Die Freiheit und die Gier

Burkhard Driest ist Schauspieler und Schriftsteller. Er überfiel eine Bank und bezirzte Romy Schneider im TV. Ein Gespräch mit einem, der das Leben kennt.

Burkhard Driest!

Ja, hier!

Bist du ein „Heimatvertriebener“?

Ja. Ich bin geboren in Stettin. Ich bin Flüchtling A, technisch gesprochen.

Was ist ein Flüchtling A?

Das sind die aus dem Osten – Pommern, Ostpreu-ßen, Schlesien. Flüchtling B waren jene, die aus der späteren DDR stammen. Die den längeren Weg hatten, waren A. Als wir nach Niedersachsen kamen, waren die Flüchtlinge A die Schlechten und etwas weniger willkommen als die B-linge. Die Niedersachsen mochten gar keine Flüchtlinge, denn es gab nicht genügend Wohnraum, und die Flüchtlinge wurden zwangseingewiesen. Das führte zu harten Konflikten. Der Hauswirt in der Steingasse Nr. 2, wo wir eingewiesen waren, lief mit einer glühenden Kohlenzange hinter meiner Schwester her, um sie aus dem Keller zu treiben.

Gab es das Gefühl der Zurückweisung? Gibt es Eindrücke, die dich heute noch begleiten?

Bei „Eindrücke der Zurückweisung“ fällt mir sofort mein Vater ein, wie er mich verprügelte. Das ist Zurückweisung im Schlimmsten! Es gibt auch Leute, die sehen das als einen sehr reibungsvollen Kontakt. Ich habe es als Zurückweisung empfunden. Zudem gab es alle möglichen Schlägereien, das war damals an der Tagesordnung. Wenn ich heute durch die Städte gehe, finde ich, dass es sicheres Terrain ist. Auch wenn ich lese, dass es Ausländergruppen gibt oder Jugendgangs in Kreuzberg. Damals war das Alltag. Man ging in eine Kneipe, und es gab eine Schlägerei.

Während du das sagst, lächelst du!

Hm.

Hast du das auch gemocht?

Nein. Ich mochte immer eine freundliche Stimmung. Ich liebe Menschen, die ihre Liebe zeigen können. Schon immer. Das hat mich angewärmt. Das habe ich sicherlich von meiner Mutter, die immer strahlend war, gutgelaunt. Was auch eine Kehrseite hat, denn sie hat mich so nicht an Zustände von Trauer oder an unangenehme Gefühle gewöhnt. Meine Mutter strahlte das alles weg. Ich habe meine Mutter sehr geliebt, und alles, was meiner Mutter ähnlich und nah war. Dieses Strahlen, Gastfreundschaft, Großzügigkeit, Toleranz, Lässigkeit, Lebensfröhlichkeit, das alles habe ich geliebt. Auch heute noch.

Hat deine Mutter dein Frauenbild beeinflusst?

Ja. In meinem Unter- oder Unbewussten gibt es Reizpunkte oder Reizstrukturen – blonde Locken vielleicht, auch Verhaltensmuster, auf die ich sehr positiv reagiere. Die Frau, mit der ich zuletzt 16 Jahre zusammen war, hatte blonde Locken, sie hatte etwa die Figur meiner Mutter und viel von ihrer Art. Es war unmöglich, die Liebe, die über Reizstrukturen in mir angelegt war oder angelegt ist, nicht auf sie zu projizieren. Ein Problem von mir bestand 16 Jahre lang darin, dass ich, im Bild gesprochen, etwas an den Händen hatte, immer an den Händen hatte, einen Klebstoff Liebe, den ich nicht abkriegen konnte, auch wenn es von meiner Frau oder mir gewünscht war. Diese schablonenhafte Gleichheit mit meiner Mutter betraf Verhalten, Wesensart und Aussehen.

Du warst ein guter Schüler.

Ich war ein guter Schüler, ja.

Die Mutter war stolz.

