Die friedliche Revolution

Wie sich Krautrocker von anglo-amerikanischen Vorbildern lösten.

Summer Of Love, Prager Frühling, Vietnamkrieg, APO, Studentenunruhen. Die Jahre 1967 und 1968 waren Ausgangspunkt für eine Reihe von gesellschaftspolitischen und kulturellen Umwälzungen, auf deren Errungenschaften sich die Popkultur heute noch ausruht. Aus der harmlosen Beat-Musik wurde der komplexere Rock, die Langspielplatte, vorher in der Popmusik überwiegend Medium zur Ansammlung von Hitsingles, wurde zum eigenständigen künstlerischen Ausdrucksmittel.

In einer weitgehend autoritären Gesellschaftsordnung, die in Deutschland von einer Elterngeneration geprägt war, die ein Vierteljahrhundert vorher Hitler zumindest stillschweigend mitgetragen hatte, entwickelte die Jugend eine Gegenkultur, bei der es nicht primär um seichte Unterhaltung ging. Das hatte auch mit der Suche nach kultureller Identität zu tun, die in den zwölf Jahren der Naziherrschaft auf ideologischen Einheitskurs gebracht worden war.

Ende der sechziger Jahre gründeten Edgar Froese, Klaus Schulze und Conrad Schnitzler in Berlin die Proto-Synthesizer-Band Tangerine Dream. In der Nähe von Köln auf Schloss Nörvenich entstand um die beiden Stockhausen-Schüler Irmin Schmidt und Holger Czukay das Klangkollektiv Can, das die Improvisation zum Mittelpunkt seiner Arbeiten machte. Im politisch bewegten Jahr ’68 lernten sich die beiden Musikstudenten Ralf Hütter und Florian Schneider auf der Akademie Remscheid kennen. Im selben Jahr gründeten sie die Band Organisation, aus der zwei Jahre später Kraftwerk werden sollte. Der Rest ist viel und oft erzählte Musikgeschichte. Den beiden Kurzzeit-Kraftwerk-Mitgliedern Klaus Dinger und Michael Rother reichten drei Jahre und ebensoviele Alben, um als Neu! zu einer der meist genamedroppten deutschen Bands zu werden. Dinger setzte das Konzept später mit La Düsseldorf fort.

So unterschiedlich die Herangehensweise und die musikalischen Resultate der genannten Bands auch waren – früher Ambient, Elektronik, Proto-Punk, Avantgarde – ihnen waren drei Eigenschaften gemeinsam: der Mut zum wie auch immer gearteten musikalischen Experiment, der Einfluss auf zahllose internationale Bands und Musiker und die internationale Anerkennung. Tangerine Dream (Ambient) und Kraftwerk (Techno) „erfanden“ ganze Genres. Das Echo der Musik von Can und Neu! ist seit vier Jahrzehnten in der Arbeit von Dutzenden Bands zu hören: Brian Eno, David Bowie, Public Image Ltd, Talking Heads, Sonic Youth, The Fall, Tortoise, Stereolab, Mouse On Mars, Radiohead, Blur, Fujiya ti Miyagi.

Der in den frühen Siebzigern von englischen Musikjournalisten erfundene, abwertende Begriff „Krautrock“ wurde zu einem Markenzeichen. Deutschland, bis Ende der Sechziger ein weißer Fleck auf der Pop-Landkarte, setzte Maßstäbe in der internationalen Popmusik – weil die Bands nicht mehr versuchten, anglo-amerikanischen Vorbildern nachzueifern, sondern in einem emanzipatorischen Akt eine eigene musikalische Sprache gefunden hatten.

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