstlers. Wenn Kurt versucht, seine Weltsicht zu erläutern, blickt er oft in das verunsicherte, manchmal gar verängstigte Gesicht seines Freundes. „Ich bin ein bisschen verrückt, ich weiß“, beruhigt er ihn. „Das darfst du nicht so ernst nehmen. „Es ist alles gut zwischen uns.“ Mark erzählt ihm, dass seine Frau ein Kind erwartet. Kurt schaut ihn an wie einen Fremden, starrt dann ins Feuer. „Ich habe immer versucht, mich von allem fernzuhalten, aus dem ich am Ende nicht allein wieder rauskomme“, sagt er. „Ein Kind zu haben ist so… echt.“

In einem kleinen Plattenladen an der West Queen Street in Toronto sitzt ein Mann auf einem Barhocker. Sein Schädel ist kahl, nur von einem blonden Haarkranz umrahmt, unter seiner Nase prangt ein prächtiger, walrossartiger Schnauzbart, der im Grübchen unter seiner Unterlippe eine ebenso struppige Entsprechung findet. Der Mann trägt ein blau-weiß-kariertes Hemd, eine schwarze Hose, veilchenfarbene Socken und schwarze Leder-Halbschuhe. Wenn er seinen Hocker nicht auf einer notdürftigen Holzbühne positioniert hätte und eine Gitarre um den Hals trüge, könnte man denken, er wäre der Besitzer des Geschäftes, oder ein Bankangestellter, der nach Feierabend kurz vorbeischaut. Doch der Laden ist voll, denn die Stadt hat lange auf diesen Mann gewartet. Mehrere Stunden standen Fans gestern für die ioo Eintrittkarten zu diesem kleinen Konzert am Samstagnachmittag an. Sogar auf der Titelseite des Stadtmagazins wurde es groß angekündigt. Unter einer naivenlllustration, die eine gartenzwergähnliche Gestalt im Kapuzenpulli zeigt, steht in geschwungener Schrift: „Bonnie .Prince“ Billy“, darunter, etwas kleiner: „Indie icon leads us into his palace of song.“

Eine Stunde später sitzt mir der Künstler in einem schummrigen Cafe ein paar hundert Meter die Straße runter gegenüber. Er hat sein verschwitztes Hemd gegen ein weißes T-Shirt eingetauscht und nennt sich nun „Will Oldham“. „Bonnie ist der Sänger, Will Oldham schreibt für ihn die Songs“, grinst er unter seinem Schnauzer hervor.

Will Oldham hat in den letzten 14 Jahren schon Lieder für viele seiner Alter Egos geschrieben. Palace Brothers, Palace Songs, Palace Music und Palace sind neben dem Prinzen Billy die bekanntesten. „Die verschiedenen Pseudonyme geben mir die Möglichkeit, mich zwischen den multiplen Persönlichkeiten, die wir alle besitzen, zu bewegen“, erklärt er. „Ich kann das Wasser, das durch mich hindurchfließt, so in verschiedene Richtungen lenken und sehen, wo es mich hinführt.“

Doch es sind keine ruhigen Flüsse, die da durch Oldham fließen. Seine Kunst oszilliert zwischen den Extremen. Oft sind vor allem in den Texten gleich mehrere Kräfte zugleich am Werk, die die Songs in unterschiedliche Richtungen zu drücken scheinen, wie starke Strömungen in einem tiefen Meer. Ja, es kommt einem vor, als spielte sich in seinen Songs immerfort ein rauschender Wechsel zwischen Ebbe und Flut ab, so sehr schwanken die Stimmungen hin und her.