Ich habe sie nie stolz erlebt, nicht auf sich, nicht auf mich. Stolz hat Unterscheidung zur Voraussetzung, aber meine Mutter unterschied nicht, sie sah das Menschliche in allen. Es sind alles Menschen, sagte sie. Meine Schulleistungen waren ihr gleichgültig. Sie wollte nur keinen Ärger. Sie hat gesagt, mach, was du willst, aber bring mir keinen Ärger ins Haus. Das war damals neu. Heute ist das Laissez-faire gang und gäbe. Es heißt: Kinder brauchen Freiheit. Man gewährt den Kindern Freiheit und guckt einfach nicht hin. Man will nur keinen Ärger. Das war nicht mein Erziehungsgrundsatz.

Warum?

Das lehne ich ab, weil ich denke, dass ein harmonisches Zusammenleben auf einen klares „Verkehrssystem“ aus moralischen und sittlichen Wegweisern angewiesen ist. Das klingt vielleicht verwunderlich, wenn ich das sage, aber es ist meine Erfahrung. Ich denke, jemand, der nicht angeleitet wird, wie er mit seinen Emotionen, Wünschen und Leidenschaften umgehen und wie er seine Energien lenken soll, lebt im Dschungel des seelischen Zufalls. Das ist immer noch tiernah. Aber wir sollten nicht von unserem Stammhirn gesteuert werden. Sittliche Richtlinien, geistige Konzentration und Einsicht müssen wir jedoch lernen und üben, wie ein Sportler seine Muskeln und Fähigkeiten trainiert. Späte Einsicht bei mir, ich gebe es zu. Von meinen Eltern hätte ich es lernen müssen, wie ich mich im Alltag hätte verhalten sollen, um mir und anderen ein Segen zu sein. Ich aber kam aus dem größten und heftigsten europäischen Krieg statt aus einem Trainingscamp für moralische und sittliche Übungen.

Den ersten Satz, den ich je von dir gehört habe, war ein moralischer. Das war dieses legendäre Gespräch mit Romy Schneider im Fernsehen. Da hast du dich sehr selbstkritisch mit deiner Vergangenheit auseinandergesetzt. Sehr moralisch. Konkurrierten diese Kräfte bei dir? Einerseits die Kraft, die dich bis zu einem Banküberfall gebracht hat, andererseits die Kraft, sich damit sehr kritisch auseinanderzusetzen?

Ja. Die eine Seite ist die Leidenschaftlichkeit. Dafür benutze ich in diesem Gespräch mal einen festen Terminus – ushotoku. Sie spielte in meinem Leben eine große Rolle. Ushotoku ist ein Begriff aus dem Zen, das ist der Dämon – das Wünschen, das Begehren, das gierige Suchen, die Illusionen, der Wechsel der Launen, die Unbeständigkeit. Ushotoku verkörpert die Krankheit des Ego. Diese Seite bringen wir – je nach Charakter – schon mit. Die andere Seite ist der Verstand und das Bewusstsein, mit dem wir unser Verhalten steuern. Um aber richtige und schnelle Entscheidungen treffen zu können, brauchen wir ein Regelsystem, eben einen sittlichen Normenkatalog. Mit all dem habe ich mich immer auseinandergesetzt, weil ich gut leben wollte. Das hieß für mich: mit mir in Liebe und mit anderen in Liebe. Das war nicht so häufig der Fall, weil ich mich nicht auskannte. Aber das war meine Sehnsucht. Ich hatte daher immer starkes Interesse an Philosophie, die die Frage beantworten könnte: Wie soll ich leben? Allerdings habe ich alle „Regeln“ stets an meiner Erfahrung gemessen. Natürlich halte ich nichts von theoretischen Lehren, die sich nicht in der Praxis erweisen.

Aber wie kam es zu dem Überfall? Du warst ein guter Schüler in Göttingen, dann Student.

Hm.

Jura.

Hm.

Warum geht jemand, der eine liebende Mutter hat, intelligent ist und gut in der Schule, plötzlich in eine Bank und sagt: „Hände hoch“?

