Die 100 besten Musiker aller Zeiten: Die Essays. Platz 100 bis 91

ROLLING STONE präsentiert: Die 100 größten Musiker und Bands aller Zeiten. Essays u.a. von David Bowie, Tom Petty, Jay-Z, Elvis Costello

Rund 50 Jahre, nachdem Elvis in den Sun-Studios „That’s all Right“ einspielte, hat ROLLING STONE das erste halbe Jahrhundert des Rock’n’Roll im großen Stil gefeiert. Wir baten ein Gremium aus 55 Musikern, Autoren und Plattenfirmen-Managern, die einflussreichsten Musiker dieser Ära auszuwählen. Die Liste der 100 Musiker ist ein Beitrag zur Rock-Historie, umfasst die Beatles ebenso wie Eminem. Sie reicht vom Rock-Pionier Chuck Berry bis zu Blues-Mann Howlin’ Wolf.

Die Essays über die 100 Besten stammen aus prominenter Feder: Ezra Koenig von Vampire Weekend zollt dem Rapper Jay-Z Tribut. Britney Spears verneigt sich vor „Godmother“ Madonna. Rock’n’Roll hat eine glorreiche Vergangenheit.

Lesen Sie hier, die Plätze 100 – 91.

Talking Heads Live In New YorkNEW YORK – JANUARY 01: David Byrne and Chris Frantz (drums) and Tina Weymouth (bass) from Talking Heads perform live on stage in New York in 1977 (Photo by Richard E. Aaron/Redferns) jw100. Talking Heads

Von Dave Sitek

Ich wuchs mit Hardcore-Punk auf, und Hardcore kennt nun mal keine Kompromisse. Die Talking Heads waren die erste Band, die in unseren Augen Gnade fand. Der erste Song, den ich wirklich mochte, war „Once In A Lifetime“. MTV hatte gerade angefangen, seine Tentakel in unser Leben auszustrecken, und dieser Song schien die Hymne der vollgekoksten Erwachsenen zu sein, die noch irgendwie einen Sinn in ihr Leben zu bringen versuchten. „Remain In Light“ war zum Teil Ambient, hatte aber beeindruckende Lyrics und unglaublich einfallsreiche Percussion- und Bass-Parts.

Wenn man bei einer Talking Heads-Aufnahme der Bass-Melodie folgt, glaubt man zu wissen, in welche Richtung sich der Track entwickelt. Und dann hört man die Drums und stellt fest, dass sie sich in eine ganz andere Richtung bewegen. Und dann hört man David Byrnes Lyrics und denkt sich: „Das ist ja wieder ein völlig anderer Song.“ Und dann kommt die Gitarre – und plötzlich verschmelzen mehrere Songs zu einem. Ich vermute fast, dass sie auch Brian Eno, ihren Produzenten, wie ein Instrument einsetzten.

Ich wuchs in einer kleinen Stadt namens Columbia in Maryland auf. Es war ein Ort, der am Reißbrett entworfen wurde, mit künstlichen Seen und allem Drum und Dran. David Byrnes Eltern lebten dort für eine Weile. Die Stadt hatte diese Fassade, die zu signalisieren schien: Alles hier ist solide und unter Kontrolle, alles ist für die Ewigkeit gebaut – obwohl die Stadt tatsächlich artifiziell war. Byrnes Texte beschäftigten sich mit dieser Künstlichkeit des amerikanischen Lebens. Der amerikanische Traum hat eine Menge unschöner Sackgassen, und Byrnes Texte gaben mir das Gefühl, dass jemand über Dinge sprach, die ich am eigenen Körper erfahren hatte.

Ich denke, es ist die Aufgabe eines Künstlers, die Zeit, in der er lebt, zu reflektieren. Und die Talking Heads taten genau das. Wie die meisten Leute folge ich emotional und spirituell keinem Grundschema, und insofern sprachen mich Talking-Heads-Platten auch auf verschiedenen Ebenen an. Aber „Remain In Light“ und „Fear Of Music“ thematisierten Konstanten des modernen Lebens, die auch heute noch relevant sind.

carlperkins.jpgCarl PerkinsAlbumcover „Honky Tonk Babe“, Rajon99. Carl Perkins

Von Tom Petty

Seine Songs werden uns alle überleben. Auf Tracks wie „Blue Suede Shoes“ und „Honey Don’t“ übernahm er das traditionelle Country-Picking, übersetzte es aber in Rock’n’Roll. Und diese Innovationen auf der Gitarre werden bleiben: Wer Rock’n’Roll aus den Fifties spielen will, spielt entweder Chuck Berry – oder er spielt Carl Perkins.

