Der Glücksstratege

The Killers ruhen sich aus, doch Brandon Flowers hat andere Pläne. Das Solo-Debüt des Sängers soll die Menschen aufrichten. Und tanzen dürfen sie auch.

The Killers machen eine Pause – doch der Sänger macht nicht mit. Seine Kreativität benötigte keine Auszeit, und Brandon Flowers hatte keine Lust, mit den Aufnahmen der neuen Songs zu warten, bis seine Band wieder soweit ist. So entstand „Flamingo“, sein Solo-Debüt. Ein guter Anlass, um in Erfahrung zu bringen, wie es passieren konnte, dass sich dieser auf den ersten Blick unscheinbare Mann zu einem der größten Popstars der Gegenwart entwickelte – und zu einem unvermuteten Geistesverwandten des deutschen Rambazamba-Sängers Mickie Krause.

Der Vulgär-Unterhalter interpretiert in seiner Ballermann-Show unvermutet den Killers-Song „Human“ – und das sieht dann so aus: Krause legt seine rechte Hand auf die Brust, um den Worten der Strophe Bedeutung zu verleihen. Plötzlich: Pathos statt Party. Das aufgeheizte Publikum staunt nicht schlecht, denn es ist gekommen, um zu feiern – und nicht, um innezuhalten. Doch die Erlösung wird kurz danach gekonnt eingeleitet: Ein stampfender Beat startet, immer gerade auf die Eins, der simpelste aller Rhythmen. Der Sänger klatscht und will die Hände sehen, das Publikum folgt ihm. Es johlt. Es hüpft. Einige fotografieren mit ihren Handys, wie der Sänger wie im Wahn die Augen aufreißt. Dann brüllt er: „Wo seid ihr?“ Reißerische Rhetorik. Das Publikum johlt lauter, hüpft höher. Das ist der Höhepunkt, dann kommt der Refrain: „Are we human? Or are we dancer?“ Die grammatikalische Fragwürdigkeit der zweiten Frage fällt im Raum nicht weiter auf, alle singen mit. Am lautesten wird es bei der Stelle „And I’m on my knees/Looking for the answer.“ Junge Männer im Publikum nehmen das wörtlich, knien sich trotz der beängstigenden Enge auf den Boden und schauen der braungebrannten Blondine nebenan erst flehend in die Augen – und dann lüstern sonst wo hin. Wie die Antwort des Mädchens letztlich ausfallen wird, hängt davon ab, wie viel Alkohol noch fließen wird.

Um sicher zu gehen, dass alle es mitbekommen, wiederholt Krause den Refrain einfach noch einmal. Nach einer Minute ist der Spaß vorbei. Die zweite Strophe spart sich der Sänger, denn sein Motto lautet „Hit auf Hit, keine unnötigen Längen“. Die nächste Nummer heißt „Jan Pillemann Otze“. Das Publikum johlt, hüpft und singt: „Jan Pillemann otze/Pillemann otze Arsch/Er konnte feiern ohne Schlaf.“

The Killers sind also auf Mallorca angekommen. Das kommt davon, wenn man Singles veröffentlicht, zu denen man auch Discofox tanzen kann. 99 Prozent der Leute, die das Debüt „Hot Fuss“ sehr mochten und „Mr. Brightside“ für einen der größten Indie-Rock-Songs des Nuller-Jahrzents halten, finden das ganz schlimm. Jeder Party-DJ oder Alleinunterhalter wird dagegen hellhörig, wenn ein Song im lupenreinen Vierviertel-Takt oben in den Hitparaden steht. Plötzlich taucht der Song dann auf der Setlist von Mickie Krause oder auf einer der vielen Mallorca-Party-Compilations auf.

In dieser Hinsicht sind The Killers in ganz guter Gesellschaft: Marina & The Diamonds sind mit „Hollywood“ Teil der balearischen Sausen, Mika und die Pet Shop Boys gleich mit diversen Songs. Bleiben wir kurz bei den Pet Shop Boys. Bei denen empört sich natürlich keiner darüber, dass der Mallorca-Mob zu ihren Liedern feiert. Im Gegenteil, der schlaue Musikjournalist und Fan begeistert sich für die Dialektik der Herren Tennant und Lowe, und dass bei den jüngsten Konzerten Hipster und Hüttenpartygänger bei „Go West“ gemeinsam in einer Halle eine gute Zeit hatten, wird bewundernd zur Kenntnis genommen: Die Pet Shop Boys, das ist und bleibt die große Samstagabendshow der Popmusik. The Killers dagegen, das sind die Jungs, über die früher auf Arte berichtet wurde und die jetzt im Fernsehgarten auftreten.