Ich war damals äußerst rebellisch. Ich spürte schon den Protest der Studentenbewegung in mir. Die schwere Strafe des Gerichtes wurde mir auch zuteil, weil im Gerichtssaal, der voll von Studenten war, die Unterstellung mitschwang, dass ich in politischen Gruppen verankert bin. Ich hatte Kontakt zu verschiedenen Bewegungen, aber bestimmend war meine aufrührerische Stimmung. Ich war empört. Empörung und Rebellion war der Geist, der mich antrieb, nicht der Marxismus, denn weder in der Schule wurde Marx gelehrt, noch lag „Das Kapital“ zu Hause rum. Mein Vater war ein frühes Mitglied in der SA, nicht in der KPD. Ich hatte also keine Anleitung zu revolutionärem Tun, ich hatte meine Empörung. Sie wurde nicht gestaltet, sondern eher gespeist und gefüttert von Filmen, populärer Musik, Romanen und anderem Zeugs, in dem es ein Wegweisersystem, wie ich es vorhin ansprach, nicht gab. Die Empörung war auch getragen von hormonellen Wechseln, denn ich war ein sehr physischer Typ. Ich hatte eine starke und vitale Körperlichkeit. Ich musste mich immer bewegen, konnte schwer stillsitzen, allein daraus ergab sich schon Aufmuckerei. Die Lehrer, die ja gerade aus dem Dritten Reich entlassen waren, konnten damit nicht flexibel umgehen, es gab Klassenbucheintragungen und Schulverweise. Dagegen stand so etwas wie Hochhuths Theaterstück, das im KZ spielt und mich zu Tränen rührte wegen der leidenden Frauen und Kinder.

In meiner Aufsässigkeit und Unausgeglichenheit ergab sich daraus ein Impuls gegen die kapitalistische Wirtschaft, die ja in den KZs produzieren ließ. Meine Aggressivität gegen die herrschende Ökonomie wuchs, wenn ich auch nicht genau wusste, was da vor sich ging, so fühlte ich doch, dass in den Hörsälen ein akademisches Proletariat vorbereitet wurde und nicht eine herrschende Klasse. Das war meiner Ansicht nach ein entscheidender Auslöser der Studentenbewegung. In der Schule erzählten uns die Lehrer Scheiße, etwas, das auf eine menschenfeindliche Praxis hinauslief. Andererseits waren sie in ihren Reaktionen starr, weil sie sich wegen ihrer Vergangenheit hilflos fühlten – geschlagen und ohne Orientierung. Heute versteht man das alles, damals steckte darin der Stoff für Konflikte.

Aber noch einmal: Irgendwann standest du in einer Bank und hast diesen Raub begangen.

Ich hatte die Idee irgendwann in meiner permanenten Suche nach rebellischen Sujets und Zielscheiben. Das Scheffeln und das Geldsystem wurden ohnehin in intellektuellen Kreisen stets angeprangert, und es gab den berühmten Spruch von Brecht: Keine Bank ausrauben, eine Bank gründen! Es machte mir sofort Spaß, diesen Satz auf den Kopf zu stellen.

Also ohne Brecht kein Banküberfall.

Brachte Brecht mich auf das Thema Banken? Nein. Es war ein Zeitungsartikel über einen Banküberfall. Jedenfalls habe ich nach Sätzen und Dingen gesucht, an denen sich meine aggressive und rebellische Art entfalten konnte, auch rhetorisch.

Hast du je unter dir selber gelitten?

Ja. Jemand, der narzisstisch ist, der aggressiv ist, der unausgeglichen ist, der rebellisch ist, gleichgültig, ob er ein besseres oder ein schlechteres Thema auf seinen Fahnen hat, steht im scharfen Scheinwerferlicht einer falschen Philosophie, die einen messerscharfen Schatten wirft. An diesem Schatten schneidet er sich, mit diesem Schatten muss er immer leben. Am Ende meiner Nächte in Kneipen mit Alkohol, später kamen auch Drogen dazu, kam der einsame Weg nach Hause, am nächsten Tag das bittere Erwachen und ein starkes Gefühl von Isolation. Ich habe viele Dinge getan, ich war sehr aktionistisch, und all das hab ich getan, indem ich allerlei Leidenschaften, Ushotoku, den Dämon mobilisierte, bei mir und bei anderen. Dennoch hatte ich stets das Gefühl, das führt nicht zu Harmonie. Das führte nicht zur Liebe und führte auch nicht zur Wahrheit. Es führte eben nur zur Leidenschaftlichkeit, die wie ein dämonischer Surfer auf das Brett aufspringt, sich von der Welle hoch tragen lässt, und dann auch abstürzt. Meinen Kindern rate ich davon sehr ab. Und spreche mich sehr für Ausgeglichenheit aus. Die setzt die Bereitschaft zu leiden voraus. Nicht in einem masochistischen Sinne, wie man sich selbst mit dem Messer in den Finger schneidet, um Leidenslust zu genießen, sondern aus der Einsicht heraus, dass Leben auch Leiden bedeutet und dass ich das Leiden nur überwinde, indem ich hindurch gehe und nicht, indem ich mich davon abwende oder ablenke.

