Engel am Abgrund

Juli 1995 Nach elf Jahren Schaffenspause gab der einstige Popstar Scott Walker mit dem dunklen „Tilt“ ein neues Lebenszeichen. EIn Besuch bei dem Songschreiber in London.

Die beliebtesten, weil bequemsten Urteile über Scott Walker sind vor allem Ausdruck von Hilflosigkeit: Enigma, Eigenbrötler, Fatalist. Alles Blödsinn. Sein ehemaliger Manager Ed Bicknell, der inzwischen mit den Dire Straits Geld wie Heu scheffelt und dem seine sieben Jahre Arbeit für Walker einen Netto-Verlust von 150 Pfund Sterling eingebracht haben, weiß indes, wovon er spricht, wenn er sagt: „Scott ist der einzige Künstler, den ich jemals traf, für den das Wort Kompromiss nicht existiert.“ Die sieben mageren Jahre möchte er dennoch nicht missen. „Jederzeit“, antwortet er auf die Frage, ob er den wandelnden Mythos Walker wieder managen würde. Und auch Charles Negus-Fancey, Scotts derzeitiger Manager, verneigt sich tief vor seinem Klienten. Er schätzt vor allem seine Integrität, seine rückhaltlose Ehrlichkeit und die nahezu schmerzhafte Konsequenz, mit der Walker sich seine Musik abringt und die sein ganzes Leben bestimmt.

Scotts gelebter Rigorismus, der nie eifernd, religiös oder sonstwie doktrinär war, zieht sich wie ein roter Faden durch die Höhen, Tiefen und Untiefen seiner so beispiellosen wie unbeständigen Karriere. In Ohio war er 1943 als Noel Scott Engel auf die Welt gekommen.

Sein Vater war in der boomenden Öl-Branche tätig, und die Familie war nie lange sesshaft. Texas und Roy Rogers, Scheidung der Eltern, New York City, Talentwettbewerb im Madison Square Garden als „Scotty Engel, baritone from Denver“. Die erste Single auf RKO Unique mit 14: „When Is A Boy A Man“. Nach Kalifornien, ernster und, wie es den Anschein hat, unheilbarer Rock-’n‘ Roll-Infekt. Noch in den Fünfzigern eine Reihe High-School-Rock-45er für Orbit: „The Livin‘ End“, „Charley Bop“, „Bluebell“, das ansatzweise die Walker Brothers antizipierende „Golden Rule Of Love“, eine zeittypisch naive Teen-Ballade, die der kleine Engel jedoch bereits mit wissendem Pathos vorträgt In den Sechzigern dann einige weitere Solo-Singles und primär flotte, Fun-trächtige und Schnellschuss-verdächtige Veröffentlichungen mit den Moongooners, den Newporters, den Routers und den Dalton Brotliers. Mit John Stewart 1963 „Devil Surfer“ auf Martay Records. Alles mehr oder weniger verwegene, scheinbar ziellose Versuche, irgendeinen Durchbruch zu schaffen. Alles Flops. Und alles noch Southern California, alles Prolog. Die eigentliche Geschichte beginnt erst 1964, dem Geburtsjahr der Walker Brothers.

Jack Nitzsche produziert „Love Her“, definiert damit einen Panorama-Sound von solcher Schönheit und Durchschlagskraft, dass sein Lehrmeister Phil Spector blass wird vor Neid, und liefert den unechten Brüdern Walker das Blueprint für eine Hit-Fabrik und die Fahrkarte in den Pop-Himmel. Doch zuerst müssen noch die Flugtickets ins ferne England gelöst werden, denn Vietnam droht. Und Europa ist für den Jung-Twen eine Verheißung. Die europäische Kultur hat es ihm angetan, der Existenzialismus zerreißt einige Schleier, Scott liest Sartre und Camus, was man als junger Mann eben so liest. Nur ist seine Faszination weniger Ausdruck eines romantischen Fiebers, sondern geht tiefer, ist unbedingter, macht den Umgang mit ihm immer schwieriger. Als die Walker Brothers 1966 im Zenit stehen und nur noch die Beatles und Stones über sich haben, lebt Scott bereits in seiner eigenen Welt, vereinsamt. Er ist so berühmt und beliebt wie Mick Jagger und Paul McCartney, doch ihn schaudert bei dem Gedanken, daraus Kapital zu schlagen. Er scheut das Rampenlicht, hasst öffentliche Auftritte.