Angesichts seiner Bedeutung für die Entwicklung der Rockmusik ist es erstaunlich, wie wenige Leute ihn wirklich kennen. Aber immerhin kannten ihn die wichtigen. Die Beatles nahmen fünf seiner Songs auf. Carl war so echt, wie man nur echt sein konnte – ein Rockabilly-Cat, wie er im Buche steht. Er erzählte mir, dass er noch Baumwolle gepflückt hat und den Blues von einem alten schwarzen Feldarbeiter lernte. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, übte er Country-Sachen wie Roy Acuff auf der Gitarre, um dann aber die Noten zu dehnen – so wie er es vom Blues gelernt hatte. Er muss seinen Vater damit wohl auf die Palme getrieben haben. „Spiel die Sachen vernünftig, Junge“, habe er ihm gesagt, „oder spiel sie gar nicht.“ Aber für Carl war es eine organische Entwicklung, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Er ging mit seiner Musik in die Honkytonks – und das waren noch richtige Honkytonks, wo das Bier aus großen Krügen getrunken wurde.

Als „Blue Suede Shoes“ gerade ein Hit zu werden schien und Carl in die „Ed Sullivan Show“ eingeladen wurde, hatte er einen schweren Autounfall auf dem Weg ins Studio. Elvis coverte den Song und schöpfte die Sahne ab. Viele Leute wissen auch nicht, dass er zehn Jahre lang mit Johnny Cash auf Tour spielte. Irgendwann in den Sechzigern hatte er dann ein Alkoholproblem und stellte die Gitarre zeitweise zur Seite, kam zum Glück aber doch aus seinem Loch wieder heraus.

Carls Witz und Wärme schlugen sich auch in seiner Musik nieder. Er war nicht der Typ, der sich selbst auf die Schulter klopfte. Als wir in den Neunzigern mal mehrere Konzerte im Fillmore spielten, überredete ich ihn, einmal mit uns auf die Bühne zu kommen. Vor dem Gig war er furchtbar aufgeregt: „Die Leute werden gar nicht wissen, wer ich bin.“ Ich sagte ihm: „Carl, sie werden dich lieben.“ Und als er dann auf der Bühne stand, blies er sie alle weg.

Photo of Curtis MayfieldUNSPECIFIED – CIRCA 1970: Photo of Curtis Mayfield Photo by Michael Ochs Archives/Getty ImagesIM98. Curtis Mayfield

Von Boz Scaggs

Wer in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern den magischen Ort auf dem Mittelwellenradio besuchte, wo die wundervollen Rhythmen und Sounds des afroamerikanischen Soul existierten, traf früher oder später auch Curtis Mayfield. Viele von uns hörten ihn zunächst als zweite Stimme hinter Jerry Butler bei den Impressions.

Später sollte er häufiger im Mittelpunkt stehen. Er sang die erste Stimme in „Gypsy Woman“. Nach der Textzeile „She danced around and round to a guitar melody“ feuert er auf seiner Gitarre eine Salve ab, die uns jahrelang nicht aus dem Ohr ging. Wer „Little Wing“ von Jimi Hendrix hört, kann erahnen, dass auch Hendrix gut zugehört haben muss.

Aber es war vor allem seine Stimme, die lichte Höhen erreichte. Sie brannte mit der Hingabe eines Bluessängers und einer fast femininen Sehnsucht, entschlossen und sensibel zugleich. Vor allem Frauen fühlten sich von diesem Sentiment instinktiv angezogen. Wenn er „The Wonder Of You“ sang, war sein Einfühlungsvermögen, seine Leidenschaft mit Händen greifbar. Was anfangs ein Appell mit religiösen Untertönen war – get on board, get ready, I know you can make it –, bekam im Laufe der Jahre eine soziale Komponente: Mayfield thematisierte die Brennpunkte im Alltag der schwarzen, groflstädtischen Bevölkerung und fragte „What’s going on?“ – eine Frage, die dann auch Marvin Gaye stellen sollte. Das ganze Spektrum seines Engagements, seiner komprimierten Energie schlug sich in „Superfly“ nieder. Musikalisch war es ein Wechselbad der Gefühle: Dynamische Rhythmen, mit Bläsern und Streichern unterfüttert, wechselten mit Funk.