Wärst du in einem bürgerlichen Beruf überlebensfähig?

Da wäre ich gescheitert.

In jedem?

In jedem, weil mich eine so scharfe Unruhe getrieben hat.

„Heimatvertriebener“. Wie ich eingangs sagte.

Ja. Um das plastisch zu machen, stell dir vor, ich wäre jemand, der einen sehr schwankenden Hormonhaushalt hat. So jemand sitzt auf dem Pferd, das sich aufbäumt und zur Seite springt. Das war meine Mentalität. Sie hat mir die Schwierigkeiten bereitet. Sie hat mich hochgehoben in meinen Lebenssituationen, die man äußerlich als erfolgreich beschreibt, und sie hat mich auch wieder niedergestürzt.

Leben als Langzeittherapie?

Wenn man als Ziel die Wahrheit hat, nämlich das, was für den Mensch langfristig gilt, Harmonie, Ausgeglichenheit und Liebe, dann kann man sagen, das ist der Weg dahin. Dann ist das Langzeittherapie. Suchen und Probieren. Das ist die Übung. Das Leben als Übung. Eine Idee des Zen.

In welchem Beruf warst du dir am nächsten? Du hast den sehr erfolgreichen Roman „Die Verrohung des Franz Blum“ geschrieben. Du warst erfolgreicher Schauspieler. Du warst Immobilienhändler.

Ich habe auch gemalt. Ich habe immer geglaubt, im Schreiben – für Drehbücher, für Filme, für meine Lebensabschnitte – wäre ich mir am nächsten. Aber das stimmt nur in einer beruflichen Perspektive. In einer totalen Perspektive bin ich mir in der Liebe am nächsten. Immerhin ist es mein Wunsch, im Schreiben den Punkt zu erreichen, an dem ich mich als dreidimensionaler Mensch auf dem zweidimensionalen Teppich der Sprache abbilden könnte. Ein schwieriges Unternehmen. Ich glaube nicht, dass es viele Autoren gibt, die das können. Ich las neulich einen Roman von Simenon, Die Glocken von Bicêtre. Da hatte ich das Gefühl, der Autor atme mich an. Ein schönes und sanftes Erlebnis.

Du wolltest auch mal in die Forschung gehen, Professor werden.

Das sind Fantasien. Mir fällt ein, dass ich mir sehr nah war bei Peter Zadek am Theater in Bochum und Hamburg. Er war ein sehr lebenskluger und mutiger Mensch, ihm fiel es leicht, zu mir ein gutes Verhältnis zu haben.

Hat er etwa Recht, wenn er sagt, Schauspieler sind dumm?

Eine Generalisierung.

Aber er sagt es.

Ja, hat er gesagt. Es gibt sicherlich alle Arten von Schauspielern, doch von keinem würde ich sagen, dass er dumm ist. Im Gegenteil habe ich immer die große Offenheit, Zärtlichkeit und Liebe unter ihnen genossen. Neulich traf ich in Berlin Nina Hoger – wir sahen uns, sie strahlte mich an, ich ging zu ihr, wir umarmten uns wie zwei Liebende, und das nach vielen Jahren und nur einem Film, in dem wir zusammen waren. Wunderbar. Wunderbar, wenn die Sonne des Lebens sich so vorbehaltlos in einer Frau verkörpert. Das habe ich nur unter Schauspielern so angetroffen.

