Das war 2012 Der Rückblick

Ein Jahr der Newcomer und Rückkehrer – aber wenn dieser Mann ein Album veröffentlicht, müssen alle anderen weichen. Bob Dylan siegt mit majestätischem Abstand vor Tindersticks und Dexys. Was uns sonst noch wichtig war, lesen Sie auf den folgenden 20 Seiten

Album des Jahres

1 Bob Dylan

„Tempest“

Die Komitees von Exegeten und Hermeneutikern, Musikologen und Mystikern, Propheten und Astrologen hatten in diesem Jahr einen ganz besonderen Freudentag: Am 7. September erschien das neue Album von Bob Dylan. Nicht gerade ein Spektakel für die Generation Rihanna, aber Männern über 40 ging das Herz auf wie immer, wenn der alte Quengler neue Songs veröffentlicht. Wobei Dylans Lieder so frisch klingen wie eine Radio-Übertragung von Bob Wills und den Texas Playboys aus dem Jahr 1943. Anheimelnd also.

Die entrückte Putte auf dem Cover wurde vorab als „onanierender Engel“ interpretiert – das dürfte Dylan gefreut haben, wenn es auch keine Absicht war. Schwungvoll hat ein Grafikschüler „Tempest“ darüber geschmiert. Auf der Cover-Rückseite sitzt His Bobness am Steuer eines alten Sportwagens – hat jemand der in den vergangenen Jahren zunehmenden Mobilität des Songschreibers nachgespürt? Ehrlich, ich habe den „babylonischen König Belsazar“, dem „Jahwe im Siegesbankett den Finger zeigt“, nicht gefunden. Dass Dylan das Arrangement von „Narrow Way“ schon „für seine Version des Blues-Songs, Someday Baby‘ verwendet hat“ – und wenn schon! Es ist eben das Arrangement, das Dylan immer mal wieder für ein knarziges Stück verwendet. Er würde sagen: Es ist gar kein Arrangement.

Natürlich ist die Platte trotzdem ergötzlich – schon weil die Songs immer länger werden, Narrationen fast vom Ausmaß von „Highlands“, musikalisch repetitiv und, so weit man etwas verstehen kann, lyrisch sehr lustig. „Long And Wasted Years“ ist so ein Lied, in dem Dylan Stanzen wie „Last night I heard you talking in your sleep“ und „I ain’t seen my family in 20 years“ und „We cried because our souls were torn“ mit seiner aufreizenden „Ballad Of A Thin Man“-Stimme deklamiert. Und dann kommen erst die Brecher. Das gekrächzte „Pay In Blood“, ein Western, und „Scarlet Town“ und „Tin Angel“ und „Roll On John“, ein anlassloses Lied über John Lennon. „Tempest“, der Titelsong, ist ein Poem über den Untergang der „Titanic“ – mit der Pointe, dass der Dampfer ja nicht in einem Sturm, sondern bei spiegelglatter See in den Hades fuhr. Sehr richtig stellte der Dichter dazu fest, dass seine Fantasie nicht an die tatsächlichen Ereignisse gebunden sei. Leonardo DiCaprio war auch nicht Passagier auf dem Schiff – aber der Schauspieler sagt in dem Film von James Cameron Sätze wie „If you got nothin‘, you got nothin‘ to lose“ und gibt sich auch sonst dylanesk.

Nur dass Dylan schon lange woanders ist, irgendwo im Alten Testament, in Legenden vom Westen, in Geschichtsbüchern und Zeitungen aus dem Sezessionskrieg. Im Grunde schreibt er heute die Folk-Blues-Songs, denen er 1964 abgeschworen hatte – allerdings als ein sehr unzuverlässiger Erzähler, dem es nicht auf Authentizität und Wirkung ankommt. Vielleicht auch wie Walt Whitman, der den Körper elektrisch sang und Amerika in seinen Versen erst aus der Taufe hob. Das alte, unheimliche Amerika liegt in diesen Liedern, die so offenkundig der Bibel, den Schauermärchen und Moritaten entlehnt sind: Amerika, eine Fiktion. Glaubt keinem Sänger!