Nun kennt Brandon Flowers die deutsche Fernsehlandschaft nicht, und auch Mickie Krause ist ihm kein Begriff. Dass The Killers spätestens seit der Single „Human“ ein Imageproblem in der Szene haben, in der sie groß und größer geworden sind, weiß er ganz genau. „Es gibt Leute, die finden, ich würde mit meinen Songs nicht genügend darauf achten, eine gewisse Massenkompatibilität auszuschließen“, sagt er an einem heißen Frühsommertag in der heruntergekühlten Suite eines teuren Design-Hotels in Manhattan. Er ist in der Stadt, um mit Journalisten aus aller Welt über sein erstes Solo-Album „Flamingo“ zu sprechen, und ein Satz wie dieser ist typisch für eine Antwort von Brandon Flowers: kurz, knapp – aber doch nicht ohne Aussage. Er verzichtet häufig darauf, eine eigene Meinung kundzutun. Er sagt, was er wahrnimmt. Aber er bewertet es nur ungern.

So kommt es, dass einige der ehemals Wohlgesinnten (unter ihnen viele Journalisten, die „Hot Fuss“ damals lobten) Flo wers nicht nur als mittlerweile musikalisch zweifelhaft, sondern auch als faden Typen kategorisieren. Um in der Sprache der Apostel des „Personal Brandings“ zu sprechen, die behaupten, dass erfolgreiche Stars heute zwingend eine Marke sein müssen: Wo liegt das Alleinstellungsmerkmal dieses Menschen? Wie ist es Brandon Flowers gelungen, seine Band The Killers mit drei Alben und 13 Millionen verkauften Platten in die Liga der Größten zu führen?

Bei den meisten Kollegen von da oben fällt die Antwort leichter. Chris Martin heiratete Hollywood; Bono rettet die Welt. Springsteen spricht für die Ehrlichen; Neil Tennant und Chris Lowe sind Clever & Smart. Und Flowers? Kommt aus der Fassadenstadt Las Vegas, beginnt jeden Tag mit einem Gebet, schaut sich im Flugzeug auf dem Laptop mormonische Erhellungsfilmchen an und ärgert sich später darüber, ständig in das bunte Promiblättchen der Sitznachbarin gelinst zu haben. Eine Anekdote, die Flowers wie ein glucksender Teenager erzählt, der eine aufregende Busreise mit versteckten Bierdosen und heimlichen Küssen hinter sich hat – und die außerdem die Frage aufwirft, warum ein internationaler Popstar wie er im Flugzeug überhaupt eine Sitznachbarin hat.

Um Flowers näher zu kommen, ist ein Abstecher nach Las Vegas unverzichtbar. Dieser Ort ist wichtig; den zentralen Song seines Soloalbums hat er „Welcome To Fabulous Las Vegas“ genannt, stumpf nach der Aufschrift auf dem Leuchtschild, das jeden begrüßt, der über den Las Vegas Strip in die Glitzerwelt des „Diamanten mitten in der Mojave-Wüste“ (O-Ton Flowers) eintaucht. Gesungen hat er ihn zusammen mit Jenny Lewis von Rilo Kiley, auch eine Tochter der Stadt. Und man muss sich immer vor Augen halten: Brandon Flowers hat wirklich seine Kindheit und Jugend in Las Vegas verbracht.

Er hat dort mit seiner Familie gelebt; man vergisst ja mitunter, dass auch eine Stadt wie diese nicht ohne Menschen existieren kann, die dort ein alltägliches Leben haben und die ganze notwendige Arbeit verrichten, um die Fassade leuchtend zu halten. Seine Familie war Teil der gesunden Mittelschicht, die heute überall wegzubrechen droht. „Nicht reich, nicht arm, abgesichert und glücklich“, sagt der Sohn. Die frühesten Kindheitserinnerungen des kleinen Brandon sind die ganz besonderen Abende, wenn Verwandte aus anderen Städten der Vereinigten Staaten zu den Flowers‘ nach Las Vegas kamen. „Wir wohnten außerhalb des Zentrums, und wenn wir abends aus dem Haus schauten, glühten die Neonlichter am Horizont wie ein Ufo. Dieses farbenfrohe Element der Stadt fand ich schon als kleiner Junge hinreißend und anziehend.“

Mit den aufgeregten Onkels und skeptischen Tanten ging es dann in Richtung der Hotels und Casinos. „Ich war als Kind ungemein stolz darauf, dass meine Stadt so etwas Großartiges zu bieten hatte. Ohne es überhaupt wissen zu können, war ich mir doch sicher, dass dieses Szenario von Las Vegas auf der Welt einzigartig war. Dafür reichte schon ein Blick in die Augen derjenigen, die zum ersten Mal den Strip entlangfuhren.“

