Drei Tage wie diese

In den wenigen Augenblicken, in denen ich erwarte, gleich zu sterben, denke ich nichts weiter als das Wort „Baum“. Nicht an die Tür des Tourbusses von Friska Viljor, die sich bei Hundert auf der Autobahn geöffnet hatte, unser Fahrer band sie dann mit Kabelbinder fest. Nicht an die nach süßer Butter riechenden, blonden Kinder der Schweden-Band, nicht daran, wie Sänger Joakim Sveningsson -nur mit einem Unterhemd bekleidet -in meine Kamera schaute, und auch nicht daran, dass da irgendwo jemand ist, der mich vermissen würde. Schon gar nicht denke ich an die Musik von einer der Bands, die auf dem Hurricane-Festival spielen wird. Und auch nicht daran, dass ich lieber im Bus der Band geblieben wäre, statt am Bändchenausgabeschalter in ein Auto von drei 19-Jährigen zu steigen.

„Baum“ ist der einzige Gedanke, den ich auf dem Beifahrersitz dieses Autos denke, während wir mit Landstraßengeschwindigkeit ins Feld auf einen Baum zufahren, weil zwei Irre aus Wesel in ihrem Corsa, ohne nach hinten zu schauen, einen U-Turn vor uns machten. Am Ende fliegt der Baum wie ein Schatten wenige Zentimeter vor meiner Fensterscheibe vorbei. Dann bleiben wir im Feld stehen. Gut, dass der Fahrer zum Führerschein ein ADAC-Sicherheitstraining geschenkt bekommen hat. „Niemals auf einen Baum schauen, wenn man von der Straße abkommt“, hatte der Trainer damals gesagt, „dann fährst du dagegen.“ Falk hat links vorbei geschaut.

In einer Regenpause baue ich mein Zelt auf. Vier Stunden habe ich von Berlin zur Bändchenausgabe gebraucht. Vier Stunden noch mal für die fünf Kilometer von dort zum Zeltplatz. Der Unfall. Die kilometerlangen Autoschlangen zum Festivalgelände. „I am invisible and weightless/ You can’t imagine how I hate this/Graceless“, weht die streichelnde Sitmme des The National-Sängers Matt Berninger von der blauen Bühne zu meinem blau-orangenfarbenen Zelt. Und ich muss daran denken, dass das Auto der Jungs nur einen winzigen Kratzer hinten abbekommen hat und dass auf der obersten Zierleiste des Kühlergrills, das konnte ich sehen, als Falk rückwärts an den Straßenrand gefahren war, ein kleiner Marienkäfer einen fröhlichen Tanz aufführte.

Dann spielen Rammstein. Obwohl es unter Musikkritikern beliebt ist, zu sagen, wie platt und doof die sind, finde ich sie in diesem Moment der sich anbahnenden Nacht ganz groß und zärtlich, und ich glaube, dass „Ohne Dich“ wirklich eines der größten Liebeslieder ist, die es überhaupt gibt. Diese Synthesizer von Flake Lorenz, diesem autistisch perfekten Zahnrad im Uhrwerk Rammstein, sie spielen den d-Moll-Akkord. Der arkadische Ton der Toten verschiebt sich zu a-Moll, wie hell nun alles wird, und Till Lindemann singt so wohlklindend tief, so wie fast niemand mehr singen kann und will dieser Tage. Er schließt andächtig die Augen. „Ich werde in die Tannen gehen/Dahin, wo sie zuletzt gesehen/Doch der Abend wirft ein Tuch aufs Land/ Und auf die Wege hinterm Waldesrand/Und der Wald, er steht so schwarz und leer.“ Und Caspar David Friedrich stolziert mit seinem Gehstock vorüber und tupft milchige Sterne in den dunstigen Himmel der Nacht.

Zwei Männer auf dem Zeltplatz, die auf der Rückbank ihres Kombis, nur mit Shorts bekleidet, liegen, hören bis zum nächsten Morgen „Der Moment“ von den Toten Hosen. Das scheint ein Lied zu sein, mit dem sie sehr viel verbinden. Über mehrere Stunden hinweg hören sie nur dieses Lied. Und schließlich schlafen sie, Gesicht an Gesicht, ein.

„Hase, willst du im Schatten oder in der Sonne frühstücken?“, ruft Olaf zu seinem Freund, als die Sonnenstrahlen die Zelte aufheizen. Sie beide sind zum ersten Mal auf einem Festival. Olaf ist verheiratet, von Hase weiß ich das nicht. Beide haben sich für 300 Euro ein VIP-Ticket gekauft. Das sind beste Freunde im besten Alter. Ihre Stimmen sind gezeichnet von der Nacht. Knarzend beginnen die Stimmbänder, wieder zu arbeiten. „Also ich hör‘ jetzt keinen Mainstream mehr“, ruft Olaf zu Hase. „Nee, das war echt geil gestern“, antwortet Hase, „obwohl Sigur Ros auch schon bekannter sind.“ – „Mir egal. Hauptsache, kein Mainstream.“

Wenige quatschende Schritte durch den weichen Ackerboden weiter lackieren sich junge Frauen in Holzhütten die Fußnägel. Rot, schwarz. Die Lippen müssen selbstverständlich auch koloriert werden. Sie haben eine blasse Gesichtshaut. Unter verwaschenem Weiß der Oberbekleidung der einen flimmern weiße Punkte auf dem roten Bikini-Oberteil. Seltsam, dass reiche Mädchen heutzutage so aussehen. Sie haben zuzüglich zu den Festival-Tickets mehr als 300 Euro gezahlt, um in dieser bescheidenen Behausung zu schlafen. Pro Person. Dafür könnte man zwei Flaschen Krug Champagner kaufen. Oder eine Nacht im Adlon verbringen, mit Frühstück sogar. Aber was ist schon wahrer Luxus inmitten eines Zeltlagers? Im Angesicht des Herings wird selbst die Bretterbude zum Chalet. Zwei Plastikfenster nach dem Kreuzsymbol von Kartenspielen geformt, lassen Licht nach innen dringen. Na ja, es gibt auch so Bootcamp-Kurse für Manager, die über drei Tage mit selbst gebauten Steinmessern durch den Wald rennen, um an ihre Grenzen zu kommen. Die sind ebenfalls sehr teuer.

