Einzelzimmer im Yankee-HoteI

So schlecht das Jahr 2001 für Wilco auch war, so zufrieden ist Jeff Tweedy, der Sänger und Chef, mit dem Status Quo. Nach Label- und Personalwechsel herrschen endlich Harmonie und klare Rollenverteilung

Der erste Zeuge sagt aus: „Die Band Wilco hat sich entschieden, auf dem Seitenstreifen zu laufen und nicht in der Mitte der Straße. Das ist nicht unbedingt das, was sich die Plattenfirma von ihnen wünscht“ Ein Sprecher des Labels Reprise, der im August 2001 die Entscheidung kommentiert, Wilcos Album „Yankee Hotel Foxtrot“ nicht zu veröffentlichen.

Zeuge Nummer zwei ist Howie Klein, der im Juli 2001 als Reprise-Chef ausgeschieden war. „Ich glaube, Wilco war die Band in unserem Haus, die am meisten prädestiniert war für ein langfristiges artist development“, sagt er. „Irgendein Label wird das Geld einstecken für die ganze Mühe, die Reprise und Warner in sie gesteckt haben.“

Zeuge drei: Wilco-Sänger Jeff Tweedy. Im Februar 2002, bei seinem Besuch in Hamburg, steht „Yankee Hotel Foxtrot“ vor der weltweiten Veröffentlichung auf dem Label Nonesuch. Nonesuch veröffentlicht sonst E-Musik-Platten vom Kronos Quartet und Philip Glass und gehört auch zum Warner-Konzern. Die Bänder hatten Wilco damals Reprise für 50 000 Dollar abgekauft, angeblich. „50 000, ja, das sagt man. Im Endeffekt hat AOL Time Warner für diese Platte zwei Mal bezahlt, glaub mir.“

Die Namen sind austauschbar. Man kann fragen, wen man will, Dutzende von Bands, die Umstrukturierungen geopfert wurden oder nicht verkauft haben, touren mit great lost albums, überall. „Wilco gegen die Industrie“ ist ein ideeller Musterprozess. Die exemplarische Stellung hat er, weil im Verlauf eine Band mit hoch proportioniertem Medieninteresse und einen alles andere als schwierigen Album auf dem Seitenstreifen der Geschichte liegen zu bleiben drohte. Und Zeug Nummer vier, der Fotograf und Filmregisseur Sam Jones, hat nahezu voll ständiges Beweismaterial dafür, dass 2001 für Wilco auch in sozialchemischer Hinsicht ein Krisenjahr war.

Jones hatte sich schon länger gefragt, ob man die Produktion großer Rock’n’Roll-Platten zwangsläufig nur in Rückblicks-Filmen dokumentieren könne. Im Oktober 2000 meldete er sich auf gut Glück bei Wilco-Manager Tony Margherita – wenn seine Lieblingsband etwas Neues produzieren würde, dachte er, müsse das doch ein Meilenstein werden. Man lud ihn samt Kamerateam in den Band-Loft in Chicago. Ein Drittel der neuen Platte sei zwar schon fertig, aber schon am ersten Aufnahme-Drehtag Anfang Januar nahm Jeff Tweedy den Regisseur beiseite und erklärte ihm, man werde mehr oder weniger von vorn beginnen: Die Gruppe habe sich eben von Schlagzeuger Ken Coomer getrennt, den Tweedy 1994 nach dem Split von Uncle Tupelo mitgenommen hatte. Der Regisseur beobachtete den Einstieg von Nachfolger Glenn Kotche, Monate später den Abgang des multibegabten Keyboarders, Gitarristen und Sound-Gestalters Jay Bennett. Sogar den Telefonanruf, bei dem Manager Margherita das negative Diktum von Reprise mitgeteilt wurde, hat er auf Film – The Breaking Of „Yankee Hotel Foxtrot“. „Ich will keine Soap Opera daraus machen“, sagt Sam Jones, dessen Film im Herbst auf DVD erscheinen soll, „aber für die Band haben diese Probleme das Jahr eindeutig bestimmt.“

Das Jahr ist um, das Ende gutartig. Jeff Tweedy hat in der Tanzhalle St. Pauli, wo sonst House-Nächte stattfinden, mit einer schüchternen, aber Atem abschnürenden Troubadour-Solo-Show die Deutschland-Promotion für die neue Platte eröffnet. Keine Zeichen dafür, dass Schicksal und Ereignisstürze ihn überrumpelt hätten. Er hat alles geordnet, hat für alles gute Erklärungen, und anders als früher (Zeugen berichten, dass damals vor allem Jay Bennett geredet habe und Tweedy sehr zähflüssig gewesen sei) gibt er sie auch ab. Vieles scheint er im Nachhinein sogar irre lustig zu finden.