Er war ein packender Performer, bis er 1990 durch einen Bühnenunfall an den Rollstuhl gefesselt wurde. Ich begegnete ihm nur einmal nach einer Show in San Francisco. Er hatte ein wundervolles Lächeln und eine einnehmende Persönlichkeit – ein wahrer Mensch und Gentleman.

R.E.M._-_Nashville_3#EA5AC0[2].jpgR.E.M.R.E.M.Anton Corbijn97. R.E.M

Von Colin Meloy

Ich hörte von R.E.M. zum ersten Mal 1986, als mir mein Onkel eine Demo-Kassette einer Band aus Eugene, Oregon, gab, und am Ende dieser Kassette befand sich ein Song namens „Superman“, der so clever und catchy und witzig war, dass meine ganze bisherige Kassettenkollektion sofort in Vergessenheit geriet. Dummerweise ahnte ich damals noch nicht, dass es für einen Bewohner von Helena, Montana, Ende der Achtziger ein logistisches Problem war, Indie-Rock ins Herz zu schließen. Es war so, als hätte man im Nachkriegsengland plötzlich sein Herz für Beluga-Kaviar entdeckt.

Als „Lifes Rich Pageant“ erschien, waren R.E.M. der Mittelpunkt meines Lebens. Dann kam „Document“. Noch immer hielt sich die Fangemeinde in Helena in überschaubaren Grenzen. Genau besehen, bestand die ganze Gemeinde nur aus einer Person. Aber dann kam „Green“, die Band war inzwischen bei einem Major und spielte plötzlich in den großen Hallen – und jeder Amerikaner mit zwei Ohren und einem Radio kam an „Stand“ nicht mehr vorbei. Ich hingegen hörte auf meinem Walkman „Chronic Town“ und legte mir bei den Proben zu einer Theaterproduktion unserer Schule folgenden Dialog zurecht: „Was hörst du denn da?“, würden sie fragen. „R.E.M.“, würde ich antworten. „Aha. Das sind doch die, die ,Stand‘ spielen.“ „Ja, schon“, würde ich beiläufig sagen. „Aber der Song bedeutet mir nichts. Das hier ist von ihrer ersten EP – von 1982.“

Ich hatte alles optimal geprobt, aber leider kam der Dialog nie zustande. Ich musste zähneknirschend mitansehen, wie mir die Philister stillschweigend meine Band stahlen. Und trotzdem waren die R.E.M.-Fans, die mehr als nur die Radio-Singles kannten, noch immer dünn gesät. Die Schulzeit war eine Qual, und ich klammerte mich an meine Musik wie an einen Rettungsring: „Murmur“, „Reckoning“, selbst „Dead Letter Office“ mit seinen biergetränkten Späflchen und ausrangierten B-Seiten lieferten die dringend notwendige Feuermauer gegen die grausame, Queensrÿche und Garth Brooks hörende Welt. „When I was young and full of grace/ And spirited, a rattlesnake/ When I was young and fever fell/ My spirit? I will not tell …“ Wie unergründlich Michael Stipes Lyrics auch sein mochten: Sie formten immer in Worte, was in meinem Kopf an schmerzhaften Veränderungen vor sich ging. Ich suchte verzweifelt nach Menschen mit einem ähnlichen Horizont, aber mit jedem Schuljahr schien die Hoffnung nur noch mehr zu schwinden.

Meine ratlosen Eltern regten an, ich solle mich bei einer lokalen Theatergruppe engagieren. Ich hatte meine Zweifel, machte dann aber doch einen Versuch. Als ich die Treppen zum Eingang des Theaters emporstolperte, flog plötzlich die Tür auf – und ein Mädchen, das ich nie gesehen hatte, rauschte an mir vorbei, gekleidet in ein hauchdünnes Sommerkleid. Aber was mich wirklich elektrisierte: Sie trug ein „Fables Of The Reconstruction“-T-Shirt. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Sie lächelte mich schüchtern an und ging vorbei. Ich hatte vom Schicksal ein Zeichen bekommen.