Wir sind uns in den letzten zehn Jahren immer mal begegnet. Du hattest Adressen in Dublin, auf Fuerteventura, in Hamburg und auf Ibiza. Ist der Heimatvertriebene ein Heimatsuchender?

Ja. Ich hatte, wenn ich lange an einem Ort war, diese starken inneren Spannungen, denen ich einfach auswich, indem ich umzog. Man kann es ja auch Ablenkung nennen. Wenn die Leute sich immer wieder ein neues Auto kaufen, versuchen sie sich abzulenken. Das hat ja mit Fahren gar nichts mehr zu tun. Im Rückblick würde ich sagen, das viele Umziehen verdanke ich dem ungelenken Umgang mit meiner eigenen Innerlichkeit.

Du hast auch sehr viele Frauen kennengelernt.

Hm.

Wie ist dein Verhältnis zu Frauen?

Ja. Hm … also, das kommt bestimmt von der Liebe zu meiner Mutter. Das heißt, wo immer Frauen auftraten, fielen meine Hüllen leicht, da floss die Energie und machte alle Poesie einen tiefen Knicks.

Die Frauen liebten dich.

Ich liebte die Frauen. Die Frauen haben mich geliebt, weil sie merkten, dass ich sie begehrte. Wenn ich in Büros kam oder – Scherz beiseite – irgendwo in eine Bank oder in ein Vorzimmer, spürten sie, dass ich sie wundervoll fand. Ich habe halt, wo immer ich Frauen begegnete, sie wundervoll gefunden. Egal, welcher Farbe, welcher Gestalt, welcher Stimmung. Ich erfüllte das hehre moralische Gesetz: Mach keine Abgrenzung, keine Unterscheidung, unterteile nicht in Schichten und Klassen, sondern liebe einfach den Menschen. Das ist mir da gelungen.

Wolltest du oft in dem Moment, in dem du die Nähe der Frauen hattest, schon wieder weg?

Nein. Ich ließ mich von den Wellen tragen, die von ihnen ausgingen. Schwappten sie weg, entfernte ich mich, strömten sie auf sie zu, kam ich ihr nahe. Ich stellte keine Bedingungen wie andere: Eine Frau muss so sein oder so, intelligent oder nicht, deutsch oder polnisch, nicht christlich oder nicht muslimisch. Das waren nicht meine Raster. Mir scheint es, dass ich mich einfach für Energieströme öffnen konnte. Besonders natürlich erotischer Energie.

Hast Du je darüber nachgedacht, dass mit dir vielleicht ein bestimmter Männertypus aussterben wird?

Man sagt ja, dass das Testesteron in den westlichen Gesellschaften nachlässt. Das, was ich hier beschreibe, ist sicherlich auch hormonell bedingt. Und genetisch. Und kulturell. Was fragst du mich? Werde ich sterben? Werde ich aussterben? Werde ich als Typus nur im Zoo überleben? Oder in der Mozart-Inszenierung von Calixto Bieito, in der er sagt, unsere realen Verhältnisse seien wie ein Traum des Bassa Selim? Das kann ich gar nicht beantworten.

Es werden auch keine Western mehr gedreht für ein männliches Publikum, mutmaßlich weil das männliche Publikum sich für Western nicht mehr interessiert. Ein einsamer Mann reitet in die Stadt, man weiß nicht, wer er ist, er löst ein Problem. Er hat vielleicht eine kleine Affäre, dann reitet er wieder davon. Man weiß nicht, wohin. Das ist eine Dramaturgie, eine Fantasie des Films, die Jahrzehnte lang funktioniert hat. Heute nicht mehr, komischerweise.

Der Typ, den du beschreibst, ist von einer großen inneren Unabhängigkeit. Und wer, frage ich dich, hat die im Westen? Die einen kleben am Erfolg, an Sicherheit, an Ruhm, an Bedeutung, aber in diesen Italo-Western klingt es plötzlich an: ungebunden sein, innerlich. Django ist innerlich völlig frei. Er kann bleiben, er kann gehen. Er kann den Fall für hundert Dollar lösen oder für zehn. Ich glaube, die Faszination dieser Typen lag darin, dass hier eine Metapher gefunden wurde für innere Freiheit. Doch in einer Zeit der Bedrohungen – bedenke: die Staaten wie Griechenland werden gerade privatisiert – spielt äußere Freiheit wieder die große Rolle. Also das äußere Paradies, das finanziell herstellbar ist.

