Eine Frau, die träumt

Eine Begegnung auf Socken im Dakota Building: Yoko Ono über Spiritualität und Schmerz, Grenzüberschreitungen und Glück, den berühmten Apfel – und john lennons HAUSMANN-trick beim reiskochen

Es gab Zeiten, da war sie die meistgehasste Frau der Welt. Provokateurin, Aktivistin, Gründerin einer Kunstbewegung – es gibt nicht vieles, was Yoko Ono nicht erlebt oder ausgelassen hat in ihrem Leben. Und einen Mann, weltberühmt und dann erschossen, auf ewig mit ihr verbunden.

Das Dakota Building in New York. In Socken laufe ich durch den Flur in ihre Küche. Die Schuhe musste ich an der Eingangstür ausziehen, wegen des weißen Flauscheteppichs. Der ist in der ganzen Wohnung ausgelegt und schluckt wie Schnee jedes Wort, das zu laut gesprochen wird. Der Weg führt vorbei an einer Gemäldegalerie, einen Magritte kann ich im Vorbeigehen erkennen. Dann geht es links durch eine Tür und man steht in der Wohnküche. Komisches Gefühl, Yoko und Küche. Aber klar, auch eine Yoko Ono braucht einen Tisch (rechteckig, aus Stein) zum Frühstücken oder Abendessen, und Geschirrhandtücher, die gerade zum Trocknen am Herd hängen. Der ist Teil einer Einbauküche aus streitbar gelbem Holz. Die Arbeitsfläche ist poliert, sicher hat Yoko Ono eine Putzfrau.

Dann steht sie in der Tür. Auch in Socken. Sie ist sehr klein, noch kleiner, als ich sie mir vorgestellt habe. Und sehr leise, wenn sie mit ihrer fast durchsichtigen Stimme sagt: „Hi, I’m Yoko.“ Dabei neigt sie ihren Kopf leicht und sehr japanisch nach vorn.

Wie ein junges Mädchen steht sie da mit ihrer Kimonofigur, und sieht doch auch alt aus. Sie trägt eine schwarze und fellbesetzte Strickjacke, den Reißverschluss hat sie hochgezogen, und eine Brille, violett getönt, wie einen Zwicker fast bis auf die Nasenspitze geschoben. Die Wimpern sind dick getuscht, die Lider schimmern golden. Nur der Hut fehlt heute.

„How are you?“ Yoko Ono kichert. Was für eine Frage! „Dieses Wochenende muss ich noch zwei Texte fertig kriegen. Dann nach Wien, für einen Vortrag glaube ich. Dann weiter nach Japan, in Tokio gebe ich ein Konzert. Dann Frankfurt. Ich glaube, dann kommt Berlin, da kriege ich ja noch diesen Preis.“

Für was genau, weiß sie gerade nicht mehr, es sind ja auch so viele, immer wieder – fast so viele wie Reisen um die Welt, bei denen sie ihre Musik, ihre Kunst, ihre Worte verbreitet.

Es geht ihr also gut, die Fast-Achtzigjährige jettet um die Welt und das kostet Energie. Und von der scheint sie viel zu haben. Ihr Rezept dafür klingt ziemlich amerikanisch: „Regular exercise“, sagt sie, und meint zwar nicht das Fitnessstudio, aber das tägliche Runden-Drehen, meist im angrenzenden Central Park. Sie hat es auch schon mit makrobiotischer Diät versucht. Alles, was danach kommt, passt in den einen durch und durch amerikanischen Satz: „Lebe deinen Traum. Alles ist möglich.“

Japanisch geboren, amerikanisch sozialisiert. Ist sie mehr Japanerin, Amerikanerin, oder einfach nur undefinierbare, weil einzigartige, Künstlerin?

Yoko Ono streckt die Hände vor sich aus und legt sie auf die Tischplatte, die mit Mosaiksteinchen verziert ist. Sie hat ganz kleine, zierliche Hände. Ehrliche Hände. Eigentlich müsste sie mit diesen Händen Geige spielen.