Wie fast alle Teenager der Stadt jobbte Flowers später in diversen Hotels als Page oder Junge für alles. „Das Geld, das ich dort verdiente, fühlte sich für mich anders an. Es glitzerte. Es machte mich stolz. Es waren die ersten Dollars, die ich in einer Umgebung verdiente, in der die Menschen Spaß hatten. Das war ein ungemein gutes Gefühl, und ich konnte mir schon damals nicht vorstellen, als Erwachsener mein Geld in einer Fabrik oder in einem Büro zu verdienen.“

Die Stadt Las Vegas war es, die den Entertainer Brandon Flowers formte. Den Indie-Rocker erschuf zur gleichen Zeit das Collegeradio. „Ich hörte als Teenager jeden Tag unglaublich viel Musik und saugte sie auf“, erinnert er sich. Besonderes Gehör fanden die Songs aus Manchester, Großbritannien: New Order, The Smiths, The Stone Roses. Die großen Namen halt, doch – wir sind hier Amerika – die historische und soziale Komponente dieser Lieder aus Nordengland ging irgendwo über dem Atlantik verloren. „Ich liebte ihre Lieder, weil sie catchy waren“, sagt Flowers. „Dass man als Hörer dieser Bands neben den Spaß an der Musik auch einen Ziegelstein an Erwartungen mitzutragen hatte, wusste ich lange Zeit überhaupt nicht.“

Der Ziegelstein ist ein schönes Bild. Mitte der 90er-Jahre war die Indie-Szene noch strenger als heute. Sie kämpfte noch gegen das „anything goes“, und es war üblich, dass neuen Hörern dieser großen Bands zusätzlich einiges abverlangt wurde. Wer die Texte Morrisseys mochte und mitsang, hatte mindestens McDonald’s zu meiden, wenn nicht sogar jeglichen fleischlichen Genuss. Und er hatte seinen musikalischen Konsum so sehr einzuengen, dass keine Bands aus einem der vielen Feindesländer eindringen konnte. Kein Heavy Metal! Kein Plastikpop! Und auch nur Selektiertes aus der Vergangenheit! Nur in einem solchen Klima konnte der Begriff der „guilty pleasures“ entstehen. Doch ein Mann aus Las Vegas sieht gar nicht ein, warum Vergnügen etwas mit Schuld zu tun haben sollte. „Ich begriff diese Logik nicht – und das tue ich bis heute nicht. Wenn ich nach, Meat Is Murder‘, Wild Boys‘ von Duran Duran hören möchte, dann mache ich das. Und ich fühlte und fühle mich kein bisschen schuldig dabei.“

Später, als Sänger bei den Killers, spielte Brandon Flowers mit den Erwartungen. Die Band coverte Cyndi Laupers „Girls Just Wanna Have Fun“ oder „Romeo & Juliet“ von den Dire Straits. Nicht überdreht wie eine junge Punkrockgruppe, aber auch nicht listig zitierend wie eine Band, die beweisen will, dass sie ihre Lektion der Postmoderne gelernt hat. The Killers spielten diese Songs so selbstverständlich wie später auch „Shadowplay“ von Joy Divison. „Das sind alles gute Lieder“, sagt Flowers. „Sie gefallen mir, und sie gefallen dem Publikum. Warum sollte ich uns allen dieses Vergnügen vorenthalten?“ Sicher nicht, weil ein paar Leute denken, dass man das nicht dürfe! Und wenn irgendwo unter der heißen Sonne Mallorcas ein alberner und dummdreister Insel-Entertainer das Lied „Human“ für eine Horde junger und vom Alkohol betäubter Menschen singt, dann soll er das doch auch bitte tun. Brandon Flowers ist nicht der Mann, der anderen in die vergnügliche Suppe spuckt. Wäre er so ein Typ, er hätte es wohl nicht so lange in Las Vegas ausgehalten – und würde heute mit „Welcome To Fabulous Las Vegas“ nicht eine so überschwengliche Hymne auf diese Stadt singen.

Dass dieses Stück mit neun anderen neuen Flowers-Songs auf einem Album mit dem Signet Brandon Flowers statt The Killers erscheinen, hat eindeutig nichts mit der Musik zu tun. Flowers macht als Songwriter und Sänger auf „Flamingo“ (benannt nach dem berühmten Hotel und Casino in Las Vegas; die Platte wurde aber nicht vom Tourismusbüro der Stadt gefördert, versichert der Künstler glaubhaft) nichts wesentlich anders als auf den drei Killers-Alben. Klar, die drei Mitmusiker fehlen, worauf Flowers und seine drei Produzenten Stuart Price, Daniel Lanois und Brendan O’Brien – Flowers: „Jetzt habe ich sie alle im Adressbuch, was nur von Vorteil sein kann“ – einigen Songs mehr Luft zum Atmen ließen. Wenn sie genug Klasse haben, tut ihnen das sehr gut, allen voran „From Nogales To Magdalena“, das auch Leuten gefallen wird, die Warren Zevon mögen. Tun Sie Flowers den Gefallen und haben Sie keine Berührungsängste.