Gleichwohl hat in Amerika die Freiheit einen größeren Stellenwert, in Deutschland sicherlich die Sicherheit.

Politisch-ideologisch lobt man die Freiheit auf beiden Seiten des Atlantiks etwa gleich. Aber massenpsychologisch gesehen hast du sicherlich recht – die Europäer wollen Sicherheit. Doch in diesen Zusammenhängen heißt Freiheit immer äußere Freiheit, also die vom Geld abhängige.

Irritiert dich die starke Verbürgerlichung der jüngeren Generation?

Nein.

Als Vater? Du hast selber Kinder.

Wenn ich an meine Kinder denke, denke ich in Kategorien von innerer Freiheit. An nichts hängen und kleben.

Ist das der Fall bei dir? Hängst du an nichts?

Ich bin jemand, der auffällig unbegabt darin ist, frei zu werden. Ich bin, vom Typus her, lebensgierig und leidenschaftlich. Mit Lebensgier verbinden sich auch paranoide Zustände, die Angst, im tiefen Kellerloch zu sitzen. Der Dämon, der aus den Triebenergien aufsteigt – Ushotoku. Der macht es mir sehr schwer loszulassen. Dennoch freue ich mich, begriffen zu haben, dass diese innere Freiheit mir Ausgeglichenheit schenkt und Voraussetzung dafür ist, andere Menschen zu lieben, großzügig zu sein. Wer gelassen ist, kann der Liebe die Türen öffnen.

Du hast auch kein sinnliches Verhältnis zu Besitz. Verstehe ich das richtig?

Eigentlich müsste ich vom Typ her ein sehr sinnliches Verhältnis zu Besitz haben. Habe ich nicht. Warum das so ist, weiß ich nicht. Vielleicht hängt das mit dem Flüchtling zusammen.

Du bist für mich ein Heimatvertriebener, in übertragener Bedeutung. Vor zehn Jahren hast du mich mal eingeladen auf einen Kaffee in deine Villa im besten Stadtteil von Hamburg …

Daran kann ich sehr gut meine Schwäche skizzieren. München. Ich flog auf dem Weg von München nach London extra über Hamburg, um einen Spaziergang um die Alster herum zu machen. Dabei beeindruckten mich sehr die schönen weißen Villen der Hamburger Patrizier, ich dachte, eines Tages möchtest du hier auch mal so ein Haus haben. Von dieser Idee ließ ich nicht mehr ab. Ich kaufte mir also diese wunderschöne Villa, renovierte sie nach eigenen Ideen, doch dann saß ich darin, arglos, aber auch ahnungslos, weshalb ich all dies getan hatte. Meine damalige Frau Andrea organisierte ein paar Essen, doch das gab dem Ganzen dennoch nicht einen Sinn. Allmählich wusste ich nicht mehr, wie ich mich in dem Haus verhalten sollte und bin geflüchtet. Es war mir nicht möglich, ein Konzept zu finden, das diese Villa in mein Leben sinnvoll integriert hätte. Das zeigt, dass mich ständig emotionale Impulse lenkten: Mir fällt die Alster ein, ich fliege dort hin, ich sehe ein Haus, will es haben. Das ist nicht stabil, solch eine Villa ist auf Flugsand gebaut.

Bist du eine Persönlichkeit auf Treibsand?

Treibsand. Ich sitze auf einem unruhigen Pferd. Bei schwierigen Pferden musst du sehr achtsam sein, sehr bewusst. Du musst sehr viel Disziplin aufbringen, damit du da hinkommst, wo du hin willst. Das ist das Bild, das ich am charakteristischsten für mich finde. Wenn meine Konzentration und Disziplin, was nicht meine Stärken sind, wenn die nachlassen, geht der Gaul gleich links rechts, Ushutoko, und ich muss dann die Kosten übernehmen für das zertrampelte Blumenbeet, die überfallene Bank oder was immer. Ich bin besonders darauf angewiesen, mich mit sehr großer Disziplin, mit sehr starker Konzentration zu bewegen. Aufmerksam sein, um nicht abgeworfen zu werden.

