Der Boss und sein Neuer

Er hat den morgen damit verbracht, sich ein paar der unveröffentlichten Songs anzuhören, die sich im Laufe der Zeit bei ihm angesammelt haben. „Ich hole sie ab und zu raus, um mich ein bisschen zu unterhalten“, sagt Bruce Springsteen. Bald wird er mit der E Street Band zur Tour nach Südafrika aufbrechen. „Wenn ich abends nichts Besseres zu tun habe, lege ich ein paar Tracks auf und achte auf die verschiedenen Formen der Musik.“ Was ziemlich genau der gleiche Ansatz ist, mit dem er sich vor gut einem Jahr an die Arbeit zu „High Hopes“ machte. Das neue Album ist eine Sammlung von Coversongs und Neu-Versionen von Live-Klassikern wie „The Ghost Of Tom Joad“ und „American Skin (41 Shots)“, die einen gemeinsamen Nenner haben: „Sie waren auf einem Studioalbum nie angemessen repräsentiert“, sagt Springsteen und erzählt von den Aufnahmen für „High Hopes“, der Zusammenarbeit mit Tom Morello und dem nächsten Album.

Es ist das erste Mal, dass Sie ein Album aus älterem Material zusammengestellt haben. Wie darf man sich den Arbeitsprozess vorstellen?

Er war untypisch, aber auch nicht völlig anders als meine grundsätzliche Vorgehensweise. Ich arbeite nicht so linear wie die meisten Menschen.

Nach einer Tour gehe ich meist ins Studio und bin dort von einer Sammlung halb fertiger Stücke umgeben. Da gibt es eines, bei dem etwas noch nicht stimmt, weshalb ich es nicht abschließen konnte. Oder ein anderes, das nicht ins Konzept passte, an dem ich damals arbeitete. Natürlich kann es auch passieren, dass ich mich hinsetze und zwölf neue Songs schreibe, aber da ich inzwischen einen Berg unfertiger, unveröffentlichter Aufnahmen vor mir herschiebe, passiert das immer seltener. Ich gehe also ins Studio, schau mir die unvollendeten Songs an und frage mich, welche Kandidaten unseren Fans etwas bedeuten könnten.

Erzählen Sie uns etwas zu den Aufnahmen Anfang 2013 in Australien. Damals war Tom Morello für Steve Van Zandt an der Gitarre eingesprungen.

Wir nahmen „High Hopes“ dort auf und auch unsere Version des The-Saints-Songs „Just Like Fire Would“, den wir bereits auf der Australien-Tour gespielt hatten. Das passte perfekt zu dem Material, das sich angesammelt hatte und abgeschlossen werden wollte.

Morello spielt auf acht der Songs mit. Wie hat seine Mitarbeit das Album verändert?

Er nahm die Musik und verpflanzte sie ins Hier und Jetzt. Er ist einer der wenigen Gitarristen, die ihre eigene Welt kreieren können, die diesen „Whoa“-Effekt haben. The Edge kann das, Pete Townshend natürlich, Jimi Hendrix oder Johnny Marr von den Smiths -die großen Gitarristen eben. Tom Morello ist die gebündelte Kreativität und war wie ein Filter für mich: Ich schickte meine Musik durch ihn hindurch -und als er sie zurück schickte, hatte sie einen zeitgemäßen Drall. Ich bin mir nicht mal sicher, ob das Album ohne ihn überhaupt existieren würde. Er zeigte mir den Weg, diese Lieder so zusammenzuschnüren, wie ich es mir immer vorgestellt, aber nie hinbekommen hatte.

Als Sie zum ersten Mal Rage Against The Machine hörten: Konnten Sie sich da vorstellen, dass dieser Gitarrenstil mit der E Street Band funktionieren würde?

Nein, anfangs nicht. Aber die E Street Band arbeitet mit einem vielseitigen Netzwerk. Unsere Einflüsse gehen zurück bis zu früher US Garage Music. In unserer Band spielten schon Jazzer, klassische Kansas-City-Trompeter oder Gitarristen wie Nils Lofgren. Unsere Fähigkeit, Dinge zu integrieren, die man nicht von uns erwartet, ist erstaunlich gut ausgebildet.

Bei einem Gig in Kalifornien 2008 standen Sie mit Morello erstmals auf der Bühne. Die „Ghost Of Tom Joad“-Version, die Sie damals spielten, ist der Fassung auf dem Album sehr ähnlich.

Das ergab sich beim Soundcheck. Wir probten die Nummer zwei, drei Mal und spielten sie so auch auf der Bühne. Danach stand die Frage im Raum: Wohin wird dieser Weg führen? Der Band eröffnete er neue Perspektiven.

„Down In The Hole“ scheint 9/11 zu thematisieren. Haben Sie das Stück 2002 für „The Rising“ geschrieben?

Manchmal muss man sich zwischen zwei Dingen entscheiden, die einem beide am Herzen liegen. Ich glaube, ich hatte damals diesen Song und „Empty Sky“, aber „The Rising“ war mit 15 Songs bereits an seinem Limit.

Dann gibt es noch „Frankie Fell In Love“ – einen euphorischen Popsong, der völlig aus dem Rahmen des restlichen Albums zu fallen scheint.

Das war eine Nummer, die wir für „Magic“ (2007) eingespielt hatten. Die Aufnahme wurde nie verwendet, aber ich liebe die Lyrics. Es ist ein toller Song, wie ihn früher The Faces spielten. Da er einer meiner liebsten E-Street-Band-Rocksongs ist und schon lange in unserem Repertoire, haben wir eine neue Version davon geschnitten.

„Harry’s Place“ klingt so, als würde das Lied in einem Bordell spielen.

