Ein Film, der glücklich macht: Vor 15 Jahren kam „Die fabelhafte Welt der Amélie“ ins Kino

Mit traumhafter Sicherheit und unbändiger Fabulierlust gelang es Jean-Pierre Jeunet vor 15 Jahren, mit „Die fabelhafte Welt der Amélie“ das Kino quasi noch einmal neu zu erfinden. Wir feiern das Jubiläum mit der original ROLLING-STONE-Rezension zum Kinostart.

ROLLING STONE 08/2001 – ein Artikel aus dem RS-Archiv

Die seltsamen Welten des Jean-Pierre Jeunet sind bevölkert von Kannibalen, Zyklopen und Liliputanern, grotesken Gestalten und liebenswerten Freaks, die muhende Blechdosen fabrizieren, Kondome flicken und skurrile Suizid-Apparate konstruieren. Da werden Zwillinge geklont, Kindern ihre Träume abgezapft, da wird nach dem Domino-Prinzip durch Möwenschiss ein Ozeandampfer versenkt.

Aus diesen Hirngespinsten, die irgendwo zwischen Fantasy, Phantasmagorie und Comic liegen, hat Jeunet in den 90er-Jahren drei Filme geschaffen: sein viel gelobtes Spielfilmdebüt „Delicatessen“, das Horrormärchen „Stadt der verlorenen Kinder“ und für Hollywood die Auftragsarbeit „Alien – Die Wiedergeburt“. Für letzteres Werk ist er arg geprügelt worden von Kritikern und Fans der Saga. Über mangelnden Erfolg kann er immerhin nicht klagen.

Kritiker konnten mit „Amélie“ zunächst nichts anfangen

Dennoch – und da geht es ihm wie Luc Besson – ist auch seinem neuen Film in seiner Heimat der Respekt versagt worden: Das diesjährige Auswahlgremium von Cannes hatte „Die fabelhafte Welt der Amélie“ abgelehnt. Jeunet zog daraufhin den Kinostart vor. Zwei Wochen vor den Filmfestspielen war er in Frankreich ein Hit – und die Jury in Erklärungsnotstand. Zumal die französischen Filme im Hauptprogramm nicht mal Kritiker überzeugten.

,,Die fabelhafte Welt der Amélie“ ist eine ebenso melancholische wie hinreißende und überschwängliche Außenseiterballade über Zufalle und Absurditäten des Alltags, Schicksal und Seelenverwandtschaft, die Magie der Phantasie, den Segen der Naivität und die Liebe auf den ersten Blick. Amelie (Audrey Tautou) ist eine Tagträumerin, die in einem Pariser Bistro am Montmartre arbeitet. Als sie in ihrer Wohnung eine Blechschatulle mit Spielzeug aus den 50er Jahren findet, macht sie den einstigen Besitzer ausfindig. Dessen Rührung veranlasst Amélie, fortan ihre Mitmenschen zum ersehnten Glück zu verhelfen.

Sie verkuppelt die hypochondrische Zigarettenverkäuferin Georgette (Isabelle Nanty) mit Jospeh (Dominique Pinon), dem Ex-Freund einer Kollegin, der jeden Tag am selben Platz eifersüchtig im Cafe hockt Mit kleinen, aber fiesen Streichern treibt sie einen Gemüsehändler fast in den Wahnsinn, weil der der ständig seinen trotteligen Angestellten schikaniert Sie zerrt sogar einen Blinden mit und schildert ihm detailliert die Umgebung und Geschehnisse. Schließlich begegnet sie in Nino (Mathieu Kassovitz), der als Kassierer in einem Sex-Shop und bei einer Geisterbahn jobbt und vor den Automaten weggeworfene Passfotos fremder Menschen sammelt, ihre große Liebe.

Warmherziger Blick auf die Verschrobenen

Mit traumhafter Sicherheit und unbändiger Fabulierlust häuft Jeunet die Kleinigkeiten des Lebens an. Bei allem Irrwitz und tricktechnischen Budenzauber bewahrt er in seinem bonbonfarbenen Großstadtmärchen dennoch einen warmherzigen Blick auf die Einsamen und Verschrobenen. Der poetische Realismus von Amélies fabelhafter Welt macht glücklich.

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