Du hast dich auch vor dir schützen müssen?

Ja. Ich denke, jeder muss sich schützen. Oder?

Du sagst, Disziplin sei nicht deine Stärke. Aber du hast einen sehr durchtrainierten Körper. Ist das keine Frage der Disziplin bei dir?

Das war eine Disziplin, die mir leicht fiel. Es war außerdem ein Ausgleich für meine geistig-psychische Kondition. Die war sehr vital, da musste ich den Körper schon mal dagegen stellen. Für die Balance. Deswegen treibe ich jetzt noch jeden Tag Sport, das brauche ich, um ein bisschen ausgeglichen zu sein.

Ist Sport eine Droge geworden?

Ich glaube nicht. Genau weiß ich es nicht, weil ich es ja immer mache. Ich kenne die Bedenken, dass, wenn ich eines Tages keinen Sport mehr machen kann, ich leiden werde. Soweit ist es noch nicht. Ich habe ein Gym aufm Dach, ich sehe aufs Mittelmeer, es leuchtet silbern in allen Farben. Dann ist es ein schöner Moment, wenn ich dort Sport mache.

Aber auch da möchtest du wieder weg.

Ja. Ein Gym in Hamburg ist mir auch recht.

Wie ist dein Verhältnis zum Geld?

Das ist natürlich eine sehr delikate Geschichte. Denn Geld ist der Schlüssel zur äußeren Freiheit. Alles, was äußerlich ist, kannst du dir heutzutage kaufen. Das sagt nichts über unser inneres Glück aus.

Vielleicht mehr über Unabhängigkeit als über Freiheit.

Innere und äußere Unabhängigkeit hab ich früher verwechselt. Ich glaubte, Geld wäre Grund für alle Unabhängigkeit, und unabhängig wollte ich gerne sein. Später fand ich heraus, du kannst so viel Geld haben, wie du willst, und dennoch innerlich völlig unfrei sein. Du sitzt da frustriert, angekettet an seltsame Wünsche und Interessen. Alle sind nett, weil du so viel Geld hast, aber du spürst die künstliche Liebenswürdigkeit, die sie deinem bornierten Ego darbringen. Der Reiche. Niemand sagte es mir, und sehr spät begriff ich, dass ich stets und immer unterscheiden muss zwischen einer äußeren Unabhängigkeit, die mir das Geld gewährt, und einer inneren, die nur der erlernt, der ein sittliches Leben führt. Ich war immer fasziniert vom Geld wegen der äußeren Möglichkeiten umzuziehen. Aber: In dem Maße, wie ich Geld wertschätzte, war ich nicht bereit, die inneren Spannungs- und Leidenszustände hinzunehmen. Das ist die zentrale Schwäche. Denn Spannungen nicht hinnehmen mögen, das ist die zentrale Schwäche des modernen Menschen. Da entscheidet sich die Qualität seines Lebens. Wenn ich leidensbereit bin, werde ich entschädigt mit Gefühlen von Freude, von Heiterkeit und Glück. Das kommt dann von alleine. Da braucht man nicht dem Glück hinterher zu japsen.

Das gleicht sich aus?

Das gleicht sich aus! Derjenige, der das Leiden nicht hinnehmen mag, macht die Erfahrung gar nicht. Er zieht um, er kauft sich einen Porsche, er nimmt sein Geld und macht damit allerlei Mumpitz. Ich sage mir, Driest, wenn du jetzt die Antwort gibst, Geld ist wundervoll, dann darf das nicht heißen, dass du nicht bereit bist zu leiden. Du musst deine Aussage beschränken auf: Das Geld ist wundervoll, weil das Äußere des Lebens eben auch wundervoll ist. Aber wenn es mir helfen soll, gar nicht zu leiden, dann bin ich nicht wundervoll.