Sie macht anderes: Kunst, Musik. Twittern, E-Mails, Facebook, Blogs pflegen, mit der ganzen Welt in Verbindung sein. Yoko Ono liebt das schier unendliche virtuelle Universum, ihre knappe poetische Sprache passt in diese Zeit: Twittereinträge als Haiku 2.0. Hunderte, wenn nicht Tausende E-Mails bekommt sie jeden Tag, und sie versucht immerhin, die eine oder andere persönlich zu beantworten. Und Nachrichten von ihrer Familie? Wie oft sieht sie ihre Kinder? „In unserer Familie sind wir alle sehr konzeptuell, auch John war so“, antwortet sie. „Wir kommunizieren durch die Luft. Wir sind eine komische Familie.“

Und das ist ein – wie soll man sagen – unkonventionelles Interview. Von der Frage nach der Familie schweift sie weiter zu fernen Planeten. Denn Yoko Ono interessiert sich nicht nur für virtuelle, vielleicht auch telepathische Kommunikation, sondern auch für Millionen Jahre alte Gesteinsbrocken vom Mars und die Wiedergeburt („Natürlich lebe ich nicht zum ersten Mal“). Diese Dinge erklärt sie so selbstverständlich, dass sie plötzlich fast logisch scheinen. Auch die Sache mit der Magnetkraft der Erde, die immer schwächer werde: „Vielleicht schwindet sie bald ganz. Und uns hält hier nichts mehr, wir fliegen ins Universum, wie einst die Leute vom Mars.“ Dann unterbricht sie sich selbst: „Isn’t it amazing?“ Ist das nicht faszinierend? Um gleich weiter zu fragen: „Welches Geräusch macht die Erde, wenn sie sich dreht?“

Schon eine abgedrehte Welt, in der sie da lebt.

Der Ort, an dem Yoko Ono wohnt, ist sehr real und nur drei oder vier Stockwerke von der Erde entfernt. Das Dakota Building liegt in der Upper Westside, 72. Straße, direkt am Central Park. Eine Luxusadresse. Dirigent Leonard Bernstein hat hier gewohnt, Sting, und Frankenstein-Monster Boris Karloff. Und kaum hundert Meter von der Haustür liegt der Central Park mit seinen Strawberry Fields. Spätestens hier führt kein Weg vorbei am Thema ihres Lebens: John Lennon, der Mann, der Yoko Ono zur zeitweilig meistgehassten Frau (beschuldigt, die Beatles auseinandergetrieben zu haben), bestimmt aber zur berühmtesten Witwe der Welt gemacht hat.

Auf den Strawberry Fields wachsen im Sommer Wilderdbeeren. Aber auch im Winter bleiben die Touristen auf dem Weg, der quer durch den Park führt, stehen und posieren für ein Erinnerungsfoto: Auf dem kreisrunden Steinmosaik mit der Inschrift „Imagine“ und der roten Rose formen sie mit den Fingern das Peace-Zeichen.

Die Erinnerung ist überall und immer da. Wenn Ono aus der Haustür geht, kommt sie durch das Tor, in dem ihr Mann am 8. Dezember 1980 von einem geistig verwirrten Attentäter erschossen wurde.

An der Stelle, an der man eine Küchenuhr vermuten würde, hängt eine große Schwarz-Weiß-Fotografie von Yoko und John. Es müssen die 60er-Jahre sein, da hatte sie noch fast hüftlange Haare. Lennon ist für Yoko Ono aber keine monochrome Vergangenheit. „John ist hier überall, er ist immer noch da“, sagt sie, fährt über den Tisch: „Hier, das hat er alles angefasst.“ Lennon ist auch Yoko Ono, und Ono ist Lennon. „Wir waren uns sehr nah“, sagt sie mit Nachdruck, aber ohne Nachfrage. Ono zelebriert, inszeniert diese Beziehung, seit sie sich vor fast einem halben Jahrhundert das erste Mal trafen.

Alles fing mit einem Apfel an.

1966. Yoko Ono hat eine One-Woman-Show in der Londoner Indica Gallery. Alles ist fast fertig für die Eröffnung, auch der Apfel auf dem Plexiglas-Podest, auf dem das Wort „Apple“ klebt. Der Galerist unterbricht Ono bei den letzten Vorbereitungen und stellt sie einem jungen Mann vor: „Sie ist die Künstlerin!“ Dann zu ihr: „Und das ist John!“ Lennon grüßt, und geht auf das kleine Podest zu, nimmt den Apfel und beißt zu. Yoko Ono ist empört. Der Apfel ist ihr Kunstwerk! (Und wird später noch berühmter werden – als Logo eines Weltkonzerns.)