Ein Flüchtling stolpert durch die Tür eines provenzalischen Cafés. Er hat einen langen Weg hinter sich, sein Hut und Mantel sind durchnässt. Die Einheimischen drehen sich um und starren ihn misstrauisch an. Bis hinten am letzten Tisch ein heimliches Erkennungszeichen gegeben wird. Da weiß er: Er ist an seinem Ziel. Junge, jetzt gehörst du ebenfalls zur Résistance.

DianaRossAndThe Supremes-TheUltimateCollection.jpgDiana Ross And The Supremes – The Ultimate Collection CoverDiana Ross And The Supremes – The Ultimate Collection CoverUniversal96. Diana Ross And The Supremes

Von Antonio „L.A.“ Reid

Seit fast 30 Jahren – letztlich meine ganze Karriere – suche ich nach einer neuen Diana Ross, und ich befürchte, ich habe noch eine längere Suche vor mir. Sie war hinreißend, sie war gertenschlank und hatte diese wundervollen Haare. Und vor allem: Sie hatte Glamour. Alles an ihr – das Aussehen, die Aura, ihr Verhalten – signalisierte den Star.

Die Supremes waren der Inbegriff des Motown-Sound. Man sagt, dass Diana einfach Glück gehabt habe, weil ihr all diese wundervollen Songs auf den Leib geschrieben wurden. Natürlich waren Holland-Dozier-Holland begnadete Songschreiber. Und wie wir alle wissen, waren die heimlichen Helden die Funk Brothers, Motowns Hausband. Sie nahmen diese großartigen Songs und gaben ihnen das klangliche Gesicht: „Where Did Our Love Go“, „Baby Love“, „Come See About Me“, „Stop! In The Name Of Love“, „I Hear A Symphony“. Zur damaligen Zeit dachten wohl viele Leute, es seien Fließbandprodukte, aber inzwischen wissen wir alle, dass es kleine Meisterwerke waren. Sogar die Intros waren einzigartig und besaßen ihre individuellen Hooks, die man nicht mehr aus dem Kopf bekam. Und natürlich gab es bei den Supremes noch zwei andere Sängerinnen, Mary Wilson und Florence Ballard, deren Beitrag nicht unterschätzt werden sollte.

Aber am Ende des Tages war es Dianas Stimme, bei der ich eine Gänsehaut bekam. Sie sang nicht wie Aretha Franklin, sondern war die große Stylistin, die einem Song ihren Stempel aufdrückte. Wenn sie „Where did our Love go?“ fragte, glaubte man die Verzweiflung in ihrer Stimme zu hören.

Bis zum heutigen Tag glaube ich, dass sie noch immer in die gegenwärtige Musiklandschaft passen würde. Sie ebnete den Weg für die Janet Jacksons und Madonnas dieser Welt. Noch immer bitte ich Sängerinnen im Studio, einen Song „wie Diana Ross zu singen“. Bis heute hat es noch keine geschafft.

Lynyrd_Skynyrd_LS_runner.jpg95. Lynyrd Skynyrd

Von Al Kooper

1972, als das US-Radio von progressive Rock wie Yes, Pink Floyd und Genesis überschwemmt wurde, suchte ich nach einer neuen Band, die sich auf die Kunst der drei Akkorde verstand. Und wie es der Zufall wollte, war ich vor Ort, als Lynyrd Skynyrd ihr Live-Debüt in Atlanta gaben. Als ich dann all diese großartigen Song von ihnen zu hören bekam, wusste ich, dass dies die Band war, die ich produzieren wollte.

Als ich sie näher kennenlernte, war es zunächst ihre Arbeitsmoral, die mich beeindruckte. Sie hatten in ihrer Heimat Jacksonville, Florida, einen alten Schuppen direkt am Sumpf, wo sie ununterbrochen probten und ihr Material so lange polierten, bis es glänzender Stahl wurde. Sie hatten zwar drei Gitarristen, wussten aber sehr wohl, was Selbstbeschränkung bedeutet. Und in all den Bands, mit denen ich gearbeitet habe, gab es keine besseren Arrangeure. „Sweet Home Alabama“ klingt, als hätten es gewiefte Session-Cracks mit jahrzehntelanger Erfahrung eingespielt.