Das war meine Abrechnung mit den Bush-Jahren. Die Nummer stammt wohl aus der Zeit von „Magic“, damals schrieb ich über die letzten Tage der Bush-Regierung. Tom fügte eine Gitarren-Ebene hinzu, wir mischten es neu ab und nahmen ein paar neue Elemente dazu.

„Dream Baby Dream“ von Suicide spielten Sie bereits auf der „Devils & Dust“-Tour von 2005. Warum haben Sie gerade diesen Song noch einmal ausgegraben?

Es war einer der Suicide-Songs, die ich immer verehrt habe. Auf der „Devils & Dust“-Tour entschloss ich mich, selbst einen Versuch zu wagen. Ich fragte mich:“Wie würde Roy Orbison diesen Song anpacken?“ Von diesem Punkt aus ergab sich eine Verbindung zu meinem eigenen Werk. Roys Musik war einerseits Mainstream, hatte andererseits aber diesen beunruhigenden Unterton -eine Mischung, die David Lynch auch in seinen Filmen herausarbeitet.

Ron Aniello, Ihr Produzent, hat reichlich Streicher und Drum-Loops verwendet. Der minimalistischere Sound von „The Rising“ und „Magic“ scheint der Vergangenheit anzugehören.

Was sicher auf die unterschiedlichen Produzenten zurückzuführen ist. Das Soundbild von Brendan O’Brien war ungemein dicht. Er brachte diese neue Dringlichkeit in den Sound -genau danach haben wir gesucht. Mit dem Versuch, unser Material selbst zu produzieren, waren wir in den Achtzigern noch erfolgreich. In den Neunzigern hatten wir aber die Intensität verloren. Wir brauchten Unterstützung von Leuten, die mit neuen Technologien vertraut waren. Als Ron zu uns stieß, brachte er eine große Sound-Palette mit, die er äußerst kreativ einsetzen kann. „Working On A Dream“ (von O’Brien produziert -Anm. d. Red.) war vielleicht unsere größte Produktion, während wir auf „Wrecking Ball“ (von Aniello produziert) eine Menge Loops und ähnlicher Elemente benutzten, die ich in diesem Umfang noch nicht verwendet hatte.

Sie haben große Teile des Albums unterwegs auf Tournee aufgenommen -was früher unvorstellbar war.

Ja, früher musste alles so gehandhabt werden, wie ich es aus meiner Kindheit gewohnt war: Die Erbsen lagen auf der einen Seite des Tellers, die Möhren auf der anderen. Und man durfte sie in Gottes Namen nicht vermischen. Das war auch meine Einstellung, was das Studio betraf. Auf Tournee ging man grundsätzlich nicht ins Studio. Dafür hatte man nicht die Energie, oder aber der Terminplan war bereits voll. Diesmal aber gingen wir auf Tour und spürten das Kribbeln. Es gab mehrere Songs, an denen ich arbeitete -plötzlich tat sich eine Möglichkeit auf, sie zu Ende zu bringen. Ich wollte gleich im Studio an ihnen arbeiten.

Werden Sie Tom Morello anbieten, ständiges Mitglied in der E Street Band zu werden?

Im Moment spielen wir nur zusammen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Wir haben einen Überschuss an großartigen Gitarristen. Steve Van Zandt, der arme Kerl, hat kaum noch etwas zu tun, weil ich eine Menge Soli an mich reiße. Steve war immer ein fabelhafter Gitarrist, und Nils ist ein Typ, der ebenfalls alle Register ziehen kann. Tom bringt seine eigene Art auf der Gitarre ein und ist eine unschätzbare Ergänzung. Wir könnten mit dem gegenwärtigen Spektrum nicht glücklicher sein.

In den letzten Jahren haben Sie Luxus-Editionen von „Darkness On The Edge Of Town“ und „Born To Run“ zusammengestellt. Werden Sie noch weitere Ihrer Alben überarbeiten?

Im Moment schauen wir uns ein „River“-Projekt an, das nach dem gleichen Strickmuster wie „Darkness“ aufgebaut würde. Es hängt davon ab, was für Material vorhanden ist und wie viel wir brauchen. Bei „Darkness“ konnten wir einiges veröffentlichen, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen war. Ich suche stets nach einem Kontext, um Sachen zu veröffentlichen: Was könnte für die Fans zu einem bestimmten Zeitpunkt interessant sein, was drängt sich aus meiner Perspektive auf?

Schreiben Sie noch immer an Ihren Memoiren?

Ich habe ein paar Dinge geschrieben, angefangen bei einem kleinen Essay über den Super Bowl, den wir dann online stellten. Aber ein Buch würde ich es noch nicht nennen wollen.

Sie erwähnten ein paar neue Songs, die Sie vor „Wrecking Ball“ schrieben. Könnte es sein, dass Sie sich noch mal intensiver mit diesen Songs beschäftigen werden?

Das waren ein paar ausgewählte Lieder, die sich als Solo-Songs anboten. Genau genommen arbeite ich momentan sogar an diesem Album.

Heißt das, dass dieses Material Ihr nächstes Album sein wird?

Weiß ich noch nicht. (lacht) In unserem Gespräch ist das der einzige Punkt, wo ich mir noch kein abschließendes Urteil gebildet habe.

Zwischen 1995 und 2002 haben Sie eine siebenjährige Studiopause eingelegt. Nun sieht es so aus, als würde es wieder schneller vorangehen. Woher kommt die neue Produktivität?

Es ist die alte Geschichte von dem entgegenkommenden Zug, von dessen Lichtern man geblendet wird.

Sie sehen einen Zug, der auf Sie zurast?

Sie nicht? Wie alt sind Sie denn?

Ich bin 32.

Oh. (lacht) Sie sehen ihn vielleicht jetzt noch nicht, aber glauben Sie mir: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er kommen wird.

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