Man meint, die Gezeiten, die in ihm wirken, auf dem neuen Bonnie-„Prince“-Billy-Album „The Letting Go“ zu hören. Wenn er am Ende etwa gespenstisch Carl Sigmans und Robert Maxwells Evergreen „Ebb Tide“ rezitiert, den schon Frank Sinatra auf „Sings For Oiil) 1 The Lonely“ zu an- und abschwellenden Streichern croonte. „First the tide rushes in/ Plants a kiss on the shore/ Then rolls out to sea/ And the sea is very still – once more/ So I rush to your side/ Like the oncoming tide/ With one burning thought/Will your armsopenwide?“

Auch der Kindskopf Kurt, den Oldham in Kelly Reichardts Film „Old Joy“ (der Ende August in den amerikanischen Kinos anlief) verkörpert, treibt auf seinem innerem Meer. „Ich fühle mich dieser Figur sehr nahe“, sagt er, „manchmal bedauere ich Kurt, dann wieder identifiziere ich mich mit ihm. Es wird immer Leute geben, die das, was ich mache, meine Musik, meine Schauspielerei, nicht für eine einem Erwachsenen angemessene Art halten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In dieser Hinsicht sind wir uns sehr ähnlich.“

Fremde Identitäten anzunehmen, scheint für Will Oldham die natürlichste Sache der Welt zu sein. Schon mit neun Jahren nahm er Schauspielunterricht. „Als ich mit der Schauspielerei begann, war mir schnell klar, dass sie mir etwas gab, was mir sehr wichtig war. Aber ich war noch viel zu jung, um zu kapieren, was das mit dem realen Leben zu tun hatte“, erklärte er mal kryptisch in einem Interview.

Mit 16 lebte der Junge aus Louisville, Kentucky bereits in Los Angeles, hatte sogar einen Agenten, der ihm schließlich seine erste große Rolle in einem Film vermittelte. In John Sayles‘ Minenarbeiterdrama „Matewan“ spielte Oldham den trapper boy und milchgesichtigen Prediger Danny Radnor mit jugendlicher Emphase und dunklem Blick. Nach zwei weiteren Filmen hatte er allerdings schon genug von der Schauspielerei, floh nach New York, dann nach Osteuropa, nach einem psychischen Zusammenbruch zog er zu seinem jüngeren Bruder Paul nach Charlottesville, Virginia und verbrachte Monate damit, jeden Morgen die vier Meilen durch die Wälder zur nächsten Bibliothek zu laufen, dort ein Buch nach dem anderen zu verschlingen, und erst am Abend wieder zurückzukehren. Erlebte nur noch in Büchern.

Irgendwann meldete er sich in einer Segelschule an, „um Pirat zu werden“, wie er allen, die es wissen wollten, mit einem Grinsen versicherte. Auf See hatte er einen, wie er es nannte, „katatonischen Anfall“, und sein Bruder nahm ihn erneut auf. „Damals kam es mir vor, als hätte ich in der realen Welt keinen Platz, nur in der abstrakten Welt fühlte ich mich zu Hause“, so Oldham. Schließlich gaben ihm die Musik und regelmäßige Auftritte mit Paul in Louisville einen neuen Zugang zur Welt. „Ich wusste nicht, wie Schauspielerei und das reale Leben zusammenhängen. Aber bei der Musik war das anders, ich fühlte mich ihr innerlich in all ihren Dimensionen verbunden — von Anfang an. Das war eine Offenbarung.“ Oldham verbrachte viel Zeit damit, sich die Welt in eigenen Songs anzueignen. Von da an strukturierten nicht mehr die Bücher anderer Leute seinen Tag, sondern die Arbeit an eigenen Texten.

