Die guten Lichter der Großstadt

Okay, ich gebe es zu: Sie wissen mehr als ich. Ich sitze hier an einem regnerischen Abend Anfang September mit einer Tasse Tee vor meinem Laptop und habe noch keine einzige Zeile über das neue TV On The Radio-Album gelesen. Sie dagegen haben vermutlich schon alle Internet-Blogs und Foren studiert und wissen längst, wie es um die (einst?) hippste Band des Planeten bestellt ist. Die coolsten Typen in Ihrer peer group haben Ihnen längst ihre Meinung über „Dear Science“ (so heißt das neue Album, aber das wissen Sie ja) ins Ohr dekliniert. Ich dagegen lungere hier in der Vergangenheit rum und habe nichts als die Musik. Aber ich beneide Sie nicht um die ganzen Referenzen, die Ihnen in den Reviews zu „Dear Science“ vermutlich bereits um die Ohren geflogen sind. David Bowie, Prince, Sly & The Family Stone, Talking Heads, Peter Gabriel, George Clinton, Sun Ra, Michael Jackson, Radiohead, Marvin Gaye, Fela Kuti u.s.w. Waren ein paar Treffer dabei? Stimmt natürlich alles nicht (und irgendwie doch).

Es ist nicht ganz einfach, sich im Klanguniversum von TV On The Radio zurechtzufinden, und durch die ganzen Verweise wird es auch nicht einfacher. Am besten, man orientiert sich erst mal am Rhythmus — der ist recht konstant, loopförmig gebaut und führt einen rum.

Daher hängen wir uns zunächst an die Lippen von Jaleel Bunton, dem multitalentierten, muskulösen, ziemlich gut aussehenden Schlagzeuger (und manchmal auch Gitarristen) von TVOTR. Er sitzt vor seinem Hotelbett auf dem Fußboden, schaut aus dem Fenster in den grauen Hamburger Himmel und erzählt vom vorigen Abend, den die Band in Amsterdam verbrachte. „Wir liefen durch die Stadt, und irgendwann standen wir vor einem dieser riesigen Billboards. Wir konnten nicht wegschauen – die Farben waren so lebendig, ich weiß auch nicht. Irgendwie war es sehr schön, gleichzeitig aber auch ärgerlich, denn alles, was auf diesem riesigen Schirm zu sehen war, war Werbung. Wir kennen das ja auch in New York vom Times Square, aber ich dachte, in Europa seien die Leute vielleicht etwas vernünftiger. Verdammt!, habe ich geflucht und mich geärgert über diese Scheiß-moderne Technologie. Ist natürlich Quatsch. Man könnte ja auch was ganz anderes mit so einem Billboard anstellen, als Deos oder Autos damit zu verkaufen. Man könnte es auch nutzen, um Kunst zu zeigen – irgendetwas Schönes und Interessantes.“

Diese kleine, etwas naive Schilderung einer vermutlich drogenumwölkten Erinnerung ist quasi „Dear Science“ in einer Nussschale. Denn das ist es, was TV On The Radio auf ihrem neuen Album tun: Sie nutzen die modernste Technik und all das traditionelle Wissen, das wir über die Popmusik haben, und machen daraus etwas Erhabenes, das dem von Natur aus Schönen durchaus ebenbürtig ist.

