Der Links-Gelehrte

In Cannes hat er gerade die Goldene Palme bekommen, in England vergleichen sie ihn mit Leni Riefenstahl: ein Besuch beim großen roten Filmregisseur Ken Loach

Ein kleines Missgeschick überlebt man doch, aber fast wäre der größte Moment in der Karriere des Fümregisseurs Ken Loach auch sein allerschlimmster geworden. Es war Ende Mai 2006, beim Festival in Cannes. Eben hatte Emanuelle Beart verlesen, dass die Jury Loach für seinen 19. Kinofilm „The Wind That Shakes The Barley“ die Goldene Palme verliehen hatte – seine erste, obwohl er in den letzten 40 Jahren praktisch alles mehrfach gewonnen hat, was in Europa so an Filmpreisen herumsteht. „Sie überreichte mir die Palme, wir gaben uns Küsschen“, erzählt Loach, „und da bemerkte ich, dass ich auf ihrem Kleid stand. Wenn ich den Fuß nicht sofort weggezogen hätte, wären wir beide umgefallen. Es wäre die Katastrophe gewesen.“

Loach hat schlimmere Stürze überstanden, aber so ist das halt mit einem wie ihm: Vom britischen Fernsehen radikal zensiert zu werden – wie 1981, als Channel Four seine Dokumentation über den Stahlarbeiterstreik unter Vorwänden aus dem Programm strich -, gilt mehr als Beweis dafür, dass ein politischer Regisseur alles richtig gemacht hat. Aber auf den Brettern von Cannes zappelnd am Busen einer französischen Schönheit zu Hegen: Das hätten nur die anderen lustig gefunden.

In England hat Loach für „The Wind That Shakes The Barley“ (trotz einer Million Kinobesucher) wieder ausgiebig Dresche gekriegt. „Warum hasst Ken Loach sein Land so sehr?“ druckte die „Daily Mail“ über das Siegerfoto, und die „Times“ schrieb, im Vergleich mit Loach könne man Leni Riefenstahl noch zugute halten, dass sie von nichts gewusst habe. „Barley“ zeigt, wie sich im Irland der 20er Jahre eine Gruppe junger Arbeiter der IRA anschließt und gegen die britischen Besatzer kämpft. Zu einseitig, zu anti-britisch, kritisierten die Kritiker. Interessanterweise schrieb keiner, Loach würde lügen.

Die Palme steht jedenfalls auf dem Kaminsims, im Büro seiner Produktionsfirma „Sixteen Films“, geschätzte 50 Quadratmeter in der Wardour Street in London-Soho. „Das ist nicht zum Angeben“, entschuldigt Loach vorauseilend, „ich wusste bloß nicht, wo ich sie sonst hinstellen soll.“ So viel Stress kann einem 70-Jährigen nicht gut tun. Eben hat er nervenzehrende Dreharbeiten für den nächsten Film beendet, am Abend vorher waren noch die „British Independent Film Awards“, wieder ein „Special Jury Prize“ für ihn, der ihn mehr zu beleidigen als zu freuen scheint. Der dünne, alte Mann im Jeanshemd ist wahnsinnig müde, gleichzeitig rattern schon wieder die Rädchen im Kopf. Er nimmt die Brille ab, zaust sich die weißen Haare. Und erklärt einem den Kommunismus.

Die Vorwürfe gegen „The Wind That Shakes The Barley“ treffen ja schon deshalb nicht, weil sich der Film für die britischen Invasoren gar nicht groß interessiert. Loachs eigentliches Thema – irgendwie findet man es in allen seinen Werken – ist der Riss, der unerwartet durch die Reihen der irischen Revolutionäre geht. Der kritische Punkt, an dem die linke Front zerbricht, an dem Volks-Rebellen in die Verantwortung rutschen und plötzlich die Ideen kompromittieren, für die sie fast gestorben wären. Im Film werden die Brüder Damien und Teddy von Guerilla-Kumpanen zu Gegnern, als Teddy sich mit einem halbgaren Friedensvertrag zufrieden gibt, Damien aber weiterkämpfen will. Dass Teddy am Ende Damiens Hinrichtung anordnet, klingt auf dem Papier bestialisch, aber so sind griechische Tragödien. „Teddy war bereit, im Kampf für seine Überzeugung andere Männer zu erschießen“, sagt Loach, „warum sollte er seinen Bruder verschonen? Ein schreckliches Dilemma. Es macht ihn nicht böse. Es macht ihn kaputt.“