Ronnie Van Zant war Lynyrd Skynyrd. Ohne den anderen Mitgliedern zu nahe treten zu wollen: Ohne ihn hätte es die Band wohl nicht gegeben. Das fing mit seinen Texten an: Wie Woody Guthrie und Merle Haggard wusste Ronnie, wie man auf den Punkt kommt. Und Ronnie kontrollierte seine Kollegen mit eiserner Hand. Ich habe nie eine Gruppe mit einer derartigen Disziplin gesehen.

Nach drei, vier Alben hatten Lynyrd Skynyrd das Etikett „Southern Rock“ abgeschüttelt und waren einfach eine der besten Rockbands der Welt. Als Ronnie bei dem furchtbaren Flug- zeugabsturz 1977 ums Leben kam, endete auch die Entwicklung der Band. Nachdem die Wunden verheilt waren, tat man sich wieder zusammen, und Ronnies jüngerer Bruder übernahm das Ruder. Man musste sich in den Arm kneifen, um ganz sicher zu sein, dass da nicht Ronnie auf der Bühne stand. Herz und Seele der Band aber waren für immer verloren.

Lollapalooza 2013 – Day 1CHICAGO, IL – AUGUST 02: (FOR EDITORIAL USE ONLY) Trent Reznor of Nine Inch Nails performs during Lollapalooza 2013 at Grant Park on August 2, 2013 in Chicago, Illinois. (Photo by Taylor Hill/FilmMagic)th94. Nine Inch Nails

Von David Bowie

Als die Götter der Kakofonie überall in der Stadt einen Wettbewerb ausschrieben und die Rohlinge des Industrial Rock aufforderten, sich um die Noise-Krone zu prügeln, war der kleine Junge mit der Tuba wohl der letzte Kandidat, den sie im Auge hatten. Er hieß Michael Trent Reznor, spielte auch Saxofon und Klavier und hatte in frühen Jahren gelernt, wie man sich ein Mischpult dienstbar macht. Er hatte ein ungeheures Debütalbum namens „Pretty Hate Machine“ produziert, das er – aufgrund vertraglicher Verpflichtungen – drei Jahre lang live präsentieren musste. Es war wohl den verbliebenen melodischen Fragmenten zu verdanken, dass er seinen Industrial Rock einem Mainstream-Publikum zugänglich machen konnte und über eine Million Exemplare verkaufte.

Wie Brian Eno vor ihm, packte Reznor seinen Synthesizer aus, warf die Betriebsanleitung aber gleich in hohem Bogen weg. Als er „The Downward Spiral“ produzierte, ermutigte er seinen Computer, Input-Signale gezielt falsch zu interpretieren – und folglich planlose, unförmige Klangscherben auszuspucken, die den Hörer ständig schnitten, wenn nicht gar aufschlitzten. Diese Musik ist, gleich nach The Velvet Underground, das bestes Medium in der Rockmusik, um seine Seele nach Herzenslust auszupeitschen.

Vor Jahren hatte ich einen seltsamen Traum: Lou Reed, ich und ein Freund namens Warren Peace saßen zum Abendessen im Greenwich Village zusammen, und zwar in einem der längst verschwundenen Lokale, in denen sich Jackson Pollock mit anderen Malern zu prügeln pflegte. Unser Dinner wurde von einem Mitglied der Einstürzenden Neubauten serviert. Nach einer Weile wurde mir bewusst, dass aus den Lautsprechern eine Musik kam, die mir merkwürdig vertraut vorkam, die ich aber zu meinem Ärger nicht einordnen konnte. Blixa Bargeld, unser Kellner, beugte sich näher zu meinem Ohr und flüsterte: „Die Musik ist eine Geburtstagsüberraschung für Lou. Trent Reznor hat ,Metal Machine Music‘ eigens für Lou neu abgemischt.“ Und während er das noch sagte, flogen uns Spritzer und Kleckse aus einem von Pollocks Bildern um die Ohren. Die Musik wurde lauter, und immer mehr Farbtropfen schossen durch die Luft – bis wir fluchtartig das Café verließen, gejagt von widerlichen lila, blauen und schwarzen Schlangen, die obendrein infernalische Schreie ausstießen. Und damit ist eigentlich alles über Trents Musik gesagt.