Daran, dass er in gewisser Weise nun von den Leuten proudly presented wird, die ihn kürzlich so brüskiert haben, hat er nicht mal gedacht: „Eine Plattenfirma ist für mich etwas sehr Abstraktes, über das ich gar nicht nachdenken kann. Klar steckt da eine Ironie drin, WEA gehört AOL Time Warner, Reprise gehört WEA, Nonesuch gehört Reprise. Aber es war ja nicht so, dass unsere Entscheidung, Reprise zu verlassen, das Ergebnis eines Vorstandstreffens von Warner gewesen wäre, in der Art: ‚Wir brauchen diese Wilco-Platte nicht, um unsere Bilanz fürs vierte Quartal abzusichern.‘ Die kennen uns doch nicht mal, wir leben in völlig entlegenen Gebieten ihres Reiches. Es war die Entscheidung von ein oder zwei Personen, dass es den Aufwand nicht wert sei, eine Wilco-Platte zu verkaufen. Ich glaube doch nicht, dass es da eine Verschwörung oder sowas gab. Leute in Machtpositionen haben etwas entschieden, ganz einfach.“ Ganz so undramatisch, wie Tweedy sagt, kann der Disput um „Yankee Hotel Foxtrot“ nicht gewesen sein. Wenn eine Band den fertigen Mix abliefert, dauert es gewöhnlich höchstens zwei Tage, bis der A&R-Mann die erste Rückmeldung gibt. Wilco mussten verstörende zwei Wochen warten. „Eigentlich geht man ja davon aus, dass der A&R-Mann auf der Seite der Band ist, und wenn eine Platte zwei Wochen lang in einem Büro rumliegt… ich finde, das kann ihr nicht gut tun. Aber, wie gesagt, es gab keinen richtigen Dialog. Es hieß nur: ‚Wir mögen die Platte so nicht, ihr müsst ein paar Sachen ändern.‘ Und wir haben geantwortet, dass wir überhaupt nicht daran interessiert sind, irgendetwas zu ändern. Wir sind vertraglich verpflichtet, eine Platte zu machen und sie abzuliefern. Wir sind nicht verpflichtet, sie hinterher nochmal zu verändern.“

Die Band muss sich sicher gewesen sein, dass sie einen Abnehmer finden würde. Auf der Website war das zurückgekaufte „Yankee Hotel Foxtrot“ während der Wartezeit nur als Stream zu hören (bis auf wenige Ausnahmen, die als MP3s dastanden), also nicht in Selbstbrenn-Qualität. Trotzdem waren, zumindest ein paar Monate lang, die Drähte gekappt. Wilco auf der eigenen, einsamen, herbstlich grünen Insel, eine September-Tour als unsigned band. Ein Idealzustand, sagt Jeff Tweedy, Musik ohne geschäftlichen Kontext. Ihre Aufnahmen seien immer so billig gewesen, die Touren hätten sich zuschussfrei selbst finanziert, und einen Tantiemen-Scheck (der in der Regel erst nach 250 000 verkauften Exemplaren kommt) hat er bis heute nicht gekriegt.

„Wir versuchen, uns selbst zu genügen“, sagt Tweedy. Und weil da ein unwillkommener Zwischenton aufplatzt, erklärt er, dass er es doch nicht auf demonstrative Opposition anlege: „Ich habe nie versucht, die Lieder so zu machen, dass sie nicht ins Radio kommen. Ich wollte nie irgendwelche Hörer ausgrenzen oder signalisieren: Nur die und die Leute sind schlau genug, um unsere Musik zu kapieren.“ Kann man ihm schlecht vorwerfen, nicht Jeff Tweedy, der den Genie-Gedanken so energisch verwirft und über seine eigenen Songs sagt, dass sie auf Plastik und Papier gar nicht existieren, sondern im Kopf des kreativen Hörers überhaupt erst erschaffen werden – als ob er Vorlesungen in linguistischer Pragmatik genommen hätte.“In Wirklichkeit ist man selbst nur einer von vielen Hörern, sogar, wenn man etwas selbst geschrieben hat“, meint er.“Man muss über den Gedanken hinwegkommen, dass man die komplette Verantwortung dafür trägt, dass die Musik so ist, wie sie ist Ich jedenfalls bin am zufriedensten, wenn ich mich frage: Wie ist das nun wieder passiert? Wie habe ich das gemacht? Wie haben wir das gemacht?“