An dieser Stelle der Walker-Biografie ist dann immer die Rede von Selbstmordversuchen und einem Rückzug ins Kloster, weil einer beim anderen abschreibt. Der Suizid-Versuch ist indes mehr Signal als Fanal, und die paar Tage im Kloster verbringt er beim Studium gregorianischer Gesänge, einfach, weil er Ruhe braucht. Seine übersteigerte Angst vor jeder Art Menschenansammlung und Nähe ist freilich sehr real und macht die Ausübung seines Berufs als Popidol nicht eben leichter. Und so kommt das Ende der glorreichen Walker Brothers für niemanden überraschend.

Spätere Reunions des Trios in den 70er-Jahren zeitigen entweder große Hits bei musikalischer Belanglosigkeit („No Regrets“) oder kommerzielle Totgeburten trotz gewagtester und gelungenster Neulandgewinnung („Nite Flights“). Scotts Solo-Pfade entfernen sich im Zickzack-Kurs immer weiter von den Erwartungen seiner Fans. Mit zunehmender Entfernung wächst der Mythos vom großen Einsamen, gedeiht der Kult vom genialischen Unverstandenen. Hin und wieder „hurt“ (so nennt er das) Walker und macht eine schlechte Platte fürs Publikum, dann, genauso kompromisslos, legt er wieder ein Werk vor, das alle lieben wollen, aber meist nicht können. In den vergangenen 17 Jahren hat Walker nur zwei Alben fertiggestellt, und beide fallen in letztere Kategorie: „Climate Of Hunter“ (1984) und, vor wenigen Wochen, „Tilt“.

Scott Walker ist heute mehr Rationalist denn je, und „Tilt“ ist sublim, gehorcht bei aller Komplexität den Windungen seines Verstands. „Tilt“ mag verschlossen sein und schwer zu öffnen, doch gibt es nicht nur einen Schlüssel. Jede Mühe lohnt, denn „Tilt“ ist Kunst, große Kunst, kein Mimikry, kein weinerlicher Weltschmerz, sondern blanke Existenz. Hier und da stilistisch überhöht, das Vokabular zeitgenössischer (Pop-)Musik erweiternd, jedoch nie beliebig, nie platt. Und nie beschönigend. Die abgründig-bildhafte Dichtung und die musikalischen Fragmente zu Holocaust, Despotismus, Waffenhandel und Entfremdung sind so kältestarrend wie das Leben selbst. „Tilt“ isoliert den Hörer für wertvolle Minuten von dem Schwachsinn der herrschenden Kultur und ist dennoch das krasse Gegenteil von Eskapismus. „Tilt“ ist subversiv.

Verkäuflich wohl kaum. Negus-Fancey irrt, wenn er auf eine kollektive Intelligenz setzt, denn für eine solche liefert der moderne Musikbetrieb kaum Belege. Ein Manager muss freilich zweckoptimistisch bleiben, auch im Angesicht der cold hard facts of life. Und die lehren uns: Wenn es um Scott Walker geht und um „Tilt“, ist die Hoffnung auf Profitabilität eine irrationale.

Es sind diese Endzeit-Gedanken, die mich beschäftigen, während ich im Haus der Familie Negus-Fancey in Ladbroke Grove auf Scott Walker warte. Zwei Wochen mit „Tilt“, Tag und Nacht, stimmen nicht eben zutraulich. Das sonnendurchflutete Wohnzimmer und die überall umherliegenden, bunten Kinder-Spielsachen sind eher geeignet, beklemmende Gefühle zu verstärken. Ich erinnere mich an unser Gespräch vor elf Jahren, als Walker nach Berlin kam, um „Climate Of Hunter“ zu bewerben. Zäh war es zunächst verlaufen, und erst nach einer Stunde war er langsam aufgetaut und mitteilsamer geworden. Der Scott Walker von 1984 war abwartend, misstrauisch, defensiv gewesen, das Interview über weite Strecken harte Arbeit

Meine Befürchtungen erweisen sich – thank Scott! – als völlig unbegründet. Er lächelt. „Nice to see you again.“ Scott wirkt kaum älter als ich ihn in Erinnerung habe, seine 52 Jahre sieht man ihm nicht an. Das sei kein Verdienst, merkt er an, muss aber grinsen, als ich seine frühen Singles vor ihm ausbreite. Seit Jahrzehnten habe er diese Artefakte nicht mehr gesehen, lacht er. Wir reden über die famosen Fünfziger, Elvis, Roy Orbison und Jack Scott.

