Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Gescheiterte Projekte Vol. I – Musikfasten gegen Outtake-Overkill

Unser Kolumnist denkt in Zeiten des Karnevals über das musikalische Fasten nach - und kommt zu einer praktikablen Lösung.

Folge 103

Wir leben in einem Land, in dem sich bald überall Rosenmontagszüge durch die Fastenzeit schlängeln werden, die wegen eines ausgefallenen Sturms abgesagt wurden. Ist das richtig? Ein entschiedenes „Vielleicht nicht“ kann hier die einzig richtige Antwort sein. Wir leben zudem in Zeiten, da aufgeklärte Menschen es für sinnstiftend erachtend, sogenanntes Facebook-Fasten zu betreiben oder karenzbedingt nur noch einmal am Tag die What’s-App-Nachrichten checken.

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Ich will mich gar nicht lustig über die Kulturtechnik des Fastens machen. Auch ich könnte mich mal eine Weile in Verzicht üben. Bloß worauf verzichten? Sport? Deutschland? TV-Sendungen mit Frank Plasberg? Es soll ja schon ein bisschen wehtun.

Nach reiflichem Überlegen will mir nur eine Sache einfallen, auf die zu verzichten mir wirklich Probleme machen würde: Musik. Vielleicht wäre ein solcher Verzicht in Zeiten der totalen Klangbeflutung und ständigen Verfügbarkeit jeder noch so obskuren Outtake-Rarität aber mal ganz gut.

Verliert Musik durch ihre ständige Verfügbarkeit an Bedeutung?

Vor ein paar Monaten lief in deutschen Programmkinos der Film „Imagine Waking Up Tomorrow And All Music Has Disappeared“. Der Regisseur Stefan Schwietert begleitet darin den Künstler Bill Drummond (einst Mitglied der Kunst-Pop-Band KLF), der schon 2005 den „No Music Day“ ausgerufen hatte. Drummond imaginiert in dem Film eine Welt, in der man wieder auf alltägliche Klänge lauscht, diese zum Anlass eigenen Musikmachens ohne Aufzeichnungspläne und Vermarktungsüberlegungen nimmt und statt ihrer auf jede kommerziell veröffentlichte Musik verzichtet.

Drummonds nicht unbedingt originelle These: Durch ihre ständige Verfügbarkeit verliert Musik an Bedeutung. „Durch all die aufgezeichnete Musik werden wir ständig mit Experten konfrontiert“, so Drummond weiter. „Alles ist glänzend, poliert, riesig produziert. Dann glaubt man, man selbst sei nicht gut genug, um zu singen.“ Die letztere Sorge Drummonds hat mich gottlob nie geplagt. Auch Daniel Johnston, Wayne Coyne von den Flaming Lips oder Simon Joyner haben sich zum Glück von dem Irrglauben, ihre Wackelstimmen seien nicht sangesbefähigt, nie abhalten lassen.

Was ich als recht gewinnbringend erachten würde, wäre ein mehrmonatiger Verzicht auf Playlisten, Spotify, Soundcloud und Youtube-Kanäle – auf alles also, was zum ständigen Herumspringen zwischen den Musiken einlädt. Vielfalt und Abwechslung hauen hier Tiefe und Hingabe eine rein – und zwar mit Schmackes und nachhaltiger Wirkung: Allzu oft (und mit einigem Amüsement) beobachte ich in letzter Zeit rastlose Menschen, die es nur schwer ertragen können, wenn bei ihnen daheim mal ein Album am Stück durchzulaufen droht. Unentwegt müssen sie aufspringen, herumklicken und sich an den vermeintlichen Abwechslungsreichtum prostituieren. Solchen Menschen möchte ich am liebsten immer sofort eine Moondog-Platte auflegen.

Menschen gehen respektlos mit Musik um

Gewiss: Ich bin ein greiser Zausel, die Kunstform „Album“ mag zudem überkommen sein, und der Wunsch, hinter technische Möglichkeiten zurückfallen zu wollen, birgt so einiges an Problematik. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die meisten Leute viel zu respektlos mit Musik umgehen. Aber das ist a) nichts Neues und klingt b) wie ein popkulturell motivierter Pfarrbrief.