Im Laufe des Gesprächs bittet der frischgebackene Solokünstler übrigens ungefragt mehrmals darum, das Erscheinen dieses Albums nicht als Killers-Krise fehl zu deuten. „Ich genieße die volle Unterstützung der drei anderen“, sagt Flowers und klingt wie ein Fußballspieler, der unverhofft einen Stammplatz bekommen und verdiente Kollegen auf die Bank verwiesen hat. Wobei Flowers den drei anderen in diesem Fall keine andere Wahl ließ, denn als Gitarrist Dave Keuning, Bassis Mark Stoermer und Schlagzeuger Ronnie Vannucci Jr. nach der ewig langen Tour zum Album „Day & Age“ um eine Auszeit baten, sagte Flowers, ohne groß zu überlegen: Okay – aber ohne mich.

Seine Erklärung: „Ich verstehe die Motivation der Band. Aber sie muss respektieren, dass ich deshalb nicht aufhören kann, Lieder zu schreiben, sie zu veröffentlichen und sie live zu spielen.“ Brandon Flowers setzt mit „Flamingo“ also einfach seine Arbeit fort. „Es wäre mir eine Freude gewesen, diese Lieder mit den Killers einzuspielen. Auf die Band zu warten und die Songs daher monatelang liegen zu lassen, kam für mich aber nicht in Frage.“

Auch das von Bassist Stoermer vorgeschlagene Modell, es den Beatles gleich zu tun und auf Tourneen zugunsten regelmäßiger und konzentrierter Albumaufnahmen zu verzichten, kam für Flowers gar nicht in Frage. „Ich möchte live spielen. Es ist ein wichtiger Teil meines Jobs.“ Er zählt drei Gründe auf: „Erstens bereitet es mir Vergnügen. Zweitens verdienen wir Musiker heute unser Geld auf der Bühne und nicht mehr im Plattenladen. Und drittens möchte ich kein Musiker sein, der sich in Studio-Experimenten verstrickt. Bei mir ist Zugänglichkeit ein Teil der Strategie.“

Das könnte es sein, das Alleinstellungsmerkmal. Wo uns Bono rettet, reißt Brandon uns mit. „Das ist die Aufgabe meiner Songs“, stimmt er zu. „Darum beginnen meine Texte zumeist mit Zweifeln und finden dann am Ende die Erlösung. Diese Geschichten haben die Aufgabe, beim Hörer ein positives Gefühl entstehen zu lassen. Ihn aufzurichten, anzuspornen.“ In dieser Hinsicht war Flowers schon immer viel mehr von den traditionellen und oft spirituellen Country- und Gospel-Songs Amerikas geprägt als vom britischen Indie-Rock. „Andere Themen, so spannend sie auch sind, haben bei mir einfach keine Chance. Ich interessiere mich natürlich für die sozialen und politischen Probleme. Aber ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich darüber singen sollte. Ein Song über die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko? Ein wichtiges Thema, aber wie sollte ich darüber schreiben?“

Es gab im Vorfeld der Aufnahmen zu „Flamingo“ einen wichtigen Dialog, an den sich Flowers noch gut erinnern kann. Er spielte Brendan O’Brien das neue Stück „Crossfire“ vor, das dieser produzieren sollte. Flowers hielt viel von diesem Lied, er wollte es in den besten Händen wissen und sah es als erste Single des Albums. O’Brien hörte sich die Demoversion an, fand das musikalische Thema gut, mochte die erste Strophe – und stutzte beim Refrain. Er sagte: „Brandon, das ist schön und gut. Der Song geht ins Ohr, aber warum lässt du mich beim Chorus alleine zurück. Warum nimmst du mich nicht mit?“ Flowers verstand sofort: „Ich hatte versucht, einen Refrain in einer anderen Tonlage und mit einer anderen Melodieführung zu schreiben“, erinnert er sich. „Doch dadurch fehlte dem Song die Wirkung. Es fehlte der Effekt, den sich die Leute bei meiner Musik erhoffen. Und den ich ihnen geben möchte.“

Er passte „Crossfire“ an, und nun ist der Song tatsächlich die erste Single. Zwar wird Mickie Krause „Crossfire“ wohl eher nicht in El Arenal singen, dafür fehlt der finale Wumms. Aber man muss ja auch nicht so weit gehen, das Auftauchen eines Songs auf dessen Setlist als Gütesiegel für mitreißende Popsongs zu betrachten.

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