Die erste Single der Silver Jews, „Dirne Map Of The Reef“, – „eine wunderschöne Platte, musikalisch, visuell“ – und seine Liebe zu Royal Trux bewegten ihn 1992 schließlich dazu, Demos einiger seiner Songs an das Plattenlabel Drag City in Chicago zu schicken. So wurde er schließlich Teil dieses Künstler-Kollektivs, zu dem damals neben den Genannten auch schon

Jim O’Rourke und David Grubbs von Gastr del Sol und Bill Callahan alias Smog gehörten. Bereits 1993 traf Oldham bei einem Label-Abend in Chicago viele der Drag City-Künstler. „Seitdem gibt es eine starke Tradition, zu kooperieren und zusammen zu touren“, erklärt er. „Jeder dort ist daran interessiert, neue Sachen auszuprobieren und Erfahrungen auszutauschen. Informationen darüber, mit wem man arbeiten oder wo man seine Platte mastern lassen könnte, wo man Anzeigen schalten und Konzerte spielen sollte, sind einfach für jeden verfügbar.“

Oldham liebt trotz seiner eigenbrötlerischen Art den Austausch und die Kooperation mit anderen Künstlern. Es gibt wohl keine Platte von ihm, die nicht auch von der Spannung zwischen den beteiligten Musikern lebt. „Wenn ich mir die Leute zusammensuche, die auf einer neuen Platte mitspielen sollen, frage ich vermutlich jedenMusiker aus einem anderen Grund“, so Oldham. „Bei manchen sind es einfach persönliche Gründe, bei anderen sind es musikalische und das Persönliche spielt überhaupt keine Rolle. Jede Platte ist eine Kombination dieser Aspekte. Wenn eine bestimmte Person zusagt, muss ich gucken, wer dazu passt, damit es eine runde Sache wird. Die erste Person, die ich für das neue Album im Kopf hatte, war Dawn.“

Es ist der Gesang von Dawn Mc-Carthy, der Sängerin des seltsam berückenden Folk-Projekts Faun Fables, die neben Oldhams gedämpfter Kojoten-Stimme und den Streicherarrangements seines Cousins Ryder McNair den warmen, rauschenden Klang von „The Letiing Go“ bestimmt.

Gitarrist Emmett Kelly, Dirty Three-Schlagzeuger Jim White, mit dem Oldham „über Musik reden kann wie mit niemandem sonst, wir finden immer die richtigen Worte“, und Björk-Produzent Valgeir Sigurdsson geben dem ganzen Struktur.

Oldham hat Sigurdsson bei der Arbeit an „Gratitude“, einem Song für den von Björk komponierten Soundtrack zu Matthew Barneys „Drawing Restraint 9“, kennengelernt. Der Produzent lud ihn zu sich nach Island ein, wo „TheLettingGo“schließlich aufgenommen und gemischt wurde. „Der Ort, an dem wir aufnehmen, ist essenziell“, erklärt Oldham. „Ich mag Platten, auf denen man den Ort genauso hören kann wie die einzelnen Musiker.“

Eine der wichtigsten Komponenten für ein gelungenes Oldham-Album wird oft übersehen: Paul Oldham. Er ist auf fast allen Platten seines Bruders dabei. Als Musiker und als Übersetzer. „Es gibt ganz sicher sehr viele Dinge, über die wir gar nicht reden müssen. Paul ist eine große Hilfe im Studio“, bestätigt Will Oldham. „Kommunikation ist etwas sehr Komplexes, und er ist äußerst gut darin, Kommunikationsprobleme zu überbrücken. Man muss ja an vieles denken, wenn man eine Platte macht. Und eine Sache, die vielen vielleicht so selbstverständlich erscheint, dass sie sie nie erwähnen, ist einfach die… menschliche… Sprache. Willst du schivimmen gehen? Sollen wir heu* te Abend Thai-Food essen? Sowas ann man leicht kommunizieren. Aber alles andere ist schwierig. Ich weiß einfach nicht, wie ich es in Worte fassen soll, wenn ich mit dem Sound einer Aufnahme nicht zufrieden bin. Also stellen meist alle etwas ratlos die Mikrofone woanders hin, und wir versuchen es noch mal. Ich kann nicht sagen, was ich empfinde, wenn es um Musik geht. Und Paul weiß einfach, was in solchen Momenten zu sagen ist und wie man es mathematisch ausdrückt.“

Der Weg zur Wirklichkeit, zum Praktischen, Rationalen, ist für Will Oldham ein „mathematischer“. Immer wieder benutzt er dieses Wort. Er scheint die Menschen einzuteilen in Dichter und Mathematiker. Zwischen der „mathematischen“ Alltagssprache und der Poesie seiner Songs gebe es – so sagt er – nur wenige Gemeinsamkeiten. „Es dauert sehr lange, einen Song zu Ende zu schreiben. Zu fühlen, dass da etwas enthalten ist, was in den Song auch hineinpasst, etwas, das nicht aus einer normalen Konversation entspringen könnte“, erklärt er. „Ein Gespräch ist für den Moment wichtig, wogegen etwas, das in einen Song gesagt wird, länger bestehen sollte. Trotzdem muss es sich allerdings im Moment, in dem man es das erste Mal hört, einprägen. Wenn eine Platte einem etwas fürs Jetzt und etwas für die Zukunft gibt, ist das optimal. Und es ist mit harter Arbeit verbunden, das zu erreichen.“

Hubert Fichte hat mal gesagt, sein Kunstideal sei es, einen Stein so lange zu bearbeiten, bis er ganz Stein sei – in Wörtern. Die Sprache erscheint bei ihm als ein magisches Ritual, mit dem der Künstler seine ganz eigene Wirklichkeit herstellen kann. Diese Überlegungen lassen sich auch an Oldhams Werk anschließen.

„The Lettirtg Go“ führt mitten in diese ¿wundersame und widersprüchliche poetische Welt des Will Oldham. Lieder zwischen Liebe und Schicksal, Angst und Hoffnung, Ebbe und Flut, Eis und Schnee. Ganz unauffällig zwischen den

Oldham, der ja schon Anfang der Neunziger alte, vergessen geglaubte Folktraditionen reanimierte und weitersponn, ist ein weiterer Vorläufer (musikalisch und visuell) und Förderer des New Weird America. Er nahm vor drei Jahren die noch vollkommen unbekannte Joanna Newsom mit auf Tour (und gilt seither als ihr Entdecker), verhilft Projekten wie Faun Fables und dem sympathischen Schotten Alasdair Roberts durch Kooperationen zu größerer Bekanntheit und schrieb für sein neues Album „The Letting Go“ den Song „God’s Small Song“, eine Weiterführung von Baby Dees „Love’s Small Song“. Auf die Frage, ob er sich als ein Pate der neuen Bewegung sehe, antwortete er: „Ich sehe mich eher als ein Fan.“

Was die Weird-Folk-Szene für viele so interessant macht, ist ihre Effizienz-Verweigerung. Hier muss kein Saal gerockt, kein Dancefloor zum Tanzen und Hüpfen gebracht werden. Alles kann, nichts muss. Die Qualitäten sind eher poetisch und leise – aber mit spitzen Ecken. „Espers II“, das zweite Album des Sextetts aus Philadelphia, ist mal scheu wie ein Reh und dann wieder wild zur lärmenden Improvisation entschlossen. Mike Lindsays Band Tunng steht mit ihrer an Instrumenten erzeugten und dennoch „elektronisch“ klingenden Musik in der Tradition digitaler Folk-Pioniere wie Four Tet, The Books und Animal Collective. Das schrullige amerikanische Gospel-Orchester Danielson, in dem auch Sufjan Stevens gelegentlich mitwirkt, findet seinen fast schon kammermusikalischen und trotzdem bezaubernden Kontrast im North sea Radio Orchestra.

Es wäre eine Ironie der Popgeschichte, wenn nun bald das erste Major-Label bei einem der neuen Sonderlinge des Pop anklopfen würde. Doch ein umsatzträchtiges Genre wird Freak-Folk oder New Weird America wohl nicht werden. Diese Musik ist ein individueller Luxus, ein Zeichen kultureller Diversifizierung, ein Refugium persönlicher Entdeckerfreude – so wie andere, durch das internet wieder wachsende Subkulturen.

JÜRGEN ZIEMER

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