Bloß „Tempest“, das späte Stück von William Shakespeare, wurde von den Deutern verblüffend selten herangezogen. Weiß der Teufel, auch ich hatte das Büchlein gekauft und geblättert, einen Hinweis gesucht, eine Verbindung zu Dylan, Sentenzen für den Engel, fürs Blut, für die Könige und die verschwendeten Jahre. Fand aber nichts. ARNE WILLANDER

Bester Song: „Tin Angel“

Alben des Jahres

2 Tindersticks

„The Something Rain“

Mit galantem Groove evozieren die ausgewählten Ästheten auf ihrem mittlerweile neunten Album die Eleganz von Roxy Musics „Avalon“. Doch wo Bryan Ferry sich zwischen den Zeilen lasziv die Lippen leckt, rinnen Stuart Staples in diesen um Orgel, Trompeten und tief tönende Saxofone arrangierten Songs Tränen in seinen Proust-Schnurrbart, und David Boulter macht sich in einem neunminütigen Rezitativ „Chocolate“ auf die Suche nach der verlorenen Zeit, erzählt von Orangenlikör und Zigaretten, einer Kammer mit Heizofen, Plattenspieler und WC auf halber Treppe, George Lazenby und einer erotischen Überraschung. So gut waren die Tindersticks seit „Curtains“ nicht mehr. MB

Bester Song: „Medicine“

3 Dexys

„One Day I’m Going To Soar“

Vielleicht verbietet es sich, den durch die Hölle eines Künstlerlebens gegangenen Kevin Rowland mit den Walzerkönigen Vater Johann Strauss und Sohn Johann zu vergleichen. Von wegen falsches Jahrhundert, und völlig andere Produktionsbedingungen. Dennoch orientiert sich das Dexys-Comeback an einer choreografierten Liebesrevue, die den Fin-de-Siècle-Werken der Strauss-Dynastie gar nicht unähnlich ist. Man singt sich an wie in „Der Fledermaus“, man schmachtet und herzt und schmerzt ganz wie in Wien von anno dunnemals. Dass es hier natürlich um keltischen Soul, um Pop und Inbrunst (und – ja – einen Hauch von Walzer) geht, versteht sich von selbst. Das Comeback des Jahres. RN

Bester Song: „She Got A Wiggle“

4 Scott Walker

„Bish Bosch“

Von Körpern und Kriegen, Terror und Todsünde, Himmelfahrt und Hinrichtung, biblischen Antinomien und maurischen Hofnarren singt Scott Walker auf diesem Album, das anmutet wie ein apokalyptisches Triptychon des niederländischen alten Meisters Hieronymus Bosch. Die Streicher verweigern jede Harmonie, die Perkussion hämmert, harte Gitarren, ein Chor aus Fürzen und ein Antilopenhorn fahren dazwischen. Seinem einst so majestätischen Bariton tut der 69-Jährige Gewalt an. Melancholie, Altersmilde und Versöhnung sucht man vergeblich auf diesem schonungslosen Spätwerk. Im Herz dieser dunklen Kunstlieder steckt ein tiefschwarzer Humor. „Here’s to a lousy life!“ MB

Bester Song: „Epizootics!“

5 Donald Fagen

„Sunken Condos“

Es hat im vergangenen Jahr keine Platte cooler, lässiger und schöner begonnen als „Sunken Condos“: der butterzart herabsteigende Basslauf, das elegante, nur scheinbar mühelose Rumgeswinge, das hier und da eingesprengselte Vibrafon, das läppische, angenehm kompakte Gitarrensolo, der Wolken vertreibende Chorgesang – herrlich. Worum geht’s bei „Slinky Thing“? Ah, alter Mann, junge Frau, wie praktisch immer bei der Steely-Dan-Hälfte Donald Fagen. Und wem sonst würde man es nachsehen, einfach weil seine Musik so einzig und überragend ist und in dem gefühlten Genre „Yacht Rock“ so wahnsinnig viel besser als der würdelos gealterte Rest. Was macht eigentlich Walter Becker? SZ

Bester Song: „Slinky Thing“

6 Neil Young & Crazy Horse

„Psychedelic Pill“

Nachdem er im Frühjahr mit der sonderbaren Sammlung „Americana“ vorgefühlt hatte, veröffentlichte Neil Young im Herbst das Doppel-Album „Psychedelic Pill“: Mit Crazy Horse begannen die Aufnahmen auf Youngs Ranch mit Gniedelei und entwickelten sich zu drei der längsten Songs, die Young je improvisiert hat – von „Schreiben“ kann keine Rede mehr sein: 27 Minuten dröhnt „Driftin‘ Back“, und auch „Psychedelic Pill“ und „Walk Like A Giant“ wollen gar nicht mehr aufhören. „Ramada Inn“ ist einer jener Songs, die belegen, dass Neil Young durchaus in der Gegenwart lebt – obwohl es für sein Werk nicht von wesentlicher Bedeutung ist. Der Humor dagegen ist es. AW

