Der Gandalf vom Knüllwald

Juli 2008 Er lebt in einem überwucherten Hexenhaus, sieht aus wie ein Hippie und gilt als Sprachgenie: Ulrich Holbein schreibt Bücher, Essays, Lexika, Aufzählungen, Philosophie- und Religionswerke für ein Dutzend Verlage. Ein Besuch bei einem erstaunlichen Mann.

Er hatte mich gewarnt, man finde ihn nicht so leicht. Mein No-Name-Navigationsgerät kennt denn auch die Straße nicht, in der er angeblich wohnt. Glücklicherweise ist gerade die Postfrau unterwegs. Mit dem Auto, weil sie ein paar nordhessische Bonsai-Dörfer gleichzeitig beliefern muss, und dazwischen liegen die pittoresken kleinen, aber fürs gelbe Fahrrad dann wohl doch zu steilen Hügel des Knüllwalds. „Ulrich Holbein?“ Ja, den kennt sie und beschreibt mir den Weg ortsauswärts in ein Wäldchen. Und weil sie ahnt, dass ich weitere Hilfe benötigen werde, hängt sie noch an: „Ich komme da auch gleich hin!“

Und tatsächlich stehe ich direkt vor dem Grundstück, gegenüber eine Pferdekoppel mit drei zahmen Mustangs, die gleich zu mir herüberbummeln und ihre langen Hälse interessiert und streichelaffin über den Elektrozaun strecken, und sehe trotzdem das Haus des Künstlers vor lauter Bäumen nicht. Aber da fährt auch schon die Frau im Post-Kombi heran, die mir die Schneise in den verwunschenen Dschungel zeigt und den 40 Meter langen Pfad „durch lichtfleckdurchperlte Gartenwildnis“, die Holbein in seiner Auto-Homestory „Knüll-Idylle“ aus intimer Kenntnis und botanisch beschlagen so beschrieben hat: „Die Schneeball- oder Knallerbsenbüsche zur Linken, am Ufer des unbegradigt fließenden Wildbachs; rechts Erlen, Krautpolster, Korkenzieherweiden, in denen sich überall Moosbettchen, Blumennester, Wasserläufe, Grotten und Brünnlein“ verstecken. Erst kurz davor gewahrt man das „Hexenhäusel, praktisch nicht mehr sichtbar unter Generationen von Knöterich, wildem Wein und Efeu, die den Dachgiebel in eine weißblühende, walmdachähnliche Riesentraube hüllen“. Die Haustür steht offen, sodass man in den düsteren, dielenartigen Vorraum sehen kann. „Herr Holbein“, ruft die nette Postillionin laut. Er kommt aus der Küche, begrüßt sie und sieht mich dann auch. „Ah, hallo, hast du deine Freundin mitgebracht?“

Das ist der Waldschrat in ihm, der sich auch optisch deutlich zu erkennen gibt, in den dicken Trauerrändern unter den Fingernägeln, in den Blüten- und Blättertupfen, die das lange, schwarze, strähnig fransende Haupt- und Barthaar absichtslos dekorieren. Physiognomisch wirkt Holbein wie ein Hybrid aus Rasputin, Gandalf und Catweazle, angetan im weiten schwarzen Mantel, barfuß in Jesus-Latschen. Für die Paisley-Weste, die ich von diversen Buchmessen an ihm kenne, ist es heute offenbar zu warm. Ein freundlicher Hippie, ein Sixties-Slacker, eine menschliche Lavalampe, dessen leise Stimme in sanftem Singsang dahinfließt. Wenn er spricht, tänzelt er vor und zurück, um einen herum, umschwirrt einen wie eine honigtrunkene Biene. Er wirkt ein bisschen zugedröhnt, obwohl er intellektuell voll da ist und ungemein beweglich. Von Drogen, das erfahre ich später, hält er sich denn auch schon eine Weile fern, eher notgedrungen, weil ihm ein fünfzigstündiger Hor-rortrip Mitte der 90er-Jahre mit fiesen Flashbacks noch Jahre später den Spaß verdorben hat. Er sehnt sich nach dem ozeanischen Gefühl, fürchtet aber zu sehr, dass die psychedelische Falltür noch einmal aufgehen könnte.

Er nimmt mich erst mal mit in eine niedrige, dunkle, etwas moderig duftende Wohnküche, die man für das Set eines historischen Milieufilms halten könnte: Bauernleben um 1870 – wenn Herd und Fernseher nicht wären und der Schriftsteller nicht überall seine Häufchen hinterlassen hätte. Auf den Fensterbänken stapeln sich Bücher, auf dem Tisch liegen ein Dutzend „Spiegel“-Nummern und diverse Zeitungsausschnitte, vor der Tür zum Bad türmt sich ein halbmannshoher Stapel aus Verlagsprospekten. Nach einem kleinen Spaziergang den Hügel hinauf, an den das Haus sich lehnt, zum kleinen Bach und wieder zurück steigen wir eine Treppe höher in die Arbeitsräume. Und hier herrscht, wie fast schon erwartet, verteilt auf fünf klitzekleine Alkoven, ein beinahe messiehaftes, bibliomanisches Chaos. Als ich ihn darauf anspreche, sagt er grinsend: „Wenn man alle Symptome eines Messies zeigt, dann ist man wohl einer, oder?“

Holbein hat sich eingesponnen in Büchern, Papieren, Zeichnungen, Zeitungen und Magazinen, Alben, Zettelkästen, Ablagen mit weiteren Notizen und Materialien und noch mehr Büchern. Sie stehen halbwegs sortiert in übervollen Regalen, teilweise zweireihig, liegen scheinbar achtlos auf Haufen, stehen zu Türmchen drapiert an noch freien Wandplätzchen, sind längs und quer und übereinander geschichtet, um jeden Quadratzentimeter im Bord auszunutzen und vollzumachen. In der Mitte des Hauptarbeitszimmers steht ein mit Papieren überwucherter Schreibtisch mit PC.

Holbein lebt in der Wildnis. Dieser florale und papierene Wildwuchs um ihn herum ist in gewisser Weise vergleichbar mit Kurt Schwitters und dessen MERZ-Bauten – sichtbare Signatur für das weit rankende, wild mäandernde, ins Kraut schießende, von einem einzelnen Leser kaum zu durchdringende Prosawerk, das hier seit den 90er-Jahren entsteht. Es umfasst den kulturkritischen, meinungsstarken, aber nie bigotten, stets ironisch verspielten Essay, die literarische Collage, gern auch in Dialogform, und die autobiografische Erzählung. Seine Texte bestechen vor allem durch seine immer mal wieder mit Jean Paul oder Arno Schmidt verglichene Sprachkreativität, seinen Wortwitz, seine stupende, enzyklopädische, gern auch abseitige Wissensquellen anzapfende Belesenheit und seine exzessive Zitat- und Anspielungskunst, die in „Isis entschleiert“ (2000) gipfelt, einem „Roman“, der völlig aus Zitaten besteht.

Und es erstaunt, was alles seine Aufmerksamkeit beanspruchen kann. Er schreibt über arabische Sprichworte und ihre gegenwärtige politische Aussagekraft, über den Niedergang des Klospruchs, über Onanie als Akt der Weltrettung, über Probleme des Vegetarismus, über verschiedene Typen von Rauschmittel-Usern, über psychedelische Entrückungen in der Weltliteratur, über seine ganz persönlichen Erfahrungen mit Pornofilmen, über den Bonobo-Affen und dessen überlegene Technik des Aggressionsabbaus qua Dauersex, die „schöne Seuche“ Nostalgie, er persifliert eine typische Begründungsschrift zur Kriegsdienstverweigerung, erzählt Anekdoten von seinen Morgenlandfahrten, von epiphanischen Klogängen im ICE oder seiner grandios asozialen Nachbarfamilie Laabs, er gibt Tipps zur Geniewerdung, wettert gegen die Industrialisierung, predigt „elf grüne Gebote“ – und immer wieder kommt er auf die alternative Hippie-Weltgeschichte zu sprechen.

Ein einzelner Verlag ist mit seinem gewaltigen und thematisch so heterogenen Output offensichtlich überfordert. Er hat bei Kastell angefangen zu publizieren, dann ein paar Jahre Suhrkamp beliefert, ist später bei Eichborn, Elfenbein, Yedermann, Nachtschatten, immer mal wieder zwischendurch bei Werner Piepers Grüner Kraft gelandet, und in diesem Jahr kommen gleich zwei Folianten heraus, wieder bei anderen Verlagen: gerade eben gesammelte Werke unter dem Titel „Welt Verschönerung“ (Haffmans bei Zweitausendeins) und im Herbst sein lange geplantes „Narratorium“ (Ammann), ein 900-seitiges Lexikon der heiligen Narren. Holbein erschreibt sich hier die mehrere tausendjährige Traditionslinie seiner Geistesverwandten: Apostaten, Freaks, „Humpelpilger“, Sektenführer, Spiritualisten, Weltverbesserer, Großmystiker, Sufi-Heilige, Drogenesser und ganz simpel Bekloppte.

„Die Register, die ich ziehe“, erzählt er bei einem Glas Apfelsaft – für Bier ist es uns beiden noch zu früh -, „sind offenbar so unvereinbar, dass das bisher keinem unter einen Hut passt. Bei Zeitschriften ist das noch extremer: Einmal hatte ich absolut zeitgleich je einen Text in, Merkur‘,, Esotera‘,, Penthouse‘ und als Clou im ‚Katholischen Soldatenkalender‘. Das hat noch nie ein und dasselbe Gehirn geschafft. Bei den Verlagen gibt’s die zwei Hauptschienen: Hochkultur, Stichwort Suhrkamp, und Subkultur, Stichwort Piepwerner. Außer mir gibt es sicher nur wenige oder fast keinen, der mit Stand- und Spielbein völlig gerecht verteilt in höchster Hochkultur wie in buntester Subkultur steht und gründelt. Optisch oder phänotypisch bin ich sichtlich als Freak und Althippie unterwegs, selbst auf silbergrauen LSD-Kongressen in Basel ein reinhauender Farbtupfer, aber spirituell verachte ich jegliche Pop Music samt Jazz.“

Das wird dann auch ein Running Gag an diesem Nachmittag: Enervierend häufig hält er mir meine fehlenden Klassik-Kenntnisse vor, versucht ständig, mich zu missionieren, Mahler, Brahms et cetera gegen Pop auszuspielen, der dagegen ja nur geistferne, nichtswürdige Industriemusik sei – nicht zuletzt „Ihr Heavy Metal da. Ich höre das alles als Dandy mit Adorno-Ohren und stecke ausschließlich in Ligeti, Schönberg, Purcell, lasse auch Popliteratur gern links liegen und lese fast nur spießigen Bildungsscheiß. Aber unter Kronleuchtern in Konzertsälen falle ich erst recht als absoluter Fremdkörper auf.“

Aber warum hat ausgerechnet ein Bildungsfex wie er kein Abitur? „Das ist wundersam paradox: Germanisten schreiben Magister- und Doktorarbeiten über mich, ich aber darf, mangels kleinem Latinum, nicht Germanistik studieren. Ich bin restlos einseitig begabt. In Malen stets Eins, in Chemie stets Sechs. In VWL schrieb ich vier Sechsen hintereinander und dann eine erlösende Fünf minus. Ich habe ein Schultrauma bis heute, flüchte aus geschlossenen Räumen nach zehn Minuten. Dichterlesungen sind Horror pur, weil ich dann selber Frontalunterricht geben muss. Hab aber schon Audimaxe mit 2000 Leuten zu Lachsalven gebracht.“