Und darüber, wie Scott seit „Climate Of Hunter“ gelebt hat: in einem kleinen Appartement in London, nur wenige Freunde, immer hart am Existenzminimum. Gelebt habe er halt, sagt er, eine private Kunstschule habe er besucht, um seine Techniken aufzufrischen, die er sich vor fast 35 Jahren angeeignet hatte, damals, als er den West-Coast-Jazz entdeckte und die Filme von Ingmar Bergman. Mit John Walker, der bei den Walker Brothers nicht nur für die himmlischen Harmonien zuständig war, telefoniert er regelmäßig, der Kontakt zu „Brother“ Gary sei aber leider in den vergangenen Jahren abgerissen. Und „Tilt“ habe natürlich Zeit gekostet. Warum er mit dem Opening-Track „Farmer In The City“ ausgerechnet an den schrecklich überschätzten Pier Paolo Pasolini erinnern möchte, frage ich. „Er gehört sicher auch nicht zu meinen bevorzugten Filmemachern. Was mich am meisten an ihm fasziniert, ist sein Tod. Oder vielmehr die mysteriösen Todesumstände. Jeder Biografie entnimmst du eine andere Darstellung. Wurde er von einer Bande umgebracht oder von einer einzelnen Person, wo geschah es, was steckt dahinter. Es regt zu Entwürfen an, beschäftigt die Fantasie.“

Du gehörst also nicht zu denen, die seine Anal-Ästhetik goutieren und das Suhlen in Blut und Scheiße zur Mussolini-Kritik hochstilisieren?

Du spielst auf „Salo“ an. Dieser Film wurde hier damals nach einer Woche abgesetzt. Ich habe ihn in einem Pornokino in Soho gesehen. Dort gehört er fraglos hin. Ich glaube andererseits schon, dass Pasolini damit ein Statement abgeben wollte. Er war ein so extremer Charakter. Nicht einer der großen Regisseure, aber er hat immer eine Menge einstecken müssen zu Hause, er war verbittert. Und er war trotz allem ein Mann des Volkes, obwohl er reich war und homosexuell. Eine exotische und explosive Mischung.

Wieso war er für Dich ein Mann des Volkes?

Nun, er war Marxist. Sein Anti-Faschismus mag zuweilen nach hinten losgegangen sein, aber er war voller Gegensätze, vulgär und großzügig.

Bist Du noch Sozialist?

Ja, jedenfalls bin ich kein Konservativer, so viel ist sicher. Vor ein paar Jahren wollten sie mit einem Song der Walker Brothers Werbung für die Konservativen machen …

Mit welchem Song? „My Ship Is Coming In“?

Das wäre auch eine Möglichkeit gewesen. Nein, sie haben „Make It Easy On Yourself“ genommen. Ich habe eines Abends den Fernseher eingeschaltet und diesen Clip gesehen. Es war ein solcher Schock. Ich habe sofort da angerufen und sie haben es aus dem Programm genommen. Verrückt, so was. Ich bin fast durchgedreht. Vielleicht hätte ich es publik machen sollen, aber wenn man so einen Vorgang an die große Glocke hängt, schlagen die noch mehr Kapital daraus.

Du hast selbst neulich in einem Commercial mitgewirkt …

Ja, das war bizarr. Ein Commercial für Orangensaft. Sie haben mich an einen Tisch gesetzt und gefilmt. Ich habe nichts gesagt, und singen würde ich in einem Werbespot nie. Es war leicht verdientes Geld, in zehn Minuten war alles vorbei und von irgendetwas muss man leben.

Warum nahm man Dich bei Fontana mit offenen Armen auf, nachdem sich alle Deine Platten der letzten 20 Jahre als unverkäuflich erwiesen hatten?

Ich habe nicht die geringste Ahnung. Sie haben erfahren, dass ich eine Platte machen will, und sie griffen zu. Über Umsatzerwartungen weiß ich wirklich nichts, aber sie haben erst gestern ihre Option auf zwei weitere Platten wahrgenommen. Frag mich jetzt aber bitte nicht, wann die zu erwarten sind.

Du hast wieder mit Peter Walsh gearbeitet. Welche Qualitäten sind es, die ihn für Deine Musik zum optimalen Produzenten machen?