Bester Song: „Walk Like A Giant“

7 Kid Kopphausen

„I“

Es hörte sich gut an: Zwei tolle Songschreiber und Sänger gründen eine gemeinsame Band. Es klang dann auch gut: Gisbert zu Knyphausen und Nils Koppruch gelangen auf ihrem Debüt als Kid Kopphausen mitreißende Lieder über den Alltag in Deutschland und die Frage, wie man ihn vielleicht schafft, ohne verrückt zu werden. Zum Beispiel mit Einsichten wie diesen: „Jeder Tag ist ein Geschenk, er ist nur scheiße verpackt/ Und man fummelt am Geschenkpapier rum und kriegt es nur mühsam wieder ab.“ Man kann diese lakonischen Stücke heute natürlich leider gar nicht mehr hören, ohne an die Tragödie zu denken: Im Oktober starb Nils Koppruch, unerwartet und viel, viel, viel zu früh. BF

Bester Song: „Das Leichteste der Welt“

8 Lambchop

„Mr. M“

Es wurden schon viele Alben über den Tod geschrieben und über die Liebe, die sich von ihm nicht kleinkriegen lässt, aber dies ist eines der schönsten: Kurt Wagner hat es seinem Freund Vic Chesnutt gewidmet, der sich 2009 das Leben nahm. Man muss das nicht wissen, um diese wunderbar orchestrierten Folksongs zu schätzen, aber es hilft, die Traurigkeit zu verstehen, die in jedem Moment in Wagners Stimme mitschwingt. Auf „Mr. M“ erweist sich der Mann aus Nashville erneut als großer Crooner, ohne jeden Kitsch allerdings und mit einer feinen Zurückhaltung, die umso mehr berührt. Am Ende bleibt die Erkenntnis, was wirklich zählt. Ein Tipp: Macht oder Reichtum sind es nicht. BF

Bester Song: „Gone Tomorrow“

9 Bruce Springsteen

„Wrecking Ball“

Das Jahr hätte kaum besser laufen können für Bruce Springsteen: Eine triumphale Tournee geschafft, ein gewaltiges Album veröffentlicht, Obama zur Wiederwahl verholfen. Und doch wirkte es wie ein Missverständnis, als bei der Präsidentenparty „We Take Care Of Our Own“ erschallte. Selten klang Springsteen so wütend und fast resigniert wie auf „Wrecking Ball“, aber eben nur fast: Am Ende schwingt er sich mit der E Street Band doch zur großen Versöhnungsfeier auf, noch einmal darf man das Saxofon von Clarence Clemons hören – und plötzlich ist das „Land Of Hope And Dreams“ nicht mehr fern. Solange es Bruce Springsteen gibt, wird die Verzweiflung nicht gewinnen. BF

Bester Song: „Jack Of All Trades“

10 Neneh Cherry & The Thing

„The Cherry Thing“

Neneh Cherry kennt man natürlich vor allem für clubfreundliche, irgendwie latzhosige Songwriter-Platten aus den späten Achtzigern und frühen Neunzigern. Doch auf „The Cherry Thing“, ihrer Kollaboration mit Mats Gustafssons Free-Jazz-Trio The Thing, kreischt das Saxofon, trippeln und schleifen, bollern und swingen die Rhythmen, dass es ihrem Stiefvater, dem Jazz-Trompeter Don Cherry, eine Freude gewesen wäre. Sein „Golden Heart“ erfährt ebenso eine Avant-Pop/Free-Jazz-Bearbeitung wie Suicides „Dream Baby Dream“ und „Dirt“ von den Stooges. Fast noch besser: die Remixe dieser Tracks von Jim O’Rourke, Four Tet und Merzbow auf dem Album „The Cherry Thing Remixes“. MB

Bester Song: „Dream Baby Dream“

11 Rufus Wainwright

„Out Of The Game“

Kein Aufwand ist zu groß, wenn Rufus Wainwright sich anschickt, den Popthron zu besteigen. Nach Oper und Traueralbum tat er sich für sein siebtes Album mit dem hippen Hitproduzenten Mark Ronson zusammen, um endlich auch in Amerika den kommerziellen Durchbruch zu schaffen. Doch natürlich sind seine Songs immer noch zu exaltiert und opulent, zu melodramatisch und zu schlau, um als manierliches Chartsfutter zu taugen. „Out Of The Game“ klingt so, als hätte Freddie Mercury einen feuchtfröhlichen Urlaub im Laurel Canyon verlebt. Im letzten Song, „Candles“, entlässt Wainwright seine 2010 verstorbene Mutter Kate McGarrigle zu Dudelsäcken in die Ewigkeit. MB