An einer Wand baumelt ein Hammer, daneben ein paar Nägel: Das Publikum soll „Painting To Hammer A Nail“ vollenden. Kunst zum Mitmachen, das gehört zu Onos Vision. John fragt, ob er einen Nagel einschlagen dürfe. Wenn er fünf Shilling bezahle, dann sei es okay, sagt sie. Er hat kein Geld dabei und macht einen Gegenvorschlag: Fünf imaginäre Shilling, wenn er einen imaginären Nagel einschlagen dürfe. Dann sieht Lennon sich weiter um, geht zu einer Leiter mitten im Raum. Mit der Lupe, die von der Decke baumelt, kann er das Wort lesen, das Yoko auf einem Bild an der Decke befestigt hat: „Yes“.

Dieses „Ja“ beeindruckt John nachhaltig. Kein „Fuck you“ oder „Go to hell“. Einfach nur „Yes“. Ein Ja zur Kunst, ein Ja zum Leben. Das gefällt ihm.

„So eine positive Botschaft in dieser Zeit! Die meisten Künstler damals waren machohaft, fast aggressiv“, sagt Jon Hendricks.

Hendricks kennt Yoko Ono gut. Seit Jahrzehnten begleitet er sie als Kurator und Freund. Ein gutmütiges Gesicht hat er, eine runde kleine Hornbrille, schwarzes Hemd, in der Hand einen Leinenbeutel. Und der eigentlich sehr bedächtige Mann schwärmt auch nach Jahren noch: „What a brilliant mind! Sie ist einfach nur genial!“ Hendricks kennt Yoko privat, er geht bei ihr ein und aus. Und er kennt ihre Kunst, weiß, was die Werke in der Galerie Crozier Fine Arts in Tribeca für eine Geschichte haben.

Dort wandert er in einem weißen, weitläufigen Raum umher, erklärt Zeichnungen und Objekte: Es ist eine Auswahl von Kunstwerken, die im Februar nach Frankfurt reisen – zur Yoko-Ono-Retrospektive in der Frankfurter Schirn. Auch der Apfel ist wieder hier, und der Hammer mit den Nägeln. Die Auswahl soll eine Art Spiegelbild ihres Schaffens sein: konzeptionelle Kunst über Genre-Grenzen hinweg. Nur Videos und Klangkunst fehlen – zumindest auf den ersten Blick.

Hendricks zeigt auf ein Leporello mit schwarz-weißen Kalligraphie-Zeichnungen und stößt plötzlich einen raumfüllenden Urschrei aus, zieht ihn im Vibrato in die Länge. Bricht abrupt wieder ab und sagt: „Man kann das auch als Geräuschcollage sehen.“

Sicher hätte Yoko Ono nichts gegen diese Auslegung, sie ist bekannt für ihre Experimente mit Musik und Geräuschen aller Art. In ihrer Küche aber wirkt sie geradezu zahm, und sehr nachdenklich, wenn sie feststellt, dass die Retrospektive ja nicht nur der Blick auf 60 Jahre Kunst sei, sondern auch auf ihr Leben. Yoko Ono verkörpert das Prinzip des Lebens als Gesamtkunstwerk. „Manchmal verstehe ich den Sinn dessen, was ich mache, erst hinterher. Die Ideen kommen ja einfach zu mir, ich suche sie nicht, und ich hinterfrage sie nicht.“

Zum Beispiel die Idee für Grapefruit. „Grapefruit“ ist quadratisch, dick und klein, und liegt in der Crozier Gallery neben dem Hammerwerk. „Book of instructions and drawings“ steht unter dem Buchtitel. Es ist eine Sammlung von Anleitungen für Performance und Alltag. Etwa die Empfehlung, einen Tag lang mit einem leeren Kinderwagen in der Stadt herumzufahren. Oder: „Wenn die Schmetterlinge in deinem Bauch verschwinden, schicke gelbe Todesanzeigen an deine Freunde.“ Und: „Look into the sun until it becomes a square.“ So ein Quatsch, könnte man sagen, oder man denkt an den Augenblick, in dem Bilder und Formen auftauchen, wenn man nur lang genug an einem See sitzt und in die stille Oberfläche des Wassers blickt. Ein Heiligenschein für das scheinbar Banale.