Loach gönnt seinen Figuren selten mehr Spaß als den flüchtigen Becher Tee auf der Baustelle oder einen Tanz mit Anfassen beim Gewerkschaftsball. Die besten Filme, das Schwarzarbeiter-Drama“Riff Raff oder die Putzkolonnen-Revolte „Bread And Roses“, sind trotzdem komisch, und sein Ruf als verbissener Agitprop-Genosse kommt paradoxerweise auch daher, dass er die Dinge lieber komplizierter macht als schwarz-weiß-kariert. Die Arbeit am Obdachlosen-Film „Cathy Come Home“ habe ihn 1966 vom Sozialdemokraten zum Sozialisten gemacht, sagt Loach, denn da habe er begriffen, dass Filme die Welt nicht verändern können. „Was der Arzt über das menschliche Skelett denkt, ändert sich nicht, auch wenn die Menschen sich ändern. Es macht keinen Unterschied, ob die Berliner Mauer fällt: Die Prinzipien der kapitalistischen Gesellschaft sind noch dieselben wie vor 40 Jahren.“ Die Diskussionen ebenfalls.

Den Filmen sieht man es heute allerdings nicht mehr so an, dass Ken Loach auch beim Drehen aufs System gepfiffen hat. Produzenten waren schockiert, als er Laien und Stand-up-Komiker für tragende Rollen castete, weil er nicht wollte, dass das Publikum Gesichter wiedererkennt. Er hielt die Handlung vor den Schauspielern geheim, um ihre überraschten Reaktionen zu filmen. Und überreizte das Experiment, als er den Schulkindern in „Kes“ echte Stockschläge verpassen ließ und der Hauptdarstellerin von „Family Life“ verbot, sich vor Drehschluss die Haare zu waschen.

Noch heute filmt er alle Szenen chronologisch, gibt Drehbücher nur häppchenweise aus, damit keiner weiß, wie die Geschichte ausgeht. Manche höhnen, dass Loach sich die Tricks alle sparen könnte, wenn er nur mal richtige, berühmte Schauspieler engagieren würde. Geht nicht, sagt Loach. „Dann wird es ein anderer Film. Die Art, wie man einen solchen Film macht, wird wohl oder übel die Aussage unterhöhlen, die man mit ihm treffen will.“ Als ihm 1967 für „Poor Cow“ der Star Terence Stamp aufgezwungen wurde, brachte der gegen Loachs Weisung seinen Wohnwagen mit ans Set. Am nächsten Tag musste auch die junge Hauptdarstellerin Carol White einen haben. Einen noch größeren als Stamp.

Am Schluss von „The Wind That Shakes The Barley“ schreibt der todgeweihte Damien seinen Abschiedsbrief: „Es ist leicht zu sagen, wogegen man ist. Aber es ist schwer zu sagen, wofür.“ Ein nachträgliches Motto für Ken Loachs Werk?

„Ich hoffe nicht“, sagt er mit mattem Entsetzen. „Meine Haltung war seit den Sechzigern immer klar. Allerdings: Wenn Menschen spontan auf die Barrikaden gehen, wissen sie meistens nur, wogegen sie sind. Aus diesen Menschen Leute zu machen, die für etwas kämpfen – das ist meiner Meinung nach die eigentliche Daseinsberechtigung von Politik.“ Vielleicht träumt Ken Loach nachts ja manchmal doch davon, dass Filme das auch können.

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