Das Personalpronomen rutscht hin und her, wenn Jeff Tweedy über Wilco redet. Wir, ich, manchmal verbessert er sich. Seit Jay Bennetts Abgang gibt es zumindest keinen Zweifel mehr, wer dieser Band den entscheidenden Input gibt: Von der Besetzung des ersten Countryrock-Albums „A.M.“ ist noch Bassist John Stirratt übrig, Keyboards spielt der frühere freie Mitarbeiter Leroy Bach, am Schlagzeug sitzt jetzt Tweedys Wunschkandidat Glenn Kotche. „Die Trennung von Ken hat vor allem damit zu tun, dass wir uns sozusagen in einen anderen Schlagzeuger verliebt haben und unbedingt mit ihm spielen wollten. Das ging nicht gegen Ken persönlich oder gegen seine Art zu trommeln, es war mehr das Gefühl, dass wir mit Glen die beste Musik machen können. Darüber waren wir uns einig.“ Im Fall Jay Bennett liegen die Dinge etwas komplizierter.

Ein Blick auf Jeff Tweedys bekannte Vorgeschichte erklärt ein Stück weit, warum das alles so kommen musste. Uncle Tupelo hatte er Mitte der Achtziger mit dem High-School-Freund Jay Farrar gegründet, das 1990er Debüt „No Depression“ (von dem Tweedy heute sagt, dass es viel zu sehr nach Dinosaur Jr. geklungen habe) artikulierte Alt.Country Jahre vor der Begriffsbildung. Mit der Zeit merkte Tweedy, dass die Öffentlichkeit Jay Farrar als den Lennon der Band wahrnahm und ihm selbst die McCartney-Rolle zufiel: „Auf einmal war ich der Pop-Typ, der seichte Songwriter“, hat er vor fünf Jahren in einem Interview gesagt, „und Jay galt als poetisches Genie und die Hauptfigur von Uncle Tupelo.“ Sie hatten immer alles gemeinsam gemacht Farrar verließ ihn, machte Son Volt (und vergangenes Jahr die erste Solo-Platte „Sebastopol“). Tweedy gründete Wilco, unter peinlichster Vermeidung aller alten Fehler und nur mit seinen Kompositionen. „Ich geb’s zu, das ist schon eine recht merkwürdige Angelegenheit“, erklärte er anlässlich der Veröffentlichung des großen Doppel-Albums „Being There“, das wenig Ländlichkeit transportierte und nach edlem Sixties-Pop und Stones-Rock klang, „die anderen in der Band schreiben nämlich auch alle fleißig Songs. Aber dieses Mal lasse ich mir das nicht mehr so einfach aus der Hand nehmen, wie mir das damals bei Uncle Tupelo passiert ist.“ Da war sein nächster Jay schon in der Band, Jay Bennett, großer Musiker. Ein Typ, der selbst nach dem Ruder greift, wenn man nicht hinschaut.

Die Rock’n’Roll-Standard-Erklärung würde beanstandungslos durchgehen: dass der Ärger mit der Plattenfirma apokalyptische Spannung und Spaltung in die Band induziert hätte. Nein, sagt Tweedy, und fangt von vorne an. „Ich toleriere keine Gleichgültigkeit, okay? Ich will leidenschaftliche Musik machen und in einer Art von Geistesgemeinschaft mit meinen Leuten zusammenspielen. Stillstand kann ich nicht brauchen, auch keinen Krach, der die Kommunikation übertönt.

Wenn ich brüllen muss, um verstanden zu werden… nein, keiner hat gebrüllt, die Metapher ist unglücklich. Ich meine nur, dass da jemand sehr viel Aufhebens um sich selbst gemacht und sich vom Rest der Band abgesondert hat.“

Aber ist nicht der Sänger, Haupt-Songschreiber und Frontmann Jeff Tweedy noch mehr in Gefahr, sich abzusondern, ohne das zu merken? Ja, das passiert sowieso. Die Leute machen das, die Presse, die Fans, die ins Konzert gehen. Du stehst da, singst deine Songs, sie sind in der ersten Person Singular geschrieben, sie handeln von dir, also handelt die Band von dir. Und das ist ja nicht mal ganz falsch. Am Anfang habe ich mich in dieser Verantwortung sehr unwohl gefühlt und wollte ein bisschen davon auf die anderen abwälzen, damit es eine richtige Band ist. Das war eine unnatürliche Sache, ich habe ignoriert, dass es eine solche Rollenverteilung nun mal gibt. Ich will das, was Jay und die anderen beigetragen haben, nicht runtermachen. Aber es steht mir auch nicht zu, übertriebene Anerkennung auszuteilen. Genau das war das Problem mit Jay: Einer bei Wilco hatte das Gefühl, dass ich mehr Anerkennung beanspruche, als mir zusteht. Das geht gar nicht. Ich bin nicht clever genug, um die Meinung der Öffentlichkeit so zu beeinflussen.“