Deshalb heißt wohl auch John Lennons Vorwort zu dem Buch einfach nur: „Hi. I want you to meet Yoko Ono.“ Das ist wenig und zugleich sehr viel, also klassisch konzeptionell. Denn in der Konzeptkunst ist die Ausführung des Werks zweitrangig und der Künstler muss es nicht selbst vollenden. Was zählt, sind Konzept und Idee, Andeutungen. Skizzen, Schriftstücke. Anleitungstexte statt fertiger Bilder oder Skulpturen. Entmaterialisierung, Mitmachkunst mit der Aufforderung: Hinterfragt eure gewohnten Sichtweisen, Begriffe und Zusammenhänge der Welt! Erfindet neue Regeln!

„Wenn das funktioniert, ist das eine wunderbare Form der Energie“, sagt Ono. „Das gibt den Menschen etwas: spirituelle Inspiration, Begeisterung.“

Yoko Ono glaubt nicht an Gott. Aber sie glaubt an die Kraft der Gedanken, und ist felsenfest davon überzeugt, „dass die menschliche Rasse eine vielversprechende Zukunft vor sich hat“. Wer die Welt bewegen will, könne das auch – allerdings mit einer Einschränkung: „Ein Traum, den du allein träumst, ist nur ein Traum. Ein gemeinsam geträumter Traum ist Realität“, sagt sie und klimpert verzückt mit den Augenlidern. Mit praktischen Fragen kann sie weniger anfangen, zum Beispiel wenn ich wissen will, wie ein guter Arbeitstag anfängt. Mit einer Tasse Kaffee, oder eher Tee? „Die Ideen sind schon morgens da“, ist ihre Antwort.

Hinter ihrer Spiritualität und dem Enthusiasmus steckt aber eine zähe Aktivistin und Kämpferin für den Weltfrieden. Und bei diesem Thema schiebt sich auch John Lennon wieder ins Bild: Da steht ein großes Bett, zwei langhaarige Halbnackte im Pyjama kuscheln und lauschen ihren Gästen, die langhaarig um das Bett auf dem Boden sitzen, Gitarre spielen und „Give peace a chance“ singen. Das legendäre „Bed-in“ waren ihre Flitterwochen, und „Big Brother“ noch längst nicht erfunden.

1969 war es auch, als die beiden jeweils zwei Eicheln an 123 Staatschefs weltweit verschickten, zusammen mit einem Brief und den Worten: „Pflanze sie für den Frieden.“ Die Resonanz war nicht allzu groß, erinnert sich Ono. „Ich glaube, Golda Meir sagte damals zwar:, Ich weiß nicht, wer diese Leute sind, aber wenn sie für den Frieden sind, finde ich das gut.'“ Der Einzige, der tatsächlich einen Friedensbaum pflanzte, war Tito, der langjährige Diktator Jugoslawiens. Doch Ono glaubt weiter fest an das Gute. 2009, zum 40. Jubiläum von „acorn“, schickte sie Barack Obama den Brief. Doch soweit Yoko weiß, wachsen vor dem Weißen Haus bisher keine Eichen.

Wie nennt man so etwas? Happening? Event? Performance? Wenn irgendwie alles passt, liegt man mit Fluxus nicht ganz falsch, eine Kunstrichtung, die Yoko Ono mit begründet hat. Weil der Musiker John Lennon aber berühmter war als die Künstlerin Yoko Ono, ist auch heute noch weitgehend unbekannt, dass sie eine der Lichtfiguren dieser vielleicht radikalsten, experimentellsten Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts war, einer Art Total Recall von Dada. Die Gründung des Künstlerkollektivs und der Begriff stammen vom Litauer und Ono- Freund George Maciunas, der sich den Begriff aus der Medizin borgte. Hier heißt Fluxus „fließende Darmentleerung“, was wiederum den Dadaisten Hans Arp dazu brachte, Fluxus als Antikunst zu bezeichnen, die „unmittelbar den Gedärmen des Dichters entspringt“. Fluxus ist Musik, Aktion und Happening, bei dem collageartige Aktionsabläufe, akustische und choreografische Ausdrucksformen in einem „Konzert“ zusammentreffen.

