Die Songs

Von der Redaktion ausgewählt: 50 der besten Hits und versteckten Perlen der 70er-Jahre

Joni Mitchell

Big Yellow Taxi

1970 Reprise

Als Joni Mitchell im Hawaiiurlaub aus dem Hotelfenster schaute, in der Ferne grüne Hügel sah, unter sich aber einen Parkplatz, tat ihr das in der Seele weh. Und die Seele hatte einen hohen Stellenwert für die Singer-Songwriter Anfang der 70er: Da ließen sie sich gerne hineinschauen. Wenn von der Natur die Rede war – und das kam oft vor -, meinten sie eigentlich, wie früher der junge Werther, ihr Innerstes. Und so wird auch das betonierte Paradies in „Big Yellow Taxi“ zur Chiffre für ein Beziehungsdrama. „Late last night/ I heard my screen door slam/ And a big yellow taxi/ Took away my old man“ – ob es sich wirklich um ein Taxi handelte oder um einen Streifenwagen der Metro Toronto Police, bleibt ungeklärt.

Neil Young

After The Gold Rush

1970 Reprise

Man hat lange versucht, den surrealen Text zu dechiffrieren, hat in den drei Strophen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit zu entdecken geglaubt oder aber die Ausbeutung von Mutter Natur, die „nach dem Goldrausch“ unumkehrbar geworden sei. Fakt ist, dass das gleichnamige Album als Soundtrack zu einem end-of-the-world-Film gedacht war, den Youngs Nachbar Dean Stockwell zu drehen gedachte. Der Film kam nie zustande, doch Youngs mystische Ballade galt schon bald als Sternstunde der aufblühenden Singer-Songwriter-Kultur in Los Angeles.

Marvin Gaye

What’s Going On

1971 Tamla Motown

Nach dem Tod von Partnerin Tammi Terrell wollte Gaye aus dem Musikgeschäft aussteigen und Footballer werden, doch die Begegnung mit zwei Motown-Kollegen (und die Absage der Detroit Lions) ließen ihn den Entschluss überdenken: Renaldo Benson und Al Cleveland hatten einen halbfertigen Song in der Schublade, der das politische Klima zur Zeit des Vietnamkrieges thematisierte. Motown-Chef Gordy hielt die Sozailkritik für unverkäuflich – dann wurde „What’s Going On“ Gayes erfolgreichste Single.

Gil Scott-Heron

The Revolution Will Not Be Televised

1971 Flying Dutchman

Es war die Zeit von „Black Power“. Nicht nur im politischen Alltag, sondern auch in der afro-amerikanischen Musik sollte sich der Tonfall ändern. In „The Revolution Will Not Be Televised“, einem Albumtrack, attackierte Romanautor und Poet Scott-Heron die Apathie der schwarzen Bevölkerung, die Sedierung durch die Massenmedien, aber auch die Selbstgefälligkeit schwarzer Propheten. Als der Song 1971 – neu aufgenommen und mit einem jazzigen Sound-Bett unterlegt – als Single erschien, entwickelte er seine sozialkritische Sprengkraft – und gilt daher als Vorläufer des gesellschaftlich relevanten Rap.

John Lennon

Imagine

1971 Apple

Die Anregung kam von Yokos Buch „Grapefruit“, in dem sie Sentenzen wie „Imagine you’re a cloud“ oder „Imagine the sky crying“ prägte. Es sei ein „anti-religiöser, anti-nationalistischer, anti-konventioneller, anti-kapitalistischer Song“, sagte Lennon später, „der geschluckt wurde, weil er einen hübschen Zuckerguss hatte.“ Die Vision einer utopischen Gesellschaft wurde zur Menschenrechtshymne, bei den „500 besten Songs“ des ROLLING STONE belegte er den dritten Platz – so weit vorne lag er auch schon bei Abstimmungen über die schlimmsten Kitschlieder.