Der Brite Miles Kane tritt auf. 27 ist er jetzt, und er spielt eine Musik wie früher. Beatmusik, manchmal sieht man den jungen Weller in ihm, ein andermal denke ich an die jungen Bernhardiner-Wangen Paul McCartneys.

Obwohl Rockmusik im Gegensatz zur Disco, zum Techno historisch betrachtet eher unschwul ist, scheint es so, als beflügelten Bands wie Billy Talent, Rammstein, Editors oder Kasabian Männer, einander sehr nahe zu kommen. Es gibt zum Beispiel so ein dreieckiges Pissoir seitlich unter der ROLLING STONE-Lounge. Da pinkeln die Männer im Stehen von drei Seiten auf einen Mittelpunkt zu und schauen sich dabei in die Augen.

Es ist richtig aufregend, zwischen den Konzerten über den Zeltplatz zu laufen. Nackte rennen an einem vorbei und schlagen Räder. Andere erwärmen Suppe auf dem Grill. Typen mit Vokuhila-Perücken, wie aus der ,,Spiegel-TV“-Reportage über die Kieler Jugendgang „Kneipenterroristen“, sitzen am Wegesrand und kleben betrunkenen Mädchen Sticker auf die Brustwarzen oder auf den Schritt. Und dann fährt alle paar Stunden dieser große Wagen, der den Unrat aus den Dixies herausholt, durch die Reihen.

„Mir macht das richtig Spaß“, sagt der junge Mann aus Trier. Es ist eigentlich Landschaftsgärtner, aber mit dem Job verdient er sich an einem Wochenende 500 Euro dazu. „Ein Scheiß-Job ist das nicht. Die Camper applaudieren, wenn wir wieder ein Klo gesäubert haben, und manchmal kriegen wir auch ein Bier geschenkt.“ Aus den Boxen vor einem Zelt schallt „Morning Glory“ von Oasis. Ich springe auf den Wagen auf. Der Applaus tut gut. Mit der Bewegungsenergie einer halben Tonne Biomasse surfe ich durch die Zeltreihen. Ich bemerke die ausgeprägte Muskulatur der Arbeiter und bewundere die feinen Schatten dazwischen.

Die zweite Nacht prasselt über das Polyester. Olaf und Hase kommen spät nach Hause. Sie hatten sich einen Spaß daraus gemacht, Warnwesten anzulegen. Angetrunken, aber mit der Autorität der vermeintlichen Uniform ausgestattet, hatten sie es tatsächlich geschafft, mehreren Leuten den Zutritt zum Disko-Zelt zu verwehren. „Mit den Schuhen kommst du hier nicht rein“, imitiert Olaf den Ordner-Olaf der vergangenen Nacht, deren letzte Höhepunkte noch aus den feinen, geplatzten Adern der Augen rot herausleuchten.

Der stets gegenwärtige Regen ist zur geduldeten Begleitung geworden. Holten die Besucher anfangs noch bei jedem kleinen Schauer die Plastik-Ponchos heraus, sind sie am dritten Tag selbst Teil des feuchtenden und wieder verdunstenden Naturschauspiels. Vor den Holzhütten, unsere zwei Lackiererinnen sitzen auch wieder dort, versammeln sich Australier und Texaner. Das australische Pärchen ist auf großer Europa-Tour. Sie wandern auf den Spuren der Alten Welt, von denen man in Übersee fast nur Blitzkrieg und Neuschwanstein kennt. Und der lockige Mann erzählt noch, wie er die schlanken Beine einer jungen Thailänderin im Flugzeug bewundert hat, beim Umsteigen schließlich ahnte, dass es sich wohl um ein anmutiges Zwischenwesen handeln müsse.

Ich frage nach Feuer, und die Texanerin verschwindet in ihrer Holzhütte. Sie kramt in einer Tasche. Dann reicht sie unterarmlange Zündhölzer. Von einem tiefen Lachen begleitet, das es so nur in den Südstaaten geben kann, sagt sie, als der Schwefel an der Spitze oxidiert: „Everything is bigger in Texas.“

Später am Abend tritt Paul Kalkbrenner auf. Über seinem Kopf schwingt ein elektrisches Newtonpendel und trotzt dem Energieerhaltungssatz. Die Queens Of The Stone Age spielen ihren rauschhaften Boogie-Woogie. Josh Homme flucht wie eh und je. „Fucking place“ und so weiter. Und ein letztes Mal wirft der Abend sein Tuch über das Land. Die Windräder auf den weiten Feldern des Nordens summen die Kühe in den Schlaf.

Am nächsten Tag sind dort, wo jetzt noch Elysion liegt, wo die Gründer von Theben im Schatten von Boswellia sacra reiten, turnen und zur Laute greifen, ein Acker und ein paar Tonnen Müll. Und irgendwo dazwischen tanzt unser kleiner Freund, der gepunktete Käfer, und lauscht mit erwartungsvollen Ohren in die Stille.

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