Mit ihren jahrzehntealten Werken beeinflusst Yoko Ono bis heute die Arbeit vieler junger Künstler; mittlerweile sind auch die Medien, mit denen sie schon damals arbeitete, in der Mitte der Gesellschaft und der Kunstwelt angekommen. Eine Subkultur, die heute fast schon Mainstream ist. Und doch sind ihre Werke aus den 60er-Jahren ein Gegenentwurf zur aktuellen Kunst, die sich immer pompöser, größer, opulenter gibt, Materialorgien mit Jeff Koons schrillen Objekten als Flaggschiff der Bewegung, aber ohne sozialpädagogische Ambitionen. Ein Gegenentwurf auch zur Kunst als Teil der Waren- und Konsumwelt, oft eher subtil, und manchmal ganz offensichtlich. Als etwa das Künstlerduo Elmgreen & Dragset 2010 einen Prada-Store mitten in die texanische Wüste pflanzte. Oder als die Künstlerin Leïla Menchari die Schaufenster des Pariser Flagship-Stores von Hermès inszenierte.

Wenn Yoko Ono überhaupt irgendetwas absurd findet, dann wohl die Vorstellung von Kunst als Ware (wobei: bei ihrem Vermögen dürfte es nicht allzu schwer sein, idealistisch zu bleiben). Die Betrachter ihrer Werke sind keine Statisten. Sie sind Koproduzenten einer Kunst, die den Abstand zwischen Objekt und Betrachter aufhebt, damit er eintauchen kann in eine atmosphärisch dichte Kunstwelt, die einzig aus Ideen besteht. Und die haben in Onos Augen „den Vorteil, dass sie bleiben. Material dagegen verfällt.“ Ein Beispiel sei der Stuhl aus einer ihrer Grapefruit-Instruktionen: „Verbrenne einen Stuhl“, heißt es da. Yoko Ono zeigt auf den Stuhl am Tischende: „Aber selbst wenn der verbrennt, ist er ja nicht nur ein Haufen Asche, sondern weiter da – in meiner Vorstellung.“

Kunst in Gedanken ist auch „Morning Piece“. Schauplatz war 1965 die Christopher Street, Namensgeber des Christopher Street Days, Geburtsstätte der Gay-Bewegung. Heute hat sich hier die Boheme breitgemacht, es gibt feine Petit Fours in einer Konditorei, vor der Hausnummer 87 tritt eine Frau mit Fönfrisur aus ihrem Kosmetikladen und versucht, Passanten mit Salzen aus dem Toten Meer in ihr Geschäft zu locken. Als Ono hier wohnte, kostete die Miete etwa 50 Euro. Weil sie sich auch die nicht leisten konnte, half ein Künstlerfreund aus. Ono wollte trotzdem keinen „ordentlichen“ Beruf, sie hatte schließlich eine Berufung – und druckte lieber Flyer. „Morning Piece to George Maciunas“ stand darauf. „Will be performed on the roof of 87 Christopher Street. You may come between sunrise and noon. Wash your ears before you come.“ Bebildert war die Einladung mit Sonnenstrahlen so dick wie Schmetterlingslarven.

Es waren vier oder fünf Leute, die dann mit gewaschenen Ohren kamen. Ungerührt offerierte Ono ihnen auf dem Dach Scherben, beklebt mit Daten, zum Beispiel dem fernen 18. Mai 1989, und verkaufte diese künftigen Morgen zu willkürlichen Preisen. Leise und subversiv stellte sie damit die Idee von Kunst als Kommerz auf den Kopf – der Kauf von Zukunftsideen als Anfang einer Gedankenkette: Wer bin ich an diesem Morgen in 30 Jahren, wer war ich heute Morgen? Es hat etwas Zugewandtes, Positives, es ist kein Festhalten, wehmütiges Erinnern.

Dass ihr da nicht jeder folgen kann, ist Yoko Ono gewohnt. „Ich war schon als Kind der Außenseiter“, erklärt sie. Schon damals habe keiner ihren Blick auf die Dinge verstanden, und sie suchte nach einer Überlebensstrategie in einem „lebensfeindlichen“ Umfeld. „Ich hatte einen starken Vater, aber ich habe auch seine schwache Seite gesehen. Ich habe Scheinheiligkeit gesehen. Ich hätte eingehen können, zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Aber ich habe mich freigeschwommen, mich über Wasser gehalten.“

Woher hat sie ihre Ideen? Sind die angeboren?

„Ich wusste schon mit vier Jahren, dass ich eine Künstlerin bin. Ich hatte damals schon so schräge Ideen. Aber ich konnte noch nicht schreiben. Also half mir eine ältere Freundin. Der erste Text ging um einen Ball, in dem wir alle versammelt sind. Manche von uns konnten sich so wie in einem Hamsterrad rollen. Andere eben nicht.“

Also schon damals eine Konzeptkünstlerin?

„Genau. Und dann hatten wir diese Obstwiese im Garten. Meine Mutter setzte sich da oft mit uns zum Picknicken hin, mit Pfirsichen und Äpfeln. Und ich dachte, wenn man den Pfirsichkern halbiert und einen Apfelkern, und dann beide zusammenklebt – dann kommt ein ganz neuer Baum dabei heraus.“

Wie fand ihre Mutter die Idee?

“ Sie konnte wohl nichts damit anfangen.“

Yoko geht noch nicht zur Schule, da lernt sie schon Komposition, spielt Mozart, Bach und Beethoven am Klavier: Wenn schon der Vater seine Pianistenkarriere dem Bankerdasein geopfert hat, soll wenigstens die Tochter eine Virtuosin werden. Erst nach der Schule und dem Krieg zeigt sich der Eigensinn der Tochter aus gutem Haus, sie ist die erste Frau, die sich an der Gakushuin-Universität zum Philosophiestudium einschreibt. 1956 heiratet sie gegen den Widerstand ihrer Eltern den japanischen Komponisten Toshi Ichiyanagi, bricht ihr Studium ab und zieht in ein Loft in der Chambers Street im Süden von Manhattan, ein paar Straßen entfernt von der Wallstreet.

Heute ist von dem Loft nicht viel mehr übrig als eine verwaschene Fassade, über die sich eine Feuerleiter im Zickzack bis ins oberste Stockwerk zieht. Durch eine vor Schmutz starrende Neonröhre scheint das Wort „Bar“, nebenan ein Nagelsalon, den Laden unten im Haus gibt es nicht mehr, die rostigen Rollos sind mit Graffitis überzogen.

Kurator Jon Hendricks legt den Kopf in den Nacken und seufzt: „Vielleicht ist das hier die letzte Gelegenheit, diesen Originalschauplatz zu sehen.“

A uch vor mehr als 50 Jahren ist es still in der Gegend. Aber es ist die Stille des Aufbruchs. Onos Loft avanciert zur Bühne der modernen Kunstszene New Yorks. George Maciunas, George Brecht, Marcel Duchamp, John Cage gehen hier ein und aus – damals noch Unbekannte, heute große Namen. Erst hier und jetzt wird Fluxus zur Bewegung, auch wenn Künstler wie Ono schon vorher mit dieser Kunstform experimentieren: Minutenlang kann man in dem kleinen Film von 1955 einem Streichholz zusehen, wie es in Zeitlupe abbrennt.

„Ein Treffen mit sich selbst“ nennt Yoko Ono das Stück. 1965 sitzt Ono auf der Bühne der Carnegie Recital Hall, die langen schwarzen Haare fallen über ihre Schultern, neben ihr liegt eine Schere. Das Publikum soll nach eigenem Ermessen Stücke ihrer Kleidung abschneiden. Erlaubt ist alles. Hemd, Rock, Wäsche, Haare. Totales Ausgeliefertsein. Die Leute schneiden. Erst das Kleid, dann das Unterhemd, die Träger ihres BHs. Ono selbst hat einmal gesagt, sie habe das wegen des Geräusches gemacht, wegen des „Schnipp schnapp“. Aber in ihren Augen stehen Tränen, sie will ausbrechen. Sie bleibt sitzen.