Judee Sill

Jesus Was A Crossmaker

1971 Asylum

Sie wolle ein Star werden, sagte sie David Geffen, als der sie unter Vertrag nahm. Doch die Voraussetzungen für die eher unscheinbare Kalifornierin waren schlecht: Erziehungsheime, Gefängnis, Prostitution, Drogen waren die Begleiter eines desolaten Lebens, das 1979 in einer Überdosis endete. Der Kampf mit ihren Dämonen war denn auch das Thema ihrer ersten Single, einer unprätentiösen Pianoballade, gemischt aus Folk-Melodik und Bachs Fugen. „Wenn ich diesen Song nicht geschrieben hätte“, sagte sie, „wäre mir nur der Freitod geblieben.“

T. Rex

Telegram Sam

1972 Fly Records

Marc Bolan führt alle seine Tricks auf. Das Boogie-Riff ist scharf geschnitten, der Glam lustvoll, die Gesangslinie androgyn und sogar ein bisschen lustig. Die große Rock-Verführung: Sie fiel Bolan hier fast schon zu leicht. Der Song kündigte das Album „The Slider“ an, Bolans goldene Stunde. Angeblich hat der wuschelköpfige Star mit dem Lied den Ausdruck „main man“ erfunden („Telegram Sam/ You’re my main man“). Der Titel spielte auf den Kosenamen von Bolans damaligen Manager Tony Secunda an, einem in dieser Bandhistorie wichtigen Mann.

Manu Dibango

Soul Makossa

1972 Fiesta

1972 nimmt ein kamerunischer Saxofonist mit dem lautmalerischen Namen Manu Dibango Disco vorweg. DJ David Mancuso spielt den obskuren Afrika-Import in seinem Loft-Club und tritt einen Hype los, der „Soul Makossa“ in die Charts trägt. Michael Jackson kommt gerade in die Pubertät (oder verweigert sie) und tanzt den Moonwalk zu dem Song. Zehn Jahre später startet „Thriller“ mit „Mama-se, Mama-sa, Ma-ko-ma-ko-ssa“. Möge Dibango sich die Rechte gesichert haben! Auch schick, die Makossa-Besetzung: Drums: Joby Jobs. Percussion: Freddy Mars. Bass: Long Manfred.

Neu!

Hallogallo

1972 Brain

Den Unterschied zwischen Geräusch und Musik illustriert dieser Klassiker der sogenannten Krautrock-Ära besonders gut: Schlagzeug-Irrwisch Klaus Dinger massiert mit dem simpelsten aller Beats die Atmosphäre, gibt der Luft ihren Herzschlag, zimmert den Rahmen für Michael Rothers Gitarrenemulsionen. Die Magie von Neu! ist diese unendliche, faszinierende Spannung, die jeden Hörer und Tänzer ganze LP-Seiten lang atemlos bei der Stange hält: Wird die Musik weitergehen?

The Rolling Stones

Tumbling Dice

1972 Rolling Stones Records

Ein Würfel bist du, Mensch, der sich dreht und dreht – und so wie du liegenbleibst, so ist nun mal die Lage. Beispiele für rockende Songs gibt es im Übermaß, aber kein anderes Stück rollt so großartig wie „Tumbling Dice“, über dessen französische Entstehung man in allerhand „Exile On Main St.“-Stories fast zu viel lesen konnte. Ganz wichtig: Es darf nie zu schnell gespielt werden. Allein Keith Richards kennt das richtige Tempo.

Randy Newman

Sail Away

1972 Reprise

,,In America you’ll get food to eat/ Won’t have to run through the jungle/ And scuff up your feet“, verspricht die seltsam müde Stimme,, ,so climb aboard, little wok, and sail away with me.“ Newman übernahm hier die Rolle des schmierigen Schleppers oder Sklavenhändlers, der die Armen auf sein Schiff locken will. „Every man is happy as a man can be“, sülzt der Mann zu elegischem Orchesterklang und schöpft großzügig aus den Klischees über Amerika. „Sail Away“ machte den Songschreiber berüchtigt.

David Bowie

Moonage Daydream

1972 RCA

Ursprünglich eine Single von Bowies Bandprojekt Arnold Corns; dann nahm er den Song noch einmal für „Ziggy Stardust“ auf. Nur logisch, denn hier ließ er die Elemente der Geschichte kumulieren. Ziggy will alles: Sex und Rebellion, Göttlichkeit und Authentizität. Er singt, er sei ein Alligator – also kein Walross. Die Satire auf die Allmachtsfantasien eines Rockstars hat einen der besten Bowie-Refrains. Und einen unvergesslichen Instrumentalteil, den man immer dann gerne summt, wenn das Erdenleben allzu fad erscheint.

Roxy Music

Re-Make/Re-Model

1972 Island

Ferry gibt einen Typen, der sich nicht traut, die „sweetest queen I’ve ever seen“ anzusprechen. Dann braust sie mit ihrem flotten Wagen davon, die Band kann dem demütigen Sänger im Refrainchor nur noch das Nummernschild mit auf den Weg geben: CPL593H. Der erste Track des ersten Roxy-Albums eröffnet die Pop-Postmoderne: Eno spielt avantgardistisch, Gitarre und Rhythmusgruppe zitieren Elemente der gesamten Rock’n’Roll-Geschichte, am Ende sogar „Day Tripper“. Der Song ist heute noch ein beliebter Titel postmoderner Soziologieseminare.