Vor Minuten hat Jeff Tweedy die Angelegenheit zwischen ihm und seinem Sideman als leichte Kommunikations-Unschärfe skizziert. Das reicht nicht. „Ich habe zu Jay gesagt: Schön, dann schreibst du alle Songs und stellst dich vorne hin und singst sie. Dann bist du eben der Bandleader“, erzählt er, ohne die nachmittäglich heitere Fassung zu verlieren, „die Leute würden doch trotzdem vor allem darüber reden, warum ich das zugelassen habe!“ Wie sehr dieser Zoff die Arbeit an „Yankee Hotel Foxtrot“ beeinträchtigt haben muss, kommt erst jetzt heraus, dass alles viel zu lange dauerte, dass es fruchtlose, eitle Diskussionen um die Liedreihenfolge gab und Tweedy der Motivation des Partners nicht mehr trauen wollte: „Es muss einem Musiker bei der Arbeit doch darum gehen, dass der Song besser wird, und nicht darum, dass er hinterher sagen kann: Ich habe das und das und das gespielt… Jay war offiziell noch Mitglied, da haben Jim (O’Rourke, d. Red.) und ich uns die Bänder vorgenommen, um die ursprünglichen Songs wiederherzustellen. Der Rest der Band hatte uns das Vertrauen ausgesprochen. Wir haben viel gelöscht, wir haben einiges umgebaut und umarrangiert, neue Teile eingespielt und sie reingeschnitten.“ Wie viel haben die zwei Freunde aus Chicago wohl übrig gelassen von Jay Bennetts Klangspuren?

Jeff Tweedy hat Entscheidungen getroffen. Wie die Plattenfirmen-Köpfe. Nimmt man das Ergebnis, die endgültige Musik, als einzigen Maßstab, waren sie richtig. Eine so signifikant stilsichere Platte gab es von Wilco noch nicht, vor allem eine Gitarrenplatte, selbstbewusst geschlagen, trotzdem brüchig und zweifelnd. Man hört den Widerhall von Kellerwänden, man sieht die Sonne durch angesprungene, fleckige Scheiben scheinen.

Tweedys gerettete Songs zeugen davon, dass er seine poetische Stimmlage gefunden hat, dass ihm mühelos originäre Bilder gelingen. „Es ist, wie wenn ich mich mit meinen Kindern hinsetze und wir gemeinsam malen“, erzählt er, „sie beurteilen das Ergebnis nicht von vorneherein, und die Welt würde nicht zusammenbrechen, wenn die Zeichnung hässlich wäre, aber irgendwie ist sie am Ende immer schöner, weil es eine so erfüllende Sache ist, sich einfach hinzusetzen und sich etwas auszudenken. So mache ich das auch. Ich glaube nicht, dass man schreiben kann, ohne sich selbst zu vergessen. Seitenlang den größten Quark zu schreiben und nicht immer zurück zublättern und es gleich zu beurteilen, ist ein gutes Training, um einfach alles loszulassen.“ Fertige Aufnahmen testet Tweedy, indem er sie beim Autofahren hört. Wenn er dabei zu viel darüber nachdenkt, wann er das nächste Mal abbiegen muss, stimmt mit der Musik etwas nicht.

Gezweifelt hat Jeff Tweedy nicht, als er bei der letzten Tournee am 17. September 2001 sein Lied sang: „I would like to salute the ashes of American flags/ and all the falling leaves filling up shopping bags.“ Wunderte sich nur, dass ein kleiner, lauter Teil des Publikums bei der puren Erwähnung der US-Flagge johlte, als ob alle anderen Songzeilen in dem Augenblick verschwunden wären. Bei einem Solo-Konzert in San Francisco hatte er ein halbes Jahr davor der Schicksais-Litanei „Sunken Treasure“ (J was maimed by rock’n’roll / I was tamed by rock’n’roll/ I got my name from rock and roll“) hinzugefügt: „I don’t need rock’n’roll“. Jetzt, wo er eine Band hat, die ihm eine Illusion von Harmonie gibt, in der kein Widerstand ihn davon abhalten kann, die Dinge fließen zu lassen, braucht er ihn wieder. Wilco proben täglich von elf bis drei, haben natürlich längst eine neue Platte fertig, wollen mit intensiver Arbeitsmoral vorankommen. „Anerkennung darf einem nicht die Motivation vergiften. Es kommt nicht darauf an, was man getan hat. Es kommt darauf an, was man tut“, sagt Jeff Tweedy. „Ich habe mir immer vorgestellt, dass eine Band wie ein echtes Kunst-Kollektiv funktionieren soll: Man trifft sich und benimmt sich sonderbar. You know, make shit up.“

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