Booker TBookter T. Jones / ?uestloveAnti93. Booker T. And The MGs

Von Isaac Hayes

Booker T. und seine MGs waren für den Southern Funk zuständig. Motown stand für den Norden und für blank polierte Produktionen, während die MGs roh und dreckig klangen. Und dieser Sound lebt auch heute noch: Immer wieder graben HipHopper MG-Material aus und verwenden es als Sample.

In den USA der sechziger Jahre existierte noch der sogenannte „Baumwoll-Vorhang“: Im Rahmen der Rassentrennung gab es in Memphis keine gemischtrassigen Bands. Auch in diesem Punkt waren die MGs ihrer Zeit voraus: Sie waren halb schwarz, halb weiß, lebten wie eine Familie zusammen und nahmen so die Veränderungen vorweg, die sich bald in der gesamten Gesellschaft niederschlagen sollten.

Die MGs machten sich einen Namen mit Instrumentals wie „Green Onions“, aber sie waren gleichzeitig auch die Hausband von Stax/Volt und bewiesen als solche eine enorme Wandlungsfähigkeit: Otis Redding hatte seinen spezifischen Sound, Sam and Dave hatten ihren, Albert King zog seine Nummer durch – aber bei allen Sessions spielten Booker T. und die MGs. Als ich meine ersten Aufnahmen für Stax machte, brachten sie mir alles bei, was ich über den Aufnahmeprozess wissen musste.

Steve Cropper und Donald „Duck“ Dunn waren die Rock’n’Roller, deckten aber genauso auch Country und Blues ab. Gitarristen neigen häufig dazu, solistisch über die Stränge zu schlagen, aber was Steve spielte, hatte Hand und Fuß. Duck war ein großartiger Bassist und obendrein unglaublich witzig. Al Jacksons Vater war schon ein Drummer gewesen, folglich hatte Al den Rhythmus im Blut. Neben seinen R&B- Grooves hatte er aber auch ein Faible für jazzige Flavors.

Booker T. zauberte aus seiner Orgel die unglaublichsten Sounds. Ich erinnere mich an einen Vorfall, als Booker versehentlich an einem Tag für zwei Konzerte gebucht worden war. Er griff sich eine andere Band und fuhr nach Kansas, während ich mit den MGs nach Harrisburg, Pennsylvania, fuhr und dort so tat, als sei ich Booker T. In der Mitte des Sets rief ein Bursche: „Hey, der Typ ist nicht Booker T.“ Aber dann beruhigte er sich wieder – und der Groove übernahm den Rest.

Guns N RosesAxl Rose of Guns N‘ Roses performs on stage at the Freddie Mercury Tribute Concert, Wembley Stadium, London, 20th April 1992. (Photo by Michael Putland/Getty Images)jr92. Guns N‘ Roses

Von Joe Perry

Keine Frage: Sie haben dem Rock’n’Roll, wie wir ihn lieben, neues Leben eingehaucht. Ich erinnere mich noch, wie mir jemand „Appetite For Destruction“ in die Hand drückte und sagte: „Das musst du hören.“ Damals waren Bands wie Bon Jovi und Whitesnake angesagt, aber Guns N’ Roses waren aus anderem Holz geschnitzt: Sie gruben etwas tiefer, um zu den Wurzeln des Rock’n’Roll zu kommen. Ich hörte viel Aerosmith bei ihnen – was bedeutete, dass ich auch viel von den Bands hörte, die uns beeinflusst hatten. Und ich erinnere mich auch, etwas neidisch gewesen zu sein.

1988 waren sie unsere Vorband, und was mich damals vor allem beeindruckte, war ihre Ausstrahlungskraft – auf und auch jenseits der Bühne. Axl wusste, wie man ein Publikum mitreißen konnte. Vor einer Show wurde alles, mit dem er in Berührung kommen konnte, mit Schaumgummi abgeklebt – vom Teleprompter bis zum Mikroständer. Man wollte sicherstellen, dass er sich nicht verletzte – oder aber es in Einzelteile zerlegte. Die Leute hatten wirklich das Gefühl, er werde gerade aus einem Käfig auf die Welt losgelassen. Und ein Teil des Kitzels bestand natürlich darin, dass man nicht wusste, was er als Nächstes anstellen würde.