Genesis

Supper’s Ready

1972 Charisma

Genesis schufen mit dem fast 23 Minuten langen Stück ihr Prog-Rock-Statement, einen epischen Brocken mit allem, was man heute mit dem Genre verbindet. Das war damals fast ein Wettrennen gegen Emerson, Lake & Palmer, Yes und Van der Graaf Generator, in dem Genesis kurz die Nase vorn hatten. Die sieben Teile, die wiederkehrenden Themen, Gabriels überkandidelte Theatralik und ein paar kräftig rockende Momente: Musik de luxe für Eskapisten und Kunststudenten.

Steely Dan

Do It Again

1972 ABC

Ewig muss man Steely Dan verteidigen. Gegen falsche Freunde und Feinde, die sie (beide!) in einen Topf mit Toto und Foreigner schmeißen. Manchmal hilft dabei ideologische Distanz, vielleicht auch Unwissen. Unterstellen wir das mal jenen Italienern, die 1983 unter dem Namen Clubhouse „Do It again“ mit „Billie Jean“ zusammenmixten. Und verstanden, dass Becker und Fagen die weißesten white negros unter der Sonne sind, aber eben doch: negros. Elegante dazu. Was ihnen 1989 noch mal De La Soul bestätigen, als sie aus den Knochen von Steely Dans „Peg“ das zauberhafte „Eye Know“ basteln.

Gram Parsons

A Song For You

1973 Reprise

Ein innerlich in Flammen stehender Eigenwilliger war Gram Parsons, kein nihilistischer Rebell, auch wenn’s viele romantischer finden. Gewisse Werte galten bei ihm: Für die erste Soloplatte wollte er die Musiker von Elvis (und bekam sie) und Merle Haggard als Produzenten (der ablehnte, weil er den „Hippie“ nicht ernst nahm). Auch Parsons‘ Meistersong erzählt vom Nachdenken über die Ewigkeit, von Jesus als Steuermann, vom Moment, in dem das ständige Kommen und Gehen des Drifters keine reine Freude mehr ist. Alles wahr – bezeugt Emmylou Harris, die nur die wichtigsten Zeilen mitsingt.

The Stooges

Search And Destroy

1973 Columbia

1973 ist den meisten Amerikanern klar, dass der Krieg in Vietnam nicht gewonnen werden kann. Schon gar nicht nach der Methode „Search and destroy“. Suchen und zerstören – das ist die Antwort der US-Militärs auf die feindliche Guerilla-Strategie. Iggy Pop macht daraus mehr als noch einen weiteren Antikriegssong. Er wirft sich in die Rolle des world’s forgotten boy, the one who searches and destroys. Zum Detroiter Höllen-Fabriklärm der Stooges spielt er den Amokläufer mit einem Herzen voller Napalm. Man kann sich den Slogan auch in den Rücken stechen lassen. Siehe Henry Rollins.

Pink Floyd

Money

1973 Harvest

Der konkreteste Song auf „Dark Side Of The Moon“ und bis dahin überhaupt in der Post-Syd-Barrett-Ära. Der mechanisch swingende Basslauf ist ein Sieben-Viertel-Takt, nichts für die Charts. Trotzdem landete die Verhohnepiepelung von Geldgeilheit und Karrieredenken eben da – und ebnete Pink Floyd den Weg in die großen Arenen. Der Anfang vom Ende. Doch bei „Money“ waren Pink Floyd noch eine glücklich kooperierende Band, Waters überließ Gilmour sogar die Hauptstimme. Bester Moment: Nach dem Saxofon-Solo von Dick Perry verdoppelt sich das Tempo, Gilmour setzt zum gitarristischen Höhenflug an. It’s a hit!

Stevie Wonder

Living For The City

1973 Tamla Motown

Da zieht einer vom Mississippi in die Stadt, nur um den Ärger eines unprivilegierten Lebens zu erleben – Wonder legt sich in dieser Sozialreportage für seine Protagonisten mächtig ins Zeug und stellt das Ghetto an den Pranger. Der grimmige Gesang ist ungewohnt und ein Beleg für Wonders Wandlungsfähigkeit, die später auch auf Abwege führte. Hier aber stimmt alles. Wonder knetet die analogen Synthesizer und spielt ein fett groovendes R’n’B-Riff, das im Chorus mit Jazz-Funk-Harmonien konterkariert wird. Im Original siebeneinhalb Minuten lang.

Bob Marley & The Wailers

I Shot The Sheriff

1973 Tuff Gong

Die Wailers vermengten auf dem Album „Burnin'“ religiöse Erlösungshoffnung mit dem offenen Aufruf zum Widerstand. Fast militant, wie Bob Marley den rude boy gab und aufforderte, aufzustehen und für sein Recht zu kämpfen. Auch der Protagonist von „I Shot The Sheriff“, nur ein unschuldiger Kiffer, wird zur Selbstverteidigung gezwungen, es fließt Blut. Die Originalaufnahme ist ein bisschen lahm, doch die späteren Live-Versionen sind fabelhaft. Auch Claptons – freilich etwas weniger agitatorische – Aufnahme klingt gelungen.

Terry Jacks

Seasons In The Sun

1973 Bell

Das traurigste Lied des Jahres, eine englische Version von Jacques Brels „Le Moribond“ von 1961. Terry Jacks schlug das Stück den Beach Boys vor, sie verschmähten es. Also nahm der Kanadier es selbst auf, mit Link Wray an der Gitarre – und sang die Zeilen über einen Todgeweihten so wehmütig, dass der Song trotz des Themas weltweit zum Hit wurde. Später coverten ihn diverse Bands, von The Mamas & The Papas und Westlife bis zu Nirvana. Mit jeweils unterschiedlichem Pathos.

Richard & Linda Thompson

I Want To See The Bright Lights Tonight

1974 Island

Schon als Gitarrist von Fairport Convention hatte Thompson die unheimlichsten Lieder des britischen Folk-Rock geschrieben. Aber nichts konnte einen vorbereiten auf das dunkle, Dickens’sche Sittengemälde „I Want To See The Bright Lights Tonight“. Ehefrau Linda schlüpft auf diesem Album in die Rollen hart arbeitender, desillusionierter Mädchen. Und selbst wenn die Bläser im Titelsong jubilieren, wird der ersehnte Trip zu den bunten Lichtern zum Alptraum. „A couple of drunken nights rolling on the floor/ Is just the kind of mess I’m looking for“.

Sparks

This Town Ain’t Big Enough For Both Of Us

1974 Island

Nur konsequent: 1973 zogen die Brüder Mael von L.A. nach England, weil ihr hyperaktiver Glam-Pop dort so glänzend ankam. Sparks rekrutierten britische Musiker und erreichten im regnerischen London ihren kreativen Gipfel. „This Town“ bietet ein Dutzend Hooks pro Minute, stampft nach der Methode, die später viele Stoner-Rocker anwenden sollten, und präsentiert einen formidablen Text über die Problematik konstanter Geilheit. Nur knapp über drei Minuten dauert das turbulente Stück. Dann legt man es meistens gleich noch einmal auf.

Robert Wyatt

Sea Song

1974 Virgin

Geschrieben hat Wyatt dieses Wunderwerk im Winter 1972 auf einer der Giudecca-Inseln bei Venedig, während er auf seine Freundin Alfie Benge wartete, die tagsüber bei Dreharbeiten zu Nicolas Roegs „Don’t Look Now“ als Schnittassistentin arbeitete. Der Song ist eine poetische Beschwörung der abwesenden Geliebten, die mit dem Boot zurück auf die Insel kommt: „It’s your skin shining softly in the moonlight/ Partly fish, parly porpoise, partly baby sperm whale“. Am Vorabend der Aufnahme fiel Wyatt betrunken aus dem vierten Stock eines Gebäudes in London, er überlebte querschnittsgelähmt. Erst ein Dreivierteljahr später konnte er diese schwerelose, ozeanische Fassung des „Sea Song“ vollenden.

John Cale

Fear Is A Man’s Best Friend

1974 Island

Einer der raubauzigen Songs, die John Cales brutale Periode prägten. Der walisische Musiker, nie ein Kind von Traurigkeit, konsumierte damals Drogen bis an die Grenze der Lebensgefahr – der Text ist offenkundig inspiriert von dieser Alles-oder-nichts-Verfassung: „Life and death are just things you do when you’re bored/ Say fear’s a man’s best friend/ You add it up it brings you down/ We’re already dead, just not yet in the ground.“ Dazu haut er mit der Pranke in die Klaviertasten. Bei späteren Konzertaufnahmen spielte er das Fatalismus-Lied wie ein vorgeblich unbekümmertes Pfeifen im Walde.