Macht Grenzen überschreiten glücklich? Ono nimmt jetzt die Hände vom Tisch, und lässt sie bleischwer wieder fallen. „Was heißt denn glücklich sein? Da gibt es keinen Maßstab. Ich glaube, ich bin ziemlich glücklich.“

Vielleicht ist Onos Kunst auch deshalb so heilsam, weil sie keine Hemmungen kennt und keine Nerven. „Klar gibt es Grenzen“, sagt sie. „Um überschritten zu werden.“ 1968 sieht die ganze Welt sie nackt – auf einem Plattencover mit John Lennon. Ono geht an die Grenzen, an die eigenen und die ihres Publikums. Marina Abramovic ist ohne sie kaum denkbar.

Die Provokation zieht sich bis heute durch ihr Werk. „Ich spiegle doch nur die Realität“, sagt Yoko Ono. Tabus gebe es heutzutage ohnehin keine mehr. „Nicht der Sex, nicht die Nazis.“

Auch gemeinsam mit John Lennon hat sie ein paar Tabus gebrochen. Und Gleichberechtigung gelebt. Nach Seans Geburt fasste er fünf Jahre keine Gitarre an, spielte mit dem Kind, buk Brot. Sie machte Kunst, hauptsächlich. „John war der Hausmann. Er wusste, wie man Reis kocht: Reis in den Topf, dann die Hand flach hineinlegen und so viel Wasser drauf, bis die Hand bedeckt ist.“

Aber Lennon und Ono machten auch gemeinsam Musik, mit der Plastic Ono Band zum Beispiel. Ein Stück, aus dem die experimentelle Eigenwilligkeit der Musikerin Ono herausklingt, heißt „AOS“. Durch die klassisch ausgebildete Stimme scheint der Stil des japanischen Kabuki-Theaters, das Gepresste und Harsche, Krach, Schnauben, Knurren. Ihre Stimme ersetzt das Free-Jazz-Saxofon, unterbrochen von gehauchtem Röcheln, bis sie in ein Summen übergeht, um sich dann von einem markerschütternden Geschrei in eine sirenenartige Gesangslinie aufzulösen.

Schön geht anders. Aber wie?

„Schön ist, was du liebst.“

In Frankfurt wird auch ein Plexiglaspodest zu sehen sein, aus dem eine spitze Nadel ragt. Die Nadel, sagt Yoko Ono, stehe für die Stiche, die einem zugefügt werden, für den Schmerz. Auf dem Podest steht aber auch: „Forget it“. Also Schwamm drüber?

Yoko Ono lacht: “ Ja, stimmt. So sollte ich das wohl sehen. Aber es ist auch heute nicht leicht. Es ist nicht ein tiefer Stich – es sind vielleicht 20 kleine.“

Auch ihr großartiger Song „Walking On Thin Ice“ ist Vergangenheitsbewältigung. Das Video dazu entstand kurz nach Lennons Tod und führt in den Central Park. Eine dünne Schicht Nebel liegt über dem See, Ono sitzt am Ufer, den Blick ins Nichts. Dann sieht man sie allein durch die Häuserschluchten Manhattans gehen, die Hände in den Taschen der weißen Felljacke vergraben, eine große Brille als Trauerflor. In den regennassen Straßen leuchten die roten Rücklichter der Müllabfuhr. Auf dünnem Eis. Idyllische Szene, der kleine Sean klettert auf ihren Schoß. Dann wieder die zerbrechliche Yoko auf einer kahlen Parkbank, heulend-würgende Geräusche mischen sich in die feine Melodie.

Es wird Abend und ich will nun doch noch wissen, was eigentlich aus dem Apfel geworden ist, in den Lennon vor 47 Jahren gebissen hat. Yoko Onos Augen leuchten. „Der schrumpelige Rest muss noch in irgendeinem Archiv liegen. Ja! Isn’t it amazing?“ Wo genau, das wisse sicher Jon.

Auf dem Weg zurück über den weißen Flokati frage ich den Kurator nach dem Apfel. „Ach was, den gibt’s nicht mehr“, sagt Jon Hendricks. Er lacht. „Den hat irgendwer weggeworfen. Er existiert nur noch in Yokos Welt.“

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