Dass es manchmal den Anschein hat, seine forcierte Bildungshuberei resultiere nicht zuletzt aus dem Minderwertigkeitskomplex, an den offiziellen Bildungsinstituten versagt zu haben, was das hoch gelehrte Werk aber sowas von vergessen machen soll, erzähle ich ihm besser nicht, weil er es sofort als Trivialpsychologie abtun würde. Und vielleicht ja auch zu Recht. Holbeins Werk ist berückend, oft komisch und anregend sowieso, hat aber bisweilen auch etwas Hyper-Amplifiziertes, das den Zugang nicht immer einfach macht. „Er erstickt an aufgeblähtem Wissen, an überdrehter Geschwätzigkeit, an aufdringlichem Als-ob-Gehabe“, schimpft einer seiner Verächter und muss sich schütteln ob „all dieser Ichbezogenheit, Nonsens-Dialoge, Fachlexikon-Partikel, sauber platzierten Werbespots, halbfertigen Sätze, Kraftausdrücke“. Gar nicht schlecht beobachtet, und gerade das ist es ja, was der Holbein-Addict an ihm schätzt.

„Dass ich zitierfreudige Literaturliteratur produziere, dieses Gerücht habe ich mir zwar zeitweise selber eingebrockt – aber das war bei mir nur eine Phase, auf die mich viele noch festlegen, obwohl ich 1996 gelobte: Nie wieder Zitate! Nur noch Romane! Daran habe ich mich sogar gehalten und bringe jetzt nur noch pralles Leben.“

Als ich ihn ungläubig ansehe, hebt er in gespielter Empörung beide Hände zum Himmel. „Deshalb unterhalt ich mich ja mit Ihnen, damit Sie Vorkämpfer meines Imagewandels werden und erkennen, dass es sich bei, Weltverschönerung‘ und, Narratorium‘ um Erzählwerke handelt. Falls darin trotzdem noch Infofülle, Materialdichte und so weiter vorkommen – und ich fürchte: sogar 0,9 Prozent Zitate -, so heißt das überhaupt nicht, dass das wesenhaft zu mir gehört. Ab Heiligabend 2008 bin ich dann sauber und zitiere überhaupt nichts mehr.“

Meinem Einwand, er erzähle selten Geschichten im herkömmlichen Sinne, seine Texte seien nicht plotorientiert, sondern eher reflexiv und vor allem auf der sprachlichen Oberfläche ein Ereignis, widerspricht er vehement. „Reflektieren tue ich am wenigsten … Ich denke praktisch nie, schon allein deshalb nicht, weil ich dann genauso schmalspurig und untriftig danebenläge wie all die Reflekteure, die nie formulieren. Lieber voll in die Tasten greifen statt denken! Kommt mehr dabei heraus. Jetzt aber mal ein bisschen andere Register ziehen, sonst taue ich nicht richtig auf.“

Also frage ich ihn nach dem Produktionsprozess. Was braucht er, damit der Wortgenerator rund läuft? Er hat ja gelegentlich über Drogen geschrieben – auch unter dem Einfluss von Drogen? „Aber lieber Herr Schäfer, das ist keine andere Ebene! Wenn die Leut‘ nicht wissen, als was für ein Extremunikum ich um was für wahnwitzige Inhalte kreise, dann ist ihnen a priori auch wurscht, ob ich dabei Kaffee trinke oder narrativ vorgehe. Trink ich übrigens nicht. Neulich bewirtete ich mal meinen PC-Reparateur mit Muckefuck; der weigerte sich aber ihn zu trinken, nur weil Petersilie drauf schwamm und – doch halt, wir wollen ja nicht erzählen, sondern meinen, Produktionsprozess‘ erforschen. Der ist selbst mir egal, ich nehm ihn bloß in Kauf, weil er dazugehört, wie Petersilie zum Cappuccino, und auch als Wort ist er mir so widerlich wie ‚Bedürfnisbefriedigung‘, weil der Terminus mich zur Maschine machen möchte, die hinten Drogen einwirft und vorn Essays ausspuckt. Oder vorn Drogen und hinten Essays?“

Und wie steht es mit den Hilfsmitteln Wörterbücher, Lexika, Zettelkästen? „Ich brauche auch keine Zettelkästen. Ich brauche bloß Stille – meine einzige Droge. Ich hab‘ zwar 6000 Dateien in 60 Ordnern, auch Fächer; besonders das Fach, Uneinsortierbar‘ quillt sinnlos über; zudem circa 30 Kilogramm unausgebeutete Reisezettel und zwei Doppelzentner Kladden, hab‘ aber keine Zeit, sie zu entziffern. Also, um trotzdem brav zu antworten – wisse, o Frank: Es ist alles nur das Hirn, was das macht. Wenn du, statt nach Inhalten, nach Sortiersystemen und Stimulanzien fragst, fragst du Lichtenberg nach den Krücken, mit denen er irgendwelche Fremdkörper und Buckel, die ihm völlig fernliegen, abstützt. Hab natürlich trotzdem viele Lexika, aber keinen Duden, keine Synonymlexika, keine Lesebrille, sondern Lexikon des Dunklen, Lexikon der Löschmittel und Öko-Irrtümer. Sogar mein Hirn ist mir wurscht und als Zugabe mein Geist, und ich bin mir wurscht; ich benutze mich nur, damit was beim Schreiben herauskommt.“

Wir haben unseren Apfelsaft ausgetrunken, und jetzt zeigt er mir erst mal die anderen Räume, versucht einen Eindruck von der verborgenen Ordnung seiner Bibliothek zu vermitteln. Hier stehen die Philosophen, da die persischen Mystiker, da ist ein Haufen von geschätzt hundert Büchern, die er unbedingt demnächst mal lesen muss, das ist der Bereich Subkultur, auf der Erde liegt ein Haufen mit Werken zur Futurologie – Vorarbeiten zum „Weltroman“, einem seiner vielen Projekte, an denen er mehr oder weniger gleichzeitig tüftelt. In diesem will er die Geschichte der Welt erzählen, „20 Milliarden Jahre in 1001 Minuten“, also auch noch die nächsten paar Milliarden Jahre zukünftiger Erdgeschichte.

Immer wieder zieht er im Vorbeigehen einen Band heraus, erzählt eine Anekdote von diesem Tantra-Yogi, dem man bisher nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt habe, oder jenem völlig vernachlässigten persischen Sufi-Mystiker aus dem 13. Jahrhundert. „Maulana Dschelaluddin Rumi, großartig …“