Bob Dylan

Tangled Up In Blue

1975 Columbia

Die surreale, durch Drogen befeuerte Wortgewalt der mittleren 60er war verraucht, als Dylan zehn Jahre später zu einer neuen, nicht minder eindrucksvollen Sprache fand. Multiperspektivisch, nicht-linear, mit wechselnden Orten und Zeiten erzählt Dylan hier von der Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart, Kunst und Leben, Öffentlichem und Privatem. Sieben Strophen, sieben Kurzgeschichten, die ein komplexes Selbstporträt ergeben – inspiriert von kubistischer Malerei und dem Zeichenunterricht beim mysteriösen Lehrer Norman Raeben.

Led Zeppelin

Kashmir

1975 Swan Song

Der Höhepunkt auf Led Zeppelins Wunderplatte „Physical Graffiti“, ein überlanges psychedelisches Riff-Monster. Jimmy Page vermengt orientalische Harmonien, modale Rückungen und schmatzende Phaser in einem brillant inszenierter Rausch, der freilich auch von Bonhams rollenden Donnertrommeln und Plants‘ Gesang lebt. Es gibt eine tolle Passage in der Gitarristen-Doku „It Might Get Loud“, in der Page The Edge und Jack White erklärt, wie er das Lied spielt. Die Szene wirkt gestellt, doch die großäugige Bewunderung der Nachgeborenen ist köstlich.

Bruce Springsteen

Born To Run

1975 Columbia

Zu Beginn der erschöpfenden Aufnahmen für das Album „Born To Run“ arbeitete Springsteen mit der E Street Band an dem gleichnamigen Stück, in dem er die Wall Of Sound von Phil Spector mit dem Drama von Roy Orbison vermischte, zahllose Gitarrenspuren übereinanderlegte und einen Text schrieb, in dem er das amerikanische Freiheitsversprechen mit Tennessee Williams, Jack Kerouac und Chuck Berry verband. Im Herbst 1974 wurde die Single an Radiostationen geschickt, im Sommer 1975 war Bruce Springsteen der Mann des Jahres.

Patti Smith Group

Gloria

1975 Arista

Mein Punk ist nicht euer Punk – aber was ist überhaupt Punk? In den frühen New Yorker Tagen: Praktisch alles, was neu war und nicht Prog-Rock oder Disco. Alles, was Freigeistigkeit und Liberalisierung der musikalischen Mittel kombinierte. Also auch die Dichterin Patti Smith, eine Frau, die man nach heutigen Kategorien als Hippie bezeichnen würde. Sie klopfte die richtigen Sprüche, masturbierte angeblich sowohl zur Bibel wie zum Cover ihres eigenen Albums – und veröffentlichte „Gloria“. Indem sie eigene Strophen hinzufügte, deutete Smith den simplen Them-Klassisker zu einem Manifest in eigener Sache um: „Jesus died for somebody’s sins, but not mine“.

Max Romeo & The Upsetters

I Chase The Devil

1976 Island

Viele kennen den Reggae-Klassiker vor allem, weil The Prodigy ihn für ihren Hit „Out Of Space“ ausgeschlachtet haben. Doch Produzent Lee Perry, der „I Chase The Devil“ mit Max Romeo geschrieben hat, weiß selbst am besten, dass die moderne Recycling-Kultur ihren Ursprung in Jamaika hat. Der Song stammt vom Album „War Ina Babylon“ und erzählt in der kruden, alttestamentarischen Metaphorik der Rastafarians vom Kampf gegen das Böse: „I’m gonna put on an iron shirt and chase Satan out of earth“. Die Musik von Perrys Hausband The Upsetters klingt muskulös federnd, der Gesang von Maxie Smith alias Max Romeo ist sanft und dennoch packend.

Ramones

Blitzkrieg Bop

1976 Sire

Dee Dee Douglas Colvin alias Dee Dee Ramone wuchs in Deutschland auf. Der Vater war Soldat, ließ sich bald von seiner deutschen Frau scheiden. Dee Dee trug einen Knacks davon. Er fing an, Nazi-Memorabilia zu sammeln, vor allem, um seinen Vater zu ärgern. Auch Tamás Erdélyi alias Tommy Ramone war von Nazi-Deutschland besessen, wenn auch aus anderen Gründen. Seine Eltern, ungarische Juden, waren den Nazis nur knapp entkommen und flüchteten 1956 vor dem Antisemitismus in die USA. Tommy schrieb „Animal Bop“ als simplen Tanzsong. Die Nazi-Metaphern und der Blitzkrieg waren Dee Dees Idee. Gesungen wurde das von Jeffrey Hyman alias Joey Ramone, Sohn linksliberaler Juden aus Manhattan. Selten brachten bandinterne Kriege so tolle Songs hervor.

ABBA

Dancing Queen

1976 Polar Music

Rock(pur)isten hassen ABBA für ihre Schlagerhaftigkeit, ihre Schwedenhaftigkeit, ihre Doppel-Ehepaar-Konstellation, ihren sagenhaften Erfolg bei der ganzen Familie, Schwule inklusive. Vielleicht muss man älter werden, um „Dancing Queen“ zu mögen. Und ABBA nur hören und nicht sehen. Dann entdeckt man vielleicht utopisches Potential in diesem skandinavischen Wohlfahrtsdisco-Entwurf, ein Glücksversprechen, das gar nicht so weit entfernt ist von Chics Forderung nach „Good Times“. Madonna und Lady Gaga, die beiden härtest arbeitenden Glücksversprechensproduzentinnen, haben ihre ABBA-Lektion gelernt: Gagas „Alejandro“ ist der Enkel von „Fernando“ auf „La Isla Bonita“.

Sex Pistols

Anarchy In The U.K.

1976 EMI

Die meisten schieben den Progrock-Bands den Ausbruch des Punk in die Schuhe. Anders Sex-Pistols-Initiator Malcolm McLaren. Der fand die Wurzel des Übels in den britischen Pubs, wo die Überbleibsel der Beat-Generation allabendlich die ollen Kamellen aufwärmten. Die Jugend gähnte – aber wo sollte sie sonst trinken? Dem „NME“ erklärte McLaren, warum die Debütsingle der Pistols kein modischer Gag war: „,Sie folgt dem selben Ansatz, den Eddie Cochran hatte. Den jeder echte Rock’n’Roller hatte. Sie ist eine Reaktion auf Stagnation.“

Fela Kuti & Afrika 70

Zombie

1977 Wrasse

Hirnlose Schlächter ohne eigenen Willen – so sah Fela Kuti die Armee seines Heimatlandes Nigeria. „Zombie“ war nicht einfach ein Protestsong, keine wohlfeile Besserwisserei. Es war ein Angriff: Die Gitarren quengeln wie nervöse Schlachtrösser, die Trommeln werden lauter und streitlustiger, die Phalanx der Bläser stürzt nach vorne. „Der Zombie bewegt sich nicht, bis man es ihm sagt“, höhnt Kuti, das Stück wurde ein Erfolg in ganz Afrika. Die Rache der Militärregierung war fürchterlich: 1000 Soldaten stürmten Kutis Kommune in Lagos, Haus und Studio wurden niedergebrannt.

Mink DeVille

Spanish Stroll

1977 Capitol

Die frühe Karriere des Willy DeVille – ein Missverständnis: Mitte der 70er übernahm seine Gruppe Mink DeVille ein Engagement als Hausband im New Yorker CBGB. Und wurden so irrtümlich der aufkeimenden Punkszene zugschlagen. Immerhin war Willy der bestgekleidete Vertreter, mit seinen ultra sharp geschnittenen Anzügen, dem Menjou-Bärtchen und der Macho-Arroganz, mit der er die nasalen Soul- und R’n’B-Songs intonierte. Nicht zuletzt den UK-Hit „Spanish Stroll“, einen vibrierenden Latin-Bastard.

Television

Marquee Moon

1977 Elektra

„Mojo“ spricht von „a graceful new wave bite“, „Spin“ vom „ersten Punk-Jam-Album“, Wiki hört „one of the first manifestations of the post punk movement“. Ein dreifacher Fall von avant la lettre für eine Platte, die 1977 rauskam, aber schon 1975 entstand. Television nahmen viel vorweg und waren doch nur fünf Jahre entfernt vom New York der Factory. Und von Neil Youngs „Everybody Knows This Is Nowhere“. „Marquee Moon“ schwebte über der Punk-Orthodoxie. Zehn Minuten lang! Gitarrenduelle! Verlaines leptosom-androgyne Stimme. Der Bastard-Cousin von „Cowgirl In The Sand“.

Elvis Costello

Alison

1977 Stiff

In Glastonbury 2005 und in Liverpool 2008 zeigte Costello, wo „Alison“ eigentlich herkommt – und in welcher Liga er den Song spielen sieht: ganz oben mit den tearjerkers of Soul. In Glastonbury verlinkte er „Alison“ mit „Suspicious Minds“, dem Eifersuchts-Gospel eines anderen Elvis. In Liverpool traf „Alison“ auf „Tracks Of My Tears“ von Smokey Robinson. In dieser Liga spielt „Alison“ wirklich: die Abrechnung mit einer Ex-Geliebten. Was für dummes Zeug sie redet, wie sie ihr Leben wegwirft. Und am Ende liebt er sie doch: „Oh Alison, My aim is true“.

Talking Heads

Psycho Killer

1977 Sire

Auf ihrem Debüt-Album „77“ erschien der berühmteste Song der Talking Heads, der unter anderem Breat Easton Ellis‘ „American Psycho“ inspirierte. Der Kunststudent David Byrne schrieb das Stück über einen Serienmörder, der sein Bett in Flammen sieht, aber vor allem eine Idiosynkrasie hat: Er hasst Menschen, die nicht höflich sind. Im New York der 70er Jahre ist er also am richtigen Ort.

Richard Hell & The Voidoids

Blank Generation

1977 Sire

Das Cover von „Blank Generation“ ist die Minimaldefinition des Punk: ein ausdrucksloses Gesicht, ein magerer nackter Oberkörper, auf dem „YOU MAKE ME _____“ geschrieben steht. Der Text des Titelsongs ist das Manifest dazu: „I belong to the blank generation/ I can take it or leave it each time.“ Als Malcolm McLaren von einem New-York-Besuch zurückkam, hatte er nur zwei Dinge im Kopf „dieses verstörte, seltsame Ding namens Richard Hell und die Wendung, blank generation‘ …“ Er ließ die Pistols ihre eigene Version schreiben. Das war „Pretty Vacant“.

Suicide

Ghost Rider

1977 Red Star

„America is killing its youth“ – Suicide wussten, wie man ein Thema zuspitzt. Bo Diddleys „Road Runner“ hatte sich 1977 in einen „Ghost Rider“ verwandelt. Das Stück des New Yorker Duos lässt einen noch heute sprachlos zurück: Zu Martin Revs minimalistisch rauen Keyboard-Riffs singt Alan Vega wie ein Elvis auf Crack. „Ghost Rider“ gilt wahlweise als Geburtsstunde von Synthie-Pop, Techno, No Wave und Punk. Doch in Wirklichkeit haben wir es mit einem Requiem auf Amerika und seine Kultur zu tun. Der Endpunkt des Rock’n’Rolls – Alan Vega als Colonel Kurtz im Dschungel von Vietnam.

Warren Zevon

Werewolves Of London

1978 Asylum

Der Plot geht zurück auf viktorianische Schauergeschichten und erzählt lakonisch vom Gentleman-Werwolf, der die Engländer erschreckt: „I saw a werewolf with a chinese menu in his hand/ Walking through the streets of Soho in the rain.“ Das Pianomotiv und der Ausruf „Aaaa-huuu!“ machen den Song unwiderstehlich. Am Ende trinkt der lässige Tourist eine Pina Colada im Trader Vic’s – und dann ruft Zevon: „Draw blood!“ Es blieb sein einziger kleiner Hit, der 1987 noch einmal in Scorseses Billard-Drama „The Colour Of Money“ zu Ehren kam.

Magazine

Shot By Both Sides

1978 Virgin

Howard Devoto hatte als Sänger der Buzzcocks debütiert. „Shot By Both Sides“ schrieb er zusammen mit Bandmate Pete Shelley, und die mitreißende Melodie erinnert tatsächlich an die Buzzcocks. Doch Arrangement und Produktion waren wesentlich komplexer, als man es von anderen Ex-Punks des Jahrs 1978 kannte. Hier gab es reichlich Platz zwischen den Instrumenten, den John McGeoch mit seinem für damalige Zeiten virtuosen Gitarrenspiel zu füllen wusste.

Kraftwerk

Das Model

1978 EMI

„Das Model“ steckt voller Wehmut und ist doch so elegant, perfekt und stylish. Song und Sujet sind in dieser Hinsicht fast identisch: „Sie wirkt so kühl, an sie kommt niemand ran“, singt Ralf Hütter, hinter ihm glitzern die Synthesizerläufe, der Sequenzer klopft präzise wie eine Atomuhrwerk. Die Künstlichkeit von „Das Model“ ist hermetisch, nur einmal wird das Wort „Korrrrekt!“ zelebriert wie eine augenzwinkernde Obszönität. Gesprochen hat es der Kellner eines Düsseldorfer Szenelokals, der damit tatsächlich gerne Sekt-Bestellungen quittierte.