Bester Song: „Candles“

12 Frank Ocean

„Channel Orange“

Auf dieses Album wurden wir beim ROLLING STONE erst spät aufmerksam. Lange bevor es eine CD gab, gab es Gewisper. Was auch daran liegt, dass sich Frank Ocean schon lange nicht mehr um den überkommenen Veröffentlichungszirkus und die traditionellen Distributionswege und Tonträgerdarreichungsformen schert. Er produziert Musik und stellt sie ins Netz, wie so viele. Mit dem Unterschied, dass Frank Ocean ein Einzigartiger ist. Wer es nicht glaubt, höre die Beat-Coolness von „Crack Rock“, die seelenvolle Tiefe von „Bad Religion“ und lasse sich auf den Klang-Kosmos von „Pyramids“ ein – in der Tat: Frank Ocean ist der Prince unserer Tage. Man darf gespannt sein, was 2013 kommt. SZ

Bester Song: „Pyramids“

13 David Byrne & St. Vincent

„Love This Giant“

„How Music Works“ heißt David Byrnes neues schlaues und leider auch ein bisschen zu akademisches Buch. „Love This Giant“ zeigt einem wesentlich lustvoller, was es auf sich hat mit dem Zauber der Musik. Man nehme zwei intelligente Songwriter, die sich Songideen zumailen, eine Bläsersektion und ein paar Beats, und fertig ist das schlaueste Popalbum des Jahres. Byrne ist in nervöser Hochform, und die junge Songwriterin Annie Clark alias St. Vincent wird eh mit jedem Album noch besser. Sogar die Vertonung eines Walt-Whitman-Gedichts gelingt ihr ohne Prätention. „If you dance you might understand the words better“, hat Byrne einst bei einem Konzert der Talking Heads gesagt. Hier ist der Beweis. MB

Bester Song: „Optimist“

14 Pet Shop Boys

„Elysium“

Zwischenzeitlich musste man befürchten, die immer auf Tuchfühlung mit dem heißen Scheiß (House Music, Elektro) bedachten Pet Shop Boys hätten ihren Midas-Touch verloren. Neil Tennant und Chris Lowe als Disco-Dandies verirrt in den Nullerjahren; fürwahr keine schöne Vorstellung. Mit „Elysium“ haben die beiden das Ruder nun noch einmal herumgerissen: kein neumodischer Quatsch, kein Dub- oder Twostep, sondern getragener Elektropop mit Molltönen aller Art. Das also, was sie am besten können. Sehr hoch ist ihnen anzurechnen, dass sie mal wieder ein Album eingespielt haben, das sich mit Gewinn und Genuss durchhören lässt. Manchmal kann das Nachdenken über das Altern auch schön sein. RN

Bester Song: „Requiem In Denim …“

15 Tame Impala

„Lonerism“

Wie gefangen in der Retroschlaufe wirken die jungen Kerls von Tame Impala aus dem australischen Perth. Die ewigen späten Beatles feiern fröhliche Wiederauferstehung im psychedelischen Lichtergeflacker. Musikalienhändler dürften die Band überaus mögen, gibt es doch kaum ein Effektgerät, das das Quintett nicht zum Einsatz kommen lässt. Das Faszinierende an Tame Impala ist nicht die pure Kopie der späten Sechziger, sondern ihre freischwebende Montage mit digitalen Möglichkeiten. Sie sind damit im besten Sinne „Retronuevo“, um Nelson Georges Wiedergänger-Begriff aus der Soulmusik zu benutzen. Alter Wein in brandneuen Schläuchen also, der durch die Aufbereitung ungemein frisch wird. RN