Ich habe den Eindruck, nach all den Jahren hast du deine Dämonen langsam im Griff. Macht das Leben nun mehr Spaß – oder ist es langweilig?

Nein, das Leben gewinnt an Qualität. Als Kind lag ich einmal auf einer schönen blühenden Wiese und beobachtete, wie eine Lerche aufstieg. Ich habe dem Gesang gelauscht, es war Sommer, es war ein Mohnfeld, es duftete. Ich wollte nichts, ich habe mich nicht bewegt, ich habe nicht gehandelt, ich war nur im Sein, wie man sagt. Ich fühlte eine innere Freiheit und Eins-sein sein mit der Natur. Es war ein glückseliger Zustand. Ich habe das nicht vergessen. Und wenn ich jetzt mein wildes Pferd mehr beherrsche, wenn ich also mehr eins mit mir bin, das heißt, wenn ich mehr Leiden integrieren kann, dann komme ich diesem Zustand näher.

Hat sich dadurch dein Verhältnis zu Frauen verändert?

Es hat sich verändert.

Du bist gerade durch die Boulevardpresse gegangen mit einer neuen Partnerin. Ist die Frau, der du heute deine Zeit schenkst, ein anderer Typus als die Frau vor 25 Jahren?

Meine Einstellung ist eine gewandelte. Ich hab mich dahin erzogen, mich in diesem Punkt vollkommen zurückzunehmen. Das ist mir gelungen. Ich war gestern beim Italiener, wundervolle, junge, schöne Frauen waren um uns herum, aber ich nehme mich zurück und nehme den Platz ein, der mir gebührt, den des älteren, freundlichen, liebenswürdigen, ruhigen, ausgeglichenen Mannes. Nicht des narzisstischen, agitierenden, provokanten, erotisch anmachenden Barbesuchers. Ich spüre Versuchung, aber ich stimme dem nicht zu. Ich möchte nicht das Opfer meines Pferdes sein, sondern ich möchte das Pferd reiten. Ich möchte meine Leidenschaften reiten, ich möchte nicht, dass sie mich reiten.

Leidet der Reiter unter dem Alter?

Ich spüre ein Bedauern über die körperliche Minimierung meiner Kräfte, meiner Flexibilität, meiner Vitalität. Ich kann nicht mehr Fußball spielen wie einst, bin im Sport reduziert. Ich weiß, ich muss das hinnehmen. Es hinzunehmen, dabei hilft nur ein beschleunigter innerer Reifeprozess. So lange ich gierig am Leben hänge, ist mir ausgeglichene Heiterkeit versagt. Besser Bücher lesen, die mir die richtigen Dinge sagen, statt Bücher, die die Leidenschaften propagieren und das Auf und Ab des Lebens.

Also die Allegorie des Westerns passt doch auf dein Leben gar nicht so schlecht.

Ich habe Corbuccis Western auch geliebt.

Er reitet auf einem sehr unruhigen Pferd in die Stadt, er löst viele Probleme, jetzt ist das Pferd endlich ruhig, und der Reiter reitet weiter mit unbekanntem Ziel.

Ja. Man könnte auch sagen, der Reiter ist mit dem Pferd versöhnt. Damit ist er aber auch mit dem Ort versöhnt. Jetzt muss er nicht mehr wegreiten.

Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wäre das wünschenswert? Noch mal eine Runde reiten?

Anders die Frage gestellt: Würde ich noch 1000 Jahre leben wollen? Ja. Das ist das eine. Und das zweite ist das Leben nach dem Tod. Ich wünsche allen Menschen, dass sie diese Vorstellung haben können, weil es die Ängste mildert. Ich hab sie leider nicht. Ich habe mein Leben lang als Atheist gelebt, für den dann einfach gar nichts mehr ist. Um es ein bisschen milder einzufärben, versuche ich mir vorzustellen, dass es halt ein Zustand der Entspannung ist.

Vielleicht nach Hause zu kommen.

Ja. Das gelingt mir noch nicht. Wer weiß, dass er in den Himmel kommt, dem sage ich, freu dich, das ist schön.

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