AlS mit Indie-Rock aufgewachsene Pop-Avantgardisten hatten TVOTR auf ihren ersten Platten — der Eigenveröffentlichung „Ok Calculator“, der EP „Young Liars“, die ihnen den Durchbruch bescherte, dem eklektischen „Desperate Youth, Blood Thirsty Babes“und dem brodelnden „Return To Cookie Mountain“- noch auf einen widerständigen Sound gesetzt, „Dear Science“ dagegen flitzt nun auf Loops und Melodien ganz gefällig ins Ohr und versetzt einen als Hörer in einen regelrechten Klangrausch. „Ich erinnere mich, wie wir an dem Song ,Crying‘ arbeiteten und ich eine Gitarre einspielte“, grinst Bunton. „Kyp (Malone, Sänger und Gitarrist) schaute mich an und fragte: ,Warum spielst du es nicht ein bisschen funky? Ich hab meinen Ohren zuerst nicht getraut. Wirklich? Bist du das, Kyp?“ Tunde Adebimpe, der neben Malone zweite TVOTR-Sänger, lacht laut auf. „Vor vier Jahren war Kyp noch der festen Überzeugung, es wäre Betrug, wenn er seine Gitarre stimmen würde. Wir haben ihm damals gesagt: ,Kyp, it’s the opposite of cheating — it’s tuning.“ Wenn Adebimpe, ein beeindruckender Typ mit breiten Schultern, kahl geschorenem Schädel und ziemlich starker Hornbrille, spricht, klingt er ein bisschen wie Isaac Hayes in seiner Rolle as Chef bei „South Park“. „Die meisten Leute, mit denen wir aufgewachsen sind, halten nicht besonders viel von Pop-Musik. Vermutlich, weil sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner abzielt“, erklärt schließlich der zum Gitarrestimmen bekehrte Kyp Malone, der seinen beeindruckenden Afro, früher eine Art Markenzeichen von TVOTR, abrasiert hat. In der Mittagspause hat er sich in einem Hamburger Musikladen eine orientalische Tröte („Sie hat einen speziellen Namen, aber ich habe ihn nicht verstanden.“) gekauft und versucht nun, darauf eine einfache arabische Melodie zu spielen. Wenn man ihm dabei in die Augen schaut, sieht es aus, als würde er angestrengt nachdenken. Fehlt nur noch, dass er sich in den Schneidersitz faltet und das Meditieren anfängt. Doch dann setzt er ab, legt die namenlose Tröte auf den Kaffeetisch vor sich, lehnt sich zurück, hüstelt wie ein kleines Kind und fährt mit seiner Antwort fort. „Ich muss schon sagen, ein gutes Popstück zu schreiben, ist eine ziemlich große Herausforderung. Es ist für mich viel schwerer, in einer traditionellen Songstruktur zu arbeiten, als experimentelle Musik zu machen. Ich habe mit Dave (Sitek, Produzent von TVOTR) viel darüber gesprochen, was bestimmte Stücke — Songs aus unserer Kindheit, aber auch aus der Gegenwart — so populär macht. Unser Ziel war bei diesem Album, unseren Ideen treu Zu bleiben und sie dann so zu formatieren, dass sie, nun ja… Pop werden.“ An der Arbeitsweise von TVOTR hat sich durch das neugesetzte Ziel allerdings zunächst nichts geändert. „Die einzige Vorgabe war, die neue Platte sollte sich mehr bewegen – tanzbar sein“, so Adebimpe. .Aber das kann ja vieles bedeuten. Da hatten wir immer noch sehr viele künstlerische Freiheiten. Alles, was dem Stück gut tat, war auch erlaubt.“

Meist sind es Malone oder Adebimpe, die mit einer Songidee die Arbeit zu einem Stück anstoßen. Sie tauchen mit einem Demo oder manchmal auch nur einem spontanen Einfall in David Siteks „Stay Gold Studio“ auf, und dann geht die Arbeiterst richtig los. Über das Demo wird ein Rhythmustrack gelegt, dann folgt Schicht auf Schicht, werden Sounds ausprobiert, wieder verworfen und neue hinzugefügt – bis meist von der Ursprungsidee nicht mehr viel übrig ist. „Wir wissen alle, dass wir auch alleine etwas zustande bringen würden“, meint Adebimpe, der seine Demos a-cappella mit Beat-Boxing, gesummten Gitarren und gesungenen Bläsern aufnimmt, weil er als Einziger kein Instrument spielt. Dafür spielen die anderen alle gleich mehrere, Bassist Gerard Smith, der zu Hause in New York geblieben ist, ist sogar ausgebildeter Flamencogitarrist. ,Aber richtig interessant“, so Adebimpe weiter, „wird es doch erst, wenn sich zu der Vision eines Einzelnen die Visionen der Anderen hinzugesellen.“

Wenn man „Dem Science“ öfter hört, stellt man tatsächlich bei vielen Songs fest, dass man sie immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven, mit verschiedenen Ohren sozusagen, hören kann (gerade habe ich mal im Plattenteil gespickt, um doch zumindest eine Rezension dieses Albums vorab zu lesen und fühle mich in meiner These bestätigt – King Crimson?).

TVOTR funktionieren nicht wie eine Gang von vier oder fünf Jungs, die alle das gleiche Ziel haben. Alle fünf haben schon auf die ein oder andere Art künstlerisch gearbeitet — als Musiker, Produzent, Maler oder Animationsfilmer -, bevor sie zur Band stießen. Jeder bringt seine Einflüsse und Inspirationen mit und lässt sie in den jeweiligen Track einfließen. Vermutlich kommen ihnen ihre Talente als (ab-)bildende Künstler beim Anordnen der Sounds zu Gute. „Wenn ,Dear Science‘ ein Gemälde wäre, wäre es vermutlich sehr genau und klar strukturiert und zugleich sehr psychedelisch mit sehr einfachen, verschwommenen Wellen wunderschöner Farben“, tantasiert Adebimpe. „Darüber könnte eine riesige Collage liegen, die vielleicht aussieht wie ein Eisenbahnwrack — irgend etwas, das man eigentlich nicht sehen möchte, aber trotzdem anstarren muss, weil es auf eine magische Art festgehalten wurde. So wie es fixiert ist, ergibt es alles einen Sinn. Ich glaube, es wäre ein sehr langes Bild. Einige Blocks lang. Aber niemals langweilig.“

Es ist vor allem Produzent David Sitek, der den vielen Ideen und Einflüssen am Ende eine Struktur gibt. Er ordnet sie an wie Ringe, die ineinandergreifen, und am Ende ein großes Geflecht aus Soul, Funk, Afrobeat, Disco, Jazz, Post-Rock und Gospel bilden. Jeder Song ist ein kleiner Planet, und alle Songs zusammen ergeben ein wirklich schönes Sonnensystem — und dies ist eine ganz miese Analogie“, lacht Adebimpe. „Viele Bands, die ich mag, lassen sich von den unterschiedlichsten Musikrichtungen inspirieren. Und meist merke ich das nicht einmal. Ich sitze nicht da und denke: Oh, das ist Blues, das ist Garagenrock… Mit den Einflüssen ist es doch wie früher als Kind beim Stille-Post-Spielen. Am Ende ist alles so durcheinandergeraten, dass man die ursprüngliche Botschaft gar nicht mehr erkennen kann. Es geht nicht darum, eine Struktur zu reproduzieren, sondern ein bestimmtes Gefühl. Das ist die komplette Bastardisierung.“

Der amerikanische Autor Nick Tosches beschrieb das Wesen der amerikanischen Musik in seinem Buch „Where Dead Voices Gather“ als „eine Geschichte der Schwarzen, die von Schwarzen stehlen, der Weißen, die von Weißen stehlen – und der eine stiehlt vom anderen. Sie handelt von Tin-Pan-Alley-Songs, die in die Wälder und auf die Felder gebracht, ausgewildert und fälschlicherweise als primitive Folk-Weisen wahrgenommen wurden; von Winden aus lang vergangener Zeit, die von diesen Feldern und Wäldern immer neu durch die Rhythmen von Generationen ziehen.“

Und so ziehen sie auch durch die Rhythmen von TVOTR. Der Schlagzeuger nickt. „Ich bin immer etwas verwundert, dass ein freier, eklektischer Umgang mit popmusikalischen Einflüssen, wie wir ihn betreiben, so hoch gehängt wird. Das ist doch ein völlig normaler Vorgang. Jeder, der sich für Popmusik interessiert, hört doch die unterschiedlichsten Sachen und wird natürlich davon beeinflusst.“ Adebimpe steigt ein: „Stell dir vor, du kämst zu jemandem nach Hause, und du schaust durch seine Plattensammlung, und alle Alben, die da stehen, gehören zum gleichen Genre. Das wäre doch schrecklich. Du schaust auf die Platten, denkst: Hm. alles irgendwie das Gleiche. Drehst deinen Kopf zur Seite und schaust auf ein Regal mit jeder Menge Garfield-Figuren. Dann denkst du: Ich muss hier ganz schnell raus!“

Adebimpe schüttelt sich aus vor Lachen. Dann lächelt er:“Ich bin in dieser Band, weil ich von Jaleel und Dave und Kyp und Gerard inspiriert werden möchte“, meint Adebimpe. „Und, atme on, natürlich ist unsere Band auch eine Gang. Auch wenn drei von uns eine Brille tragen.

Naja, wir sind vermutlich keine besonders toughe Gang, wir sind eine zärtliche Gang.“

Die Seele dieser zärtlichen Gang dürfte Kyp Malone sein. Ein manchmal regelrecht sanfter Pop-Melodiker mit soultrunkenem Falsett. Seine Texte changieren zwischen Bibelreferenzen poetischer Spiritualität und politischem Aktivismus. Aufgewachsen in einer chilastischen Gemeine in Pittsburgh. Seine Eltern waren Zeugen Jehovas — mit einer recht weltlichen Begeisterung für Free Jazz. Beides hört man seinen Songs an. „Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass wir am Ende der Zeit leben und auf die Apokalypse warten“, so Malone. “ Man kann das nur schwer abschütteln. Und irgendwann habe ich auch keinen Sinn mehr darin gesehen, es abzuschütteln.“