Bester Song: „Feels Like We Only Go …“

16 Fiona Apple

„The Idler Wheel Is Wiser …“

Alle paar Jahre taucht Fiona Apple auf und veröffentlicht ein Album, gibt kaum Interviews und nur wenige Konzerte – und verschwindet dann wieder. Was sie in der Zwischenzeit macht, bleibt ein Rätsel. Man kann nur hoffen, dass ihre Songs doch nicht so autobiografisch sind, wie sie klingen – auch auf „The Idler Wheel …“ dreht sich wieder alles um die Verletzungen und Verwirrungen einer fragilen Seele. Apple stellt ihre Neurosen und ihre Wut aus, ohne falsche Hemmungen und voller Stolz. Sie hat auch allen Grund dazu: Ihre Lieder, die immer zwischen Pop, Jazz und Vaudeville schwanken und sich doch niemals einordnen lassen, nehmen einen sofort gefangen. BF

Bester Song: „Valentine“

17 Tom Liwa

„Goldrausch“

Er sitzt auf einer Mauer, lässt die Dinge entstehen, und dann lässt er sie sein: Tom Liwa, der seltsamste der deutschen Songpoeten, hat ein Album mit Ukulele, Cello, Percussion und Bass aufgenommen, einen anrührenden Reigen von privaten Skizzen, Momentaufnahmen, Gefühligkeiten. In der Atmosphäre entsprechen Liwas träumerische Meditationen Neil Youngs „Harvest Moon“ und „Silver & Gold“. Unbekümmert mischt der Ruhrgebiets-Esoteriker präzise Erinnerungen und kindliche Fantasterei. Später im Jahr erschien ein Album mit seiner Band Flowerpornoes, „Ich liebe Menschen wie ihr“: ein glänzendes Beispiel für Tom Liwas zweite Natur und verschwenderischen Hippie-Rock. AW

Bester Song: „Lena Lena“

18 Loudon Wainwright III

„Older Than My Old Man Now“

Der Philip Roth unter den amerikanischen Songschreibern hat ein Familienalbum aufgenommen, das Zeit und Geschichte im Allgemeinen und Besonderen behandelt. Im Titelsong singt Wainwright von dem Paradox, dass er jetzt älter ist, als sein Vater – Journalist bei „Time“ – es je war. Und in „The Here & The Now“, „Double Lifetime“ und „Date Line“ gewinnt er dem schmerzlichen Thema gewohnt sardonischen Witz ab. Nicht nur in „The Days That We Die“ gedenkt der alte Spötter seiner verstorbenen Ex-Frau Kate McGarrigle. Die Kinder Rufus und Martha singen ebenso mit wie die Frauen seines Lebens. Für Loudon Wainwright beinahe ein sentimentales Album. AW

Bester Song: „The Here & The Now“

19 The xx

„Coexist“

Das Album nach dem Hype, das zweite der britischen Band, auf die im vergangenen Jahr am meisten projiziert wurde. „Coexist“ enttäuschte und erfüllte Erwartungen gleichermaßen: Natürlich ist es keine unerhört neue Popmusik wie noch das Debüt drei Jahre zuvor. Und dennoch ein Schritt weiter, einer den viele der jungen Band gar nicht zugetraut hätten: noch feiner, noch runtergepitchter, noch stilbewusster. Und dabei in Ansätzen sogar club-kompatibel. Wobei Jamie Smiths Einfluss als inzwischen recht versierter und gefragter Produzent von Elektronik- und Dubstep-Tracks gerne überbewertet wird – wo doch die Gesangs- und Pop-Achse Oliver Sim und Romy Madley Croft den Ton bestimmt. SZ

Bester Song: „Angels“

20 Ben Folds Five

„The Sound Of The Life Of The Mind“

Dass Ben Folds ein begnadeter Songschreiber ist, war spätestens seit „The Unauthorized Biography of Reinhold Messner“ (1999) klar. Und doch hatte man in den vergangenen Jahren manchmal das Gefühl, dass er unter seinen Möglichkeiten blieb. Mit den alten Kumpanen Robert Sledge und Darren Jessee schließt er jetzt an das Meisterwerk an: Nach zwölf Jahren Pause haut das Trio zehn wilde, lustige, seltsame, dramatische, unfassbare Songs raus, natürlich getragen von Folds‘ Piano und dieser Stimme, die so lässig ins Falsett kippen kann und immer erstaunliche Kapriolen schlägt. Gute Ratschläge haben Ben Folds Five auch parat: „If you’re feeling small and you can’t draw a crowd/ Draw dicks on the wall.“ BF