Ich bin übrigens mit dem Projekt „Musikverzicht“ schon nach wenigen Stunden gescheitert. Gleich drei Platten habe ich mir am Aschermittwoch gekauft – und sie müssen alle dringend empfohlen werden. Da wäre zum einen das angemessen betitelte neue Album „Longtime Traveller“ von Jeb Loy Nichols. „Neu“ ist freilich relativ: „Longtime Traveller“ erschien schon 2010 als Fan-Edition in Japan, wurde aber nun noch einmal gründlich überarbeitet. Nichols, dem es seit etlichen Dekaden gelingt, Country, Reggae und Soul zu vermählen (früher mit seiner Band The Fellow Travellers) hat sich für dieses Werk unter die Fittichen seines alten Freundes Adrian Sherwood begeben, der dem Mann Mitglieder von Dub Syndicate und den Roots Radics als Backingband zur Verfügung stellte und die beseelten Country-Stücke ganz wunderbar inszenierte und mit ordentlich Bass-Wumms ausstattete. So hätte es damals auch klingen können, als Dylan mit Sly und Robbie „Infidels“ aufnahm (tat es leider nicht). „Longtime Traveller“ ist ein Album wie die Nashville Skyline über Trenchtown, wie eine warme Badewanne an einem besonders grimmigen Tag.

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Album Nummer zwei hatte ich schon lange auf CD, erst jetzt habe ich das Vinyl gefunden. Es handelt sich um meine Lieblingsplatte der sogenannten Nuller Jahre: Cody Chesnutts „The Headphone Masterpiece“ (2002), das einzige mir bekannte Soul-Meisterwerk, das auf einem 4-Spur-Rekorder aufgenommen wurde. Da Chestnutt ein Großdenker und Ballermann ist, trägt sein Schlafzimmerstudio hübscherweise den Namen „The Sonic Promiseland“. Und tatsächlich ist es schier unglaublich, was der Mann aus Atlanta hier zuwege gebracht hat: Chestnutt (der fast alle Instrumente selbst spielt) packt in diesen großartig geschriebenen – und gesungenen – Songs anstrengungslos Rock’n’Roll, R’n’B, Soul und Psychedelia zusammen. Oft meint man, einem bekifften Prince zu lauschen, der in seinem Kinderzimmer versucht, eine Ween-Platte aufzunehmen. Der Übersong „The Seed“ wurde später in einer gemeinsamen Version mit The Roots zurecht zum Hit, die Marihuana-Fummel-Hymne „Smoke and Love“ ist noch besser. „The Headphone Masterpiece“ ist Lo-Fi-Soul, der vor Einfallsreichtum und Selbstbewusstsein oft zu explodieren droht. 2012 ließ der Mann mit zehn Jahren Abstand (!) sein langersehntes Nachfolgealbum folgen, das leider – auch aufgrund der allzu perfekten Produktion (hallo Tim Drummond!) – nicht an diese bedröhnte Großtat anknüpfen konnte.

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Album Nummer drei schließlich, die im letzten Jahr veröffentlichte Platte „Music in Exile“ von Songhoy Blues aus Mali, eignet sich vortrefflich dazu, die Fastenwochen zu durchtanzen. Wobei der Titel der Platte erst einmal von düsteren Zeiten kündet: Nachdem die bewaffneten Konflikte in Nord-Mali 2012 völlig aus dem Ruder geraten und in ihrer Folge die fundamentalistischen Ansar-Dine-Dschihadisten an die Macht gekommen waren, sah sich die Band gezwungen, ihre Heimat zu verlassen,. „Music in Exile“, produziert von Nick Zinner von den Yeah Yeah Yeahs, ist natürlich eine unmittelbare Reaktion auf die politische Situation im Heimatland der Musiker, es ist aber auch eine grandiose Partyplatte, auf der die Band entfesselten, funkensprühenden Bamako-Blues spielt. Sollte man wohl dringend mal live sehen.

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Nein, das mit dem Musik-Fasten wird sich hier in diesem Haushalt nicht durchsetzen. Doch verstehen Sie mich nicht miss: Lieber selbstauferlegte Karenz als fremdverordnete religiöse Gesetze. Der Dämon will schließlich in Schach gehalten werden, sonst bleibt er am Ende die ganze Nacht auf! Verzichten Sie von daher ruhig auf Facebook, Pop-Tagebuch-Kolumnen, Türklingeln und amerikanische Fernsehserien. Aber verzichten Sie keineswegs auf Musik. Von mir aus dürfen Sie auch ruhig skippen.

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