Ich brauche weniger einen Produzenten als einen Tontechniker, der mir folgen kann. Ich brauche jemanden, der die sehr präzisen Vorstellungen, die ich ins Studio mitbringe, klanglich kongenial umsetzt. Vor „Climate Of Hunter“ habe ich eine Menge Platten durchgehört auf der Suche nach gelungenen Klangbildern, und bei Peter Walsh bin ich fündig geworden. Er versteht sich darauf, wie man Keyboards gut klingen lässt, ein sehr seltenes Talent.

Dabei hat er damals die Simple Minds produziert, die hohlsten aller Pomp-Rocker.

Zu jener Zeit waren sie das noch nicht. Im Übrigen hat mich ihre Musik nicht im mindesten interessiert. Kurzum, es ging mir um den Klangcharakter einzelner Instrumente.

Wie stehst Du zum digitalen Aufnahmeverfahren, das ja während Deiner Abwesenheit in den meisten Studios Einzug gehalten hat?

Wir haben alles analog aufgenommen. Ich wollte Volumen und Unmittelbarkeit, nicht diesen flachen, transparenten, eindimensionalen Sound, diesen Einheitsbrei. Wollte ich Streicher ohne Wärme, würde ich das Klangbild gleich künstlich erzeugen.

Man sagt Dir eine Vorliebe für die Nine Inch Nails nach.

Ich kenne nur ihre letzte Platte. Nachdem wir „The Cockfighter“ aufgenommen hatten, sagte jemand im Studio, es klinge so wie Nine Inch Nails. Am nächsten Tag brachte er mir dann ihre Platte mit und ich höre sie gern, wenn auch nicht sehr oft.

Wie gern und wie oft hörst Du noch Jack Jones?

Das hängt mir nun schon seit einer Ewigkeit an. Ich habe nie etwas für Jack Jones übriggehabt.

Er sei lange Zeit Dein Vorbild gewesen, behaupten Deine Biografen und so steht es auch in den Liner Notes zur besten Walker-Brothers-LP „Portrait“.

An der Biografie habe ich nicht mitgewirkt, ich habe das Buch nicht mal gelesen, aber ich weiß, dass mir aus unerfindlichen Gründen zugeschrieben wird, Jack Jones sei mein Idol gewesen. Glaub mir, das ist Quatsch. Ich hasse Jones, er ist ein ausgesprochen miserabler Sänger.

Es gehört hoffentlich nicht auch in den Bereich der Legende, dass Du Tom Jones verabscheust.

Muss ich das beantworten? Nein, nicht alles, was man von mir sagt, ist eine Lüge. Ich sage Dir aber, wen ich liebe: George Jones. Ein großartiger Sänger. Obwohl ich für Country nicht mehr so viel übrighabe.

Dein eigener Gesang ist auf „Tilt“, milde gesagt, wandlungsfähig. Deine Stimme klingt entrückt und manchmal beinahe emotionslos.

Die Worte kommen zuerst, und die Stimme ist Teil der musikalischen Umsetzung. Ich habe sehr viel Zeit darauf verwendet, den jeweils richtigen Ton zu finden. Ich habe eine resonante Stimme und es ist schwer, die Resonanz zu mindern, zu variieren. Die Texte stehen im Vordergrund, der Gesang sollte sich nicht verselbstständigen. Nicht auf diesem Album.

„Tilt“ ist ein politisches Album. Was erwiderst Du Kritikern, die Dir vorwerfen, „Tilt“ sei abstrakt?

Ich sage, sie sind reaktionär. Es gibt keine einfachen Antworten. Und ich würde mich damit trösten, dass James Joyce sich auch mit Dummheit und Unverstand mancher Kritiker abfinden musste.

Der Autor Wolfgang Doebeling schreibt seit der ersten Ausgabe für die deutsche Ausgabe des Rolling Stone und moderiert zudem jeden Sonntagabend auf Radio 1 des RBB die Sendung „Roots“. Fragen zu digitalen Aufnahmetechniken und George Jones beschäftigen ihn auch heute noch. Scott Walkers „Tilt“ gab er in seiner Rezension die Höchstwertung.

Die Story zur Story

Es war ein zähes Ringen mit der Plattenfirma. Scott Walker hatte zuletzt „Climate Of Hunter“ veröffentlicht, das angeblich am schlechtesten verkaufte Album auf dem Label Virgin. Das war 1984. So wirkte es wie eine Erscheinung, als tatsächlich „Tilt“ eintraf – für Verehrer der prätentiösen Kultfigur jedenfalls war es ein Fest. Nach einem umständlichen Hin und Her gestattete Walker dieses eine Interview für die deutsche Presse. Das Gespenst erwies sich dann als sehr lebendig.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates