Die Kunst des Alterns

Kühle Manga- Verfilmung mit surrealer Poesie und subtilem Humor.

Vertraute Fremde HHH1/2

Pascal Greggory, Léo Legrand

Regie: Sam Garbarski

Start: 20.5.

Je älter man wird, desto öfter scheint man sich an seine Kindheit zu erinnern. Es kommen Bilder von Ereignissen zurück, an die man lange nicht mehr gedacht hat. Manche scheinen nebensächlich, geben einem aber ein Gefühl von süßer Wehmut, gegen das man sich kaum wehren kann. Andere hat man vergessen, vielleicht verdrängt oder nicht verstanden. Mit 20 hat man noch keine echte Vergangenheit, nur eine Zukunft. Mit den Jahren aber kehrt sich das um. Man beginnt nach Antworten zu suchen, sich selbst zu reflektieren, zu begreifen.

So überrascht es nicht, dass Jiro Taniguchi seinen Manga über einen Mann, der noch mal zum Teenager wird, im Alter von 40 veröffentlichte. Die Pubertät und jene Erwachsenenphase, die schon manchen in eine Krise stürzte, machen die am stärksten prägenden Momente des Lebens aus. Als Verweis auf die Vorlage ist der Architekt in der Verfilmung ein Comiczeichner. Thomas (Pascal Greggory), verheiratet, zwei Kinder, sind die Ideen ausgegangen. Auf dem Rückweg von einer Messe nach Paris nimmt er den falschen Zug und steigt am nächsten Bahnhof aus, der zu seinem Geburtsort gehört. Er schlendert durch die veränderte Kleinstadt, trifft einen einstigen Freund und geht zum Friedhof. Am Grab seiner Mutter wird er ohnmächtig.

Als er erwacht, ist er wieder 14, nur sein Geist noch der alte. Auch die Stadt sieht wie früher aus. Verwirrt radelt Thomas (Leo Legrand) zu seinem Elternhaus, wo er den tieferen Sinn der Zeitreise erkennt: In wenigen Tagen ist der Geburtstag seines Vaters Bruno (Jonathan Zaccaï), der als Schneider ein kleines Geschäft betreibt. An jenem Abend verschwand er, ohne sich je wieder zu melden. Und seine Mutter Anna (Alexandra Maria Lara) ist vor Kummer darüber wenige Jahre später verstorben. Nun will Thomas die Familientragödie verhindern.

Der Plot erinnert an moralischen Disney-Klamauk wie „Freaky Friday“ oder „17 Again“. Die Pointen aber sind erheblich reifer und subtiler. Weil Thomas jetzt im Haushalt hilft und geduldig mit seiner kleinen Schwester umgeht, vermuten die verwunderten Eltern, dass er wohl allmählich erwachsen werde. Er ist zu vernünftig, um mit seinem besten Kumpel einen Joint zu rauchen. Lieber lässt er sich einen Comic schenken und erklärt: „Der ist eine Rarität.“ Als das schönste Mädchen an seiner Schule für ihn entflammt, das er nie anzusprechen wagte, weicht er den Küssen aus – er ist ja verheiratet. Ebenso bizarr wie bezaubernd ist der Einfall, dass Thomas seine spätere Frau anruft und ein Kind am Telefon hat.

Vor allem aber stellt er Fragen, für die er sich damals nicht interessierte, beobachtet Dinge, die er als Junge gar nicht sehen konnte, und bemerkt, was er im Guten wie Schlechten verklärt hat. Regisseur Garbarski inszeniert das mit leicht surrealer Poesie und zurückhaltender Emotion. Er wollte offenbar Taniguchis kühlen Graphic-Novel-Stil nachempfinden, nur gehen einem so die Charaktere nie wirklich nahe. Wie Thomas versteht man aber, warum man seinen Eltern ähnlicher wird, als man es je wollte.

Filmfacts

Sam Garbarski

Regisseur, Belgien

Geboren 1948 in Bayern, nahm Garbarski später die belgische Staatsbürgerschaft an. Mit 22 gründete er in Brüssel eine Werbeagentur. Nach diversen Spots und Kurzfilmen gab er 2003 mit „Der Tango des Rashevskis“ sein Spielfilmdebüt als Regisseur. Sein schelmisches Drama „Irina Palm“ mit Marianne Faithfull wurde 2007 der Publikumshit der Berlinale.

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