Wir gehen hinüber ins „China-Zimmer“, das vollgestellt ist mit autobiografischem Material, chronologisch sortiert in bemalten und mit sprechenden Fotos beklebten „Jahreskisten“, mit Dutzenden Notizbüchern und ebenfalls nach Jahrgängen geordneten, nachträglich gebundenen Briefkonvoluten. Man ist überwältigt von der Egomanie Holbeins, der offenbar keine einzige Selbstäußerung wegschmeißen kann. Und er schlägt ein paar DIN-A4-Sudelbücher auf, die Seiten vollgeschrieben mit Tinte, ohne große Streichungen, ein nicht abreißender Wortstrom – aber bevor ich etwas lesen kann, schlägt er sie wieder zu. Er schreibe heute völlig anders. Als wir den kleinen Rundgang beendet haben, komme ich noch einmal auf die Drogen zurück. Er hat in einem Essay mal schön dokumentiert, wie Jean Paul, Novalis, Paul Scheerbart und andere entsprechend disponierte Sprachbildner mit bloßem Hopfenmalz ästhetisch relevante Rauschprosa generiert haben, während etwa Aldous Huxley oder Ernst Jünger durchaus stärkerer Stoff zur Verfügung stand, ohne dabei zu nennenswerten Ergebnissen zu kommen. Ich frage ihn, ob ihm die Drogenesserei wie auch immer literarisch genützt habe. „Eine meiner Nähkästchen-Dateien heißt, Chronologie meiner vollkommensten Augenblicke, Aha-Erlebnisse, perfektesten Momente, metaphysischsten Träume, schönsten Erleuchtungen, Ekstasen und Drogentrips, seltsamsten Zustände‘: Darin sammle ich sowohl drogeninduzierte wie auch spontane, drogenfreie Kleinodien. Manche kommen leider nur alle drei Jahre oder seltener. Sehr intim, aber irgendwann, wenn ich mal Zeit habe, mache ich sicher ein Buch draus. Titel:, Doktor Ekstaticus‘. Da steht dann a bisserl mehr drin als in Ernst Jüngers ‚Annäherungen‘.“ Auf seinen ersten Trip ging er denn auch schon mit drei Jahren.

„Bei einer Polypen-OP. Eine Äther-Vollnarkose, aber ich bekam trotzdem alles mit. Meine früheste Erinnerung ist das Gefühl kosmischer Entgrenzung. Realität kam erst später. Als Nichtraucher ging Haschisch sehr an mir vorbei, sodass ich also viel im Leben verpasst habe, leider. Dafür beschert mir bereits ein Fingerhut Bier Weltumarmungswonnen, auf die normale Trunkenbolde jahrelang warten müssen, lebenslang. An hochprozentige Halluzinogene wagte ich mich erst im Alter, als Spätzünder, spät Entjungferter, sprang auch sehr drauf an, mit dem alles bestimmenden Grundgefühl: Das kenn ich irgendwoher, dieser Zustand ist mir vertraut wie nichts, meine wahre Heimat, in die ich nun endlich zurückkehre. Aber objektiv konnte ich es absolut nicht kennen, genau wie ich nirgendwo von einem Trommelfeuer von Déjà-vus derart überprasselt wurde wie in den ersten 30 Minuten Indien. Ich bin also, obwohl von einem ADAC-Mitglied, Kranführerscheinbesitzer und Speckschneiderpatentinhaber gezeugt, konstitutionell – scheint mir -Mystiker oder was, Karma-Cola-Morgenlandfahrer.“

Holbein bezeichnet sich als Buddhist, ist aber keiner von der strikten Observanz, sondern eher einer dieser komischen Heiligen, denen er sich auch in seinem „Narratorium“ widmet (und er setzt sich darin ja auch als „Uliversum Unwiederholbein, Zuspätromantiker, Öko-Dandy, Müslimystiker, Sufiloge, Daologe, Waldbold, Knüll-Idylliker, Möchtegernromancier, Polysoph“ kaum camoufliert ein Denkmal). Man hat manchmal den Eindruck, als wenn auch die Religionsphilosophie ihm nur weiteren Stoff liefert, um ihn nach seiner Weise witzig-poetisch verwursten zu können. Oder ist da mehr dran?

„Uff, jetzt geht’s ja doch noch ans Eingemachte. Wenn ich mich vor drei Minuten beiläufig Buddhist nannte, dann bin ich’s wohl auch jetzt noch. Andererseits könnte ich als Philosoph durchaus ein Buch schreiben des Titels, Zermalmung sämtlicher Weltanschaungen‘ – leider auch solcher Ismen, mit denen ich sympathisiere. Also, dem Klassenziel einer leidfreieren Welt sind Buddha und Marx auch nicht grad näher gerückt. Statt dass Nirwana und Reich der Freiheit nahe herbeigekommen wären, strotzt die Welt von Turbokapitalismus und Bevölkerungsexplosion. Sagen wir’s mal so: Religion würd ich mir ja gern gefallen lassen, wenn sie ein bisschen höher hinge. Nix gegen Ethik, aber ich höre lieber Gustav Mahler, falls dir so ein Fremdwort irgendwas sagt. Musik würde sich noch ganz anders anhören, wenn ich musikalischer wär! Kunst könnte so schön sein, wenn sie dreimal schöner wär!“

Musik wäre noch schöner, wenn er musikalischer wäre? Wenn er also neben schreiben und zeichnen auch noch musizierte? Spricht da jetzt nur seine leicht verzeihliche, aber doch irgendwie unbuddhistische Ehrpusseligkeit – oder hält er sich wirklich für ein Genie? „Da muss ich Sie sofort wieder siezen. Denn das ist eine nicht sehr geniale Frage für absolut Ungeniale. Dieser totale Fehlschluss liegt ja auch sehr nahe, wenn man mal guckt, was sonst so rumläuft. Den landesüblichen Durchschnittsgenies fühl‘ ich mich jedenfalls Lichtjahre weit überlegen, aber wenn die alle einem Denkschema auf den Leim gehen, wieso ich dann nicht? Also kehrtmarsch: Bis heut rauf ich mir die Frisur, dass ich unfähig bin, Cello zu spielen – schon mal gehört, Violoncello? Also bin ich keins. Ich halte es ethisch für wichtig, kein Genie zu sein. Da fällt mir ein: Genies erkennt man laut Lehrbuch an ihren, innovativen Ideen‘: Ich schreibe zumindest just einen Tabellenroman – das gab’s noch nie!“

Immerhin ging er ziemlich lange einer ganz ungenialischen bürgerlichen Beschäftigung nach, arbeitete bis Mitte 30 als Krankenpfleger oder Sozialpädagoge. „Ich kam auf diese Welt, um Menschen und Leuten zu helfen – selbstlos! Zeitweise halt als Hilfspfleger auf Intensivstationen für herzkranke Frühgeburten, Kindergärtner, Eheberater oder Verkuppler, respektive um Leute zu erheitern, zum Beispiel durch dicke, nervige, Hirnsausen verursachende Bücher. Nix da Spätzünder, das hegt alles auf derselben Linie … Als Schöngeist und Weltgeist leiste ich Sozialarbeit, ethischen Dienst an Frau und Mann und Tier. Nicht, dass ich zum Zitieren neigen würde, aber einer meiner 288 heiligen Narren sagte:, Selbst Engel wärmen sich an meinen Versen!‘ Stammt von Hafiz, der Vers.“

Während er mich den „Ho-Chi-Minh-Weg“ hinauf zum Auto begleitet, bedauert er noch ein letztes Mal meinen unerträglichen Musikgeschmack. Neulich habe die Komponistin Viera Janárceková, die hier mit ihm lebt und arbeitet, am Blüthner-Pianoforte den Zuhörern Tränen entlockt, was selbst „tauben Steinen und Pop-Ohren“ wie mir passiert wäre.

Ich wechsle das Thema und komme auf die Schattenseiten in seinem Knüll-Arkadien zu sprechen – etwa die fehlende Zentralheizung. Aber er schüttelt den Kopf. Er heize auch im Winter nur, wenn Besuch da sei, weil er davon Kopfschmerzen bekomme. Er sitzt dann eben im Wintermantel am PC – und macht sich höchstens mal eine Wärmflasche gegen die Nierenschmerzen. Da gebe es deutlich schlimmere Heimsuchungen: Frau Laabs, die schreckliche Nachbarin. Die zeigte sich neulich entgegenkommend, als sie ihren Hahn mit der Axt enthauptete, weil Holbein sich über das ununterbrochene Krähen beschwert hatte.

Diese irdische Perfidie hat seiner fortgeschrittenen Elevation und sukzessiven Buddhaisierung erst mal einen Dämpfer verpasst.

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