Man bezeichnete sie damals als Metal, aber das waren sie nicht: Rock ist sexy, Metal nicht. Songs wie „Paradise City“ und „Welcome To The Jungle“ hatten alle notwendigen Zutaten: Die Refrains kamen an der richtigen Stelle, Slash spielte immer songdienlich und ließ sich nie dazu hinreißen, selbstgefällig seine Technik vorzuführen. Sie alle hatten es nicht nötig, mit überkandidelter Gymnastik von ihrer Musik abzulenken. Duff McKagan erinnerte mich an den AC/DC-Bassisten: Seine Parts waren vergleichsweise simpel, aber sie waren der verlässliche Motor der Band; Izzy Stradlin spielte ebenfalls eine wichtige Rolle.

Sie sind für mich ein perfektes Beispiel, wie eine Band die Rockmusik nach vorne bringen kann. Manchmal fragt man sich: „Wie kann jemand das, was die Yardbirds, Zeppelin oder die Stones gemacht haben, noch übertreffen?“ Aber dann hört man Guns N’ Roses – und gewinnt den Glauben zurück.

31st Annual ASCAP Pop Music AwardsMusician Tom Petty attends the 31st annual ASCAP Pop Music Awards at The Ray Dolby Ballroom at Hollywood & Highland Center on April 23, 2014 in Hollywood, California. (Photo by Jason LaVeris/FilmMagic)jl91. Tom Petty

Von Stevie Nicks

Ich war seit etwa einem Jahr bei Fleetwood Mac, als ich 1976 sein Debütalbum hörte. Ich liebte es, wie Toms knödelige Südstaatenstimme mit Mike Campbells Gitarre und Benmont Tenchs Keyboards verschmolz. Tom hatte die gleichen Einflüsse wie wir – die Byrds, Neil Young, Crosby, Stills & Nash –, aber er grub zusätzlich noch viel von dem ganz alten Blues aus. Er ist ein großartiger Sänger und ein charismatischer Performer. Ich war auf der Stelle ein Fan.

Als ich dann mein erstes Solo-Album „Bella Donna“ aufnahm, war mein erster Gedanke: „Wer hat Tom Petty produziert?“ Es war Jimmy Iovine, also holte ich Jimmy, weil mein Album genauso klingen sollte wie seins. Ich traf Tom wenig später im Studio, und er war genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: Er ist eine ehrliche Haut. Jimmy und Tom boten mir dann „Stop Draggin’ My Heart Around“ an, das Tom zusammen mit Campbell geschrieben hatte. Als sie mir den Song vorstellten, sagte ich: „Ist das denn eine gute Idee? Das ist der einzige von elf Songs, der nicht von mir stammt?“ Und Tom und Jimmy waren brutal ehrlich mit mir: „Du hast keine Single auf dem Album. Hier ist deine Single.“

Tom ist ein wahrer Freund, und dazu gehört auch, notfalls bittere Wahrheiten auszusprechen. 1994, ich war gerade aus dem Entzug gekommen, saß ich einmal beim Dinner mit ihm zusammen. Ich wollte ein neues Album aufnehmen, war aber verunsichert und hatte Angst. Ich fragte ihn: „Würdest du ein, zwei Songs für mich schreiben?“ Ich hatte wirklich nicht mit seiner Reaktion gerechnet, denn die war: „Nein. Werde ich nicht. Du bist eine der talentiertesten Songschreiberinnen, die es zurzeit gibt. Geh nach Hause und schalt das Radio aus. Lass dich von nichts und niemandem beeinflussen, sondern schreib einfach die großartigen Songs, die in deinem Kopf sind.“ Letztlich war er es, der Stevie Nicks wieder auf die Beine stellte.

2006 machten wir eine gemeinsame Tour. Zum Abschluss schenkte mir Tom einen Sheriffstern. Auf der Vorderseite heißt es: „Für unseren Ehren-Heartbreaker Stevie Nicks“ – und auf der Rückseite: „Für das einzige Mädchen in unserer Band.“ Ich trage ihn immer noch auf meinem schwarzen Samthut. Er ist das schönste Schmuckstück, das ich je von einem Mann bekommen habe.

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