Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Fragen Sie das Einhorn oder Musikerinflation in Reykjavík

Nonchalante Prozessionen, Augenbrauenemporrecken, Tränen der Rührung – die Jahresbestenliste muss neu geschrieben werden.


Folge 27

In keiner Stadt auf der Welt ist der Anteil der Musiker an der Gesamtbevölkerung so hoch wie in Reykjavík. Das haben, wie ich heute aus dem Radio erfahre, irgendwelche Forscher herausgefunden.

Ich weiß nicht, ob ich gerne in Reykjavík leben würde. Ich bin zugegebenermaßen noch nie dort gewesen, aber seit Vernehmen dieser Information stelle ich mir die Stadt als ein einziges unermüdliches Gedudel vor. Opernsänger, Straßenmusiker, Rockstars, Orchestergeiger, Nachtclub-Organisten, Standbassisten und Sitzposaunisten scheinen sich da nur so die Klinke in die Hand zu geben, was zugegebenermaßen die Frage nach sich zieht, was das bitteschön für eine Klinke sein soll. Jedenfalls wird da in Reykjavík mehr musiziert als in Wolfsburg Autos gebaut werden. Wobei ich auch nicht gerne in Wolfsburg leben möchte, aber das hat andere Gründe. Ebensowenig wie in Wolfsburg oder der Stadt mit dem höchsten Musikeranteil will ich in einer besonders ruhigen Stadt – sagen wir: der Stadt mit dem weltweit höchsten Anteil an Yogalehrern – zu Hause sein. Wobei, wenn ich es recht bedenke, lebe ich ja schon in der Stadt mit dem weltweit höchsten Anteil an Yogalehrern.

Ich glaube zudem, dass ich in der Stadt mit dem weltweit höchsten Anteil an Nagelstudiomitarbeitern lebe.

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Neulich habe ich ein Interview mit Lloyd Cole, einem meiner ewigen Lieblingssongschreiber, in einer englischen Fachzeitschrift gelesen. Dort berichtete er, wie er vor ein paar Jahren mal wieder seinen Kollegen Morrissey traf. Beide spielten in derselben Stadt und begegneten sich zufällig, als Cole zu Fuß mit seinen beiden Gitarren und einem Rucksack voller Kabel und Stimmgeräte von seinem Hotel zur Konzerthalle ging. Was er denn hier treibe, habe Morrissey ihn gefragt. Nun, er sei auf dem Weg zu seinem Konzert, gab Cole zur Antwort. Darauf Morrissey: „Oh yes, I’m playing the theatre here, it’s sold out.“ Danach sei dann wieder jeder seiner Wege gegangen. Coles Eindruck: „Morrissey would just hate to think of a rock singer carrying his own gear.“

Bei seinem Konzert vergangene Woche in Köln fällt mir die Geschichte wieder ein.  „Glauben Sie mir, es ist die Sache wert“, versichert Lloyd Cole, als er mal wieder länger die Gitarre stimmt. Gewiss, so räumt er ein, die Frage, warum er keinen jungen Mann auf Tournee mit dabei habe, der die Stimmerei für ihn hinterm Vorhang erledige, sei berechtigt. Natürlich habe das Vorteile. Aber, so fügt er nach einer kurzen Pause hinzu, dann müsse er ja auch mit dem jungen Mann zu Abend essen.

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Vorfreude:

Dem ehemaligen Go-Between Robert Forster beim öffentlichen Augenbrauenemporrecken zuzuschauen, ist immer eine tolle Sache. Zuletzt sah ich ihn auf der „Evangelist“-Tour: Hier bewies Forster die Tollkühnheit, nach fünf oder sechs Songs erstmal ein Päuschen zu machen. Eine Konzertreise davor lebte sein Go-Betweens-Kollege Grant McLennan noch. Im Dezember nun gibt es nach langer Zeit endlich wieder die Gelegenheit, Forster auf einer großen Bühne zu sehen: Beim Weekend-Festival in Köln, das am 13. und 14. Dezember stattfindet, wird er die Kronjuwelen seines Schaffens gemeinsam mit einem von David-Byrne-Arrangeur Jherek Bischoff dirigierten Streichquartett funkeln lassen. Einer der Veranstalter raunte mir kürzlich im Umfeld einer Theke zu, die Setlist sei großartig. Forster selbst raunt dies: „Alles ist möglich. Vielleicht sogar ein Wunder“. Doch auch wenn das Wunder ausbleiben sollte: Perlen aus dem Schaffen der Go-Betweens und dem Solo-Werk Robert Forsters in verstreichertem Zustand – wer braucht da noch Weihnachten? Ebenfalls beim Weekend Festival zu bestaunen: die putzigen Pastels, The Fall, Ex-Hüster-Dü-Schlagzeuger Grant Hart, die Young Marble Giants, die Pavement-Wiedergänger Yuck und viele andere. Der Advent kann also kommen.

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Nachfreude:

Am vergangenen Mittwoch weilte ich beim ersten Europakonzert des 73-jährigen Songwriters Ed Askew. Wer den Mann nicht kennt: Askew brachte sein erstes Album „Ask The Unicorn“ bereits 1968 heraus. Das Werk klingt so ähnlich wie es heißt, gehört hat es damals aber kaum jemand. Später regte Askews Musik manch sensibelbärtigen Gewandträger dazu an, selbst feinnervige Hippiemusik zu machen.

Gleich zu Anfang seines Konzerts zieht mir der Mann mit dem kecken Dandy-Hut den Boden unter den Füßen weg: Allein das Mundharmonika-Intro zu „Roadio Rose“ treibt mir Tränen der Rührung in die Augen. Dann beginnt Askew zum delikaten Spiel seiner drei Musiker zu croonen und ich breche zusammen.

Askews Lieder sind nonchalante Preziosen, die sich manchmal anhören, als wären Bob Dylan und Joni Mitchell ein und dieselbe Person oder als hätte Michael Hurley Lieder für ein schwules Singspiel – womöglich über die Stadt mit dem weltweit höchsten Anteil an Nagelstudios – geschrieben. Kaufe mir am Ende sein Album und stelle fest, dass ich meine Jahresbestenliste leider noch einmal grundsätzlich erschüttern muss. Wenn alle Musiker in Reykjavík wie Ed Askew klängen, würde ich die Hauptstadt der Yoga-Lehrer wahrscheinlich schon morgen gen Island verlassen.

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