Zu Veröffentlichung von „Rcturri Tb Cookie Mountain“ redeten TVOTR viel von der apokalyptischen Grundstimmung, die in den USA herrsche, und auch „Dear Science“ ist nicht frei von solchen Untertönen, wenn Malone etwa in „Red Dress“ die „Whore of Babylon“ heraufbeschwört oder in der ersten Single „Golden Age“ zu einer Basslinie von Michael Jacksons „Don’t Stop Til You Get Enough“ singt: ,And oh you can’t stop what’s comin‘ up/ You’re never gonna stop gonna live it up/ And oh it’s gonna drop gonna fill your cup/And oh it’s gonna drop gonna fill your cup!/ The age of miracles/ The age of sound/ Well there’s a Golden Age/ Comin‘ round, comin‘ round, comin‘ round!“

„So wie ich das sehe, geht es da nicht um die Apokalypse“, meint Malone. „Es geht darum, das bestehende System niederzureißen – das ist kein Weltuntergang, das ist… großartig! Aber natürlich ist es äußerst verlockend, die starke Symbolik der biblischen Bilderwelt auf unsere heutige Situation zu übertragen, keine Frage. Das hat eine lange Tradition. Man findet das auf Reggae-Platten, Gospel-Platten, TV On The Radio-Platten…“

Nichtsdestotrotz scheint die Stimmung im Gegensatz zum unheilvollen Vorgänger auf „Dear Science“ etwas aufgehellt zu sein. Im letzten Song des Albums „Lover’s Day“ wird nicht der V/eltuntergang heraufbeschworen, sondern ziemlich wilder Sex praktiziert (immer die bessere Alternative). Und am Ende heißt es: „Yes here of course there are miracles/ Under your signs and moans/ Fm gonna take you, I’m gonna take you/ I’m gonna take you home.“ Und dann setzt eine betrunkene Marching Band ein, die eher nach Mardi Gras klingt als nach Beerdigung. Also bleibt am Ende doch eine Hoffnung?

„Hoffming? Nein, keine Hoffnung“, schüttelt Malone den Kopf. „Hoffnung ist: Ich hoffe, dass ich den Test bestehe, für den ich nicht gelernt habe. Hoffnung bringt gar nichts, wir müssen uns anstrengen und handeln, sonst ändert sich nichts.“

Was auf meinem Interviewband danach wie das Meckern einer Ziege klingt, ist die dreckige Lache von David Sitek, jüngst vom britischen „NME“ zum größten Innovator des Pop gewählt und nicht zuletzt durch seine Produktion des Scarlett-Johansson-Albums „Anywhere I Lay My Head“ (über das ich nichts fragen darf) das wohl bekannteste Mitglied von TVOTR. Er hat sich im Interview bisher sehr zurückgehalten, sich auf ein paar spöttische Bemerkungen zur Weltlage beschränkt und ansonsten damit beschäftigt, ein Polizeiauto aus „Lego“ zusammenzubauen. „Ich konnte nicht widerstehen“, meckert er und zeigt stolz sein Werk. Jeder Hotelgast bekommt so ein Ding. Wahrscheinlich soll man steh hier sicher fühlen. Es ist fast wie zu Hause in Williamsburg. Da steht auch an jeder Ecke ein Cop — es ist Copiamsbure.“

Sitek fühlt sich nicht mehr wohl im einst so hippen Teil von Brooklyn, in dem auch sein „Stay Gold Studio“ liegt. „Williamsburg ist mittlerweile ein Vergnügungsbezirk“, klagt Malone. „Immer wenn ich durch unser Viertel gehe und schaue, wo Freunde von mir früher gewohnt haben, wurden die Häuser abgerissen und durch neue ersetzt, gefüllt mit Leuten mit anderen Interessen und jeder Menge Geld. Die Gegend, die jede Menge Projekte kreativer Menschen hervorbrachte, ist unwiderbringlich verschwunden.“

Die so genannte Gentrifizierung ist in Brooklyn in vollem Gange. Zunächst wurden Künstler in heruntergekommene Viertel gelockt, um sie sicher und hip zu machen, dann stiegen die Mieten, und nun müssen die jungen Kreativen Platz machen fürs Kapital. „Deshalb ermutige ich Künstler schon lange, sich zusammenzuschließen, ihr Geld zu sammeln und damit in die reichen Gegenden zu ziehen, um dort den Marktwert der Anwesen wieder Hinterzubringen“, so Sitek. „Ich würde gerne ein Studio auf einem Golfplatz bauen. Komm einfach zum vierten Loch! Fuck up the rich people’s neighbourhoods, take em back“

Und spätestens dann werden auf den Billboards am Times Square sehr lange, sehr psychedelische Bilder in die Straßenschluchten flimmern. Das Zeitalter der Wunder und des Sounds bricht an.

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