Blondie

Heart Of Glass

1978 Chrysalis

Debbie Harry und Chris Stein kriegten sich kaum wieder ein, als strikt Dance-orientierte Radiostationen ihr „Heart Of Glass“ in Dauerrotation spielten. Warum die szeneübergreifende Credibility im Handumdrehen? Weil die Band den Discopop spielte, nicht nur darstellte. Und weil die blonde Debbie den Text so unglaublich cool sang, obwohl es ans Eingemachte ging: „Once I had a love/ And it was a gas/ Soon turned out/ To be a pain in the ass.“ Viele Epigoninnen investierten viel, um diese originäre Mischung aus beleidigter Kaviarschnitte und trotziger Sirene gewinnbringend zu adaptieren.

The Undertones

Teenage Kicks

1978 Good Vibrations

Dass dies John Peels liebster Song war, ist bekannt. Dass er ihn – auf einer Skala von eins bis fünf – mit 28 Sternen bewertete und eine in Stein gemeißelte DJ-Regel brach, als er den Song an einem Abend zweimal nacheinander spielte, sind rührende Beweise. Die nordirischen Undertones kombinierten als eine der ersten Gruppen endlich Punkrock mit Liebeslyrik – für Protest und Politik waren andere zuständig. Feargal Sharkeys White-Soul-Stimme erzeugte andere Fantasien als die Revolution: „I need excitement, oh, I need it bad/ And it’s the best I ever had.“

Billy Joel

Honesty

1978 Columbia

War Billys „Just The Way You Are“ noch das ideale Geschenk für Beziehungsjahrestage und sonstige harmonische Anlässe, ist dies hier eine Ballade, die man erst mal schlucken muss: Wenn’s zu schön ist zwischen Mann und Frau, gibt der Sänger am Klavier mit Hundeaugen zu bedenken, dann sind meistens Lügen im Spiel. Dann lieber die nur so halb-harmonische Wahrheit – aber wer mag die schon sagen? Sogar Beyoncé gingen dabei die Augen auf, auch sie sang den Song. Chic

Good Times

1979 Atlantic

Rock(pur)isten hassen Chic für ihre Eleganz, ihren Hedonismus, ihr Stilbewusstsein. Und dafür, dass sie maßgeblich an der Erfindung zweier Genres beteiligt waren: Chics „Good Times“ gehört zu den meistverkauften Discoplatten, die Bassline wurde zur Grundlage des ersten Rap-Welthits „Rapper’s Delight“. Auch wenn man nicht weiß, dass Chics Nile Rodgers bei der Black Panther Party war, könnte man merken, dass „Good Times“ mehr ist als die stumpfe Feier irdischer Genüsse. Selten wurde das Menschenrecht auf eine gute Zeit überzeugender proklamiert.

Buggles

Video Killed The Radio Star

1979 Island

Trevor Horn ließ sich für den Hit von großer Literatur inspirieren: Science-Fiction-Autor J.G. Ballard entwarf für die Kurzgeschichte „The Sound-Sweep“ das Bild eines stummen Jungen, der der Welt mit einem Klangsauger die Musik nimmt – und auf einen Opernsänger trifft, dessen Existenz obsolet geworden ist. Bekannt: MTV eröffnete mit dem Video am 1981 sein Programm. Pikant: MTV Philippines spielte den Clip am 16.2.2010 – und machte dann den Laden dicht.

Joy Division

Transmission

1979 Factory

Im Dokufilm „Joy Division“ zeigt die Kamera Menschen, die bis heute nur stottern und staunen können, wenn sie an 1979 denken. An Joy Division. An „Transmission“. An den Moment, als sie Ian Curtis zum ersten Mal flehen hörten: „Dance, dance, dance, dance, dance to the radio!“ Die einen erinnern sich an Eiseskälte, die anderen an Hitzewallungen. Keiner blieb ungerührt. Das geht Jüngeren nicht anders, die den Song 30 Jahre später entdecken.

The Clash

London Calling

1979 CBS

In „London Calling“ erklärten The Clash irgendwem einen nicht näher bezeichneten Krieg. Im Kampf gegen den Terror wurde das 2006 einem jungen Briten zum Verhängnis. Harraj Mann hört in einem Taxi über Kopfhörer „London Calling“ und sang mit: „Now war is declared, and battle come down.“ Der Taxifahrer schöpfte Verdacht und alarmierte die Polizei. Mann wurde aus dem Flugzeug heraus verhaftet. Nach kurzem Verhör durfte er wieder gehen. It’s only Rock’n’Roll!

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