Bester Song: „Sky High“

21 Lee Ranaldo

„Between The Times And The Tides“

Bisher hob Lee Ranaldo sich seine Songs immer für Sonic-Youth-Platten auf und experimentierte auf seinen Soloalben jenseits aller Formatgrenzen mit Sound und Poesie. Doch die Zukunft der Band ist ungewiss, und so hat der Gitarrist die freie Zeit genutzt, um gemeinsam mit Jazz-Keyboarder John Medeski und Sonic-Youth-Schlagzeuger Steve Shelley und den Gitarristen Alan Licht und Nels Cline (Wilco) ein mitreißendes, wuchtiges Songalbum zu machen, auf dem er den Helden seiner Jugend huldigt: Neil Young, den Byrds, den Beatles und den Rolling Stones, Mitt-60er-Bob Dylan und Anfang-70er-Paul McCartney. Ein berauschender psychedelischer Maelstrom. MB

Bester Song: „Waiting On A Dream“

22 Bill Fay

„Life Is People“

Neben Dexys das zweite völlig unerwartbare Comeback des Jahres. Bill Fay, so genialischer wie eigenbrötlerischer und fast völlig vergessener britischer Songwriter, lässt sich nach 41 Jahren aus dem Eremitendasein reißen, um noch einmal ein zartes, zeitloses, ungemein bewegendes Album aufzunehmen. „Life Is People“ zeigt zweierlei: a) sie machen keine Platten mehr wie diese und b) es gibt in der Reihe hinter Tim Hardin und Nick Drake einiges, was noch (wieder) zu entdecken wäre. Bill Fays erstes (insgesamt drittes) Album seit 41 Jahren wirkt bei aller scheinbaren Zerbrechlichkeit stets stark und souverän, egal ob seine altersweise Stimme zu Klavier, Gitarre oder ganzem Orchester erklingt. SZ

Bester Song: „Cosmic Concerto“

23 Flying Lotus

„Until The Quiet Comes“

Nö, Jazz ist nicht tot, er riecht nur anders. 2012 nach einem bonbonfarbenen Fruchtcocktail mit in Äther getränkten Erdbeeren und im Magen brizzelnden Kiwimutationen. Das ist schon sehr kosmisch, was Dubstep-Produzent Steven Ellison auf seinem zweiten regulären Flying-Lotus-Album macht: Space-Music zwischen Techno, Jazz, R&B und Esoterik. Auch das verstörend schöne Video zu „Until The Quiet Comes“ spricht die Sinne vielfältig an, da fließt das Blut mutmaßlich rassistisch verorteter Konflikte in schönster Bildsprache, während sich der mal minimalistisch-flächige, mal hektisch zusammengezurrte Sound majestätisch ausbreitet. Und Erykah Badu hat ihren besten Auftritt seit Langem. SZ

Bester Song: „See Throu To U“

24 Madness

„Oui Oui, Si Si, Ja Ja, Da Da“

Madness sind einer dieser „Nie-wirklich-weg“-Bands aus dem schillernden Biotop jener britischen Popmusik, die seit Ende der Siebziger viele kleine und große Revolutionen anzettelte. Die Crew um Frontmann Suggs hat dabei die stets verschmitzte Abteilung „Gute Laune“ übernommen. 30 Jahre später jonglieren sie mit der eigenen Vergangenheit. Die Wurzeln im Ska sind längst überwuchert. Aus dem jugendlichen „My Girl“ von damals ist ein kickender Song über eine kapriziöse Dame namens „My Girl 2“ geworden. Das Album hoppelt im Midtempo-Bereich durch allerlei melancholische Anwandlungen mittelalter Männer. Ein durchaus angenehmes Werk im Herbst ihrer Karriere RN

Bester Song: „My Girl 2“

25 Garland Jeffreys

„The King Of In Between“

Für sein erstes Album in 13 Jahren hat Garland Jeffreys sich seine Heimatstadt New York als Thema gesetzt. Und welches Konzept könnte die Eklektizismen des in Brooklyn aufgewachsenen halb afro-amerikanisch-, halb puertorikanisch-stämmigen Songwriters besser fassen als der sprichwörtliche Melting-Pot? Auf „The King Of In Between“ brilliert er in Rock’n’Roll, R&B, Blues, Soul und Reggae und huldigt zugleich all den anderen großen New-York-Alben von Curtis Mayfield bis zu den Rolling Stones. Früher sei er ein Schlangenmensch gewesen, singt er in einem Song, „life was bending I was twisting“, und Lou Reed grummelt dazu „Dudu dudu dududu du dudu …“ MB

Bester Song: „Love Is Not A Cliche“

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