Essay: Johns kleiner Bruder

Kurz nach meiner Geburt hörten die Beatles auf, Konzerte zu geben. Der ursächliche Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen ist unter Historikern umstritten, aber was wissen die schon!

Meine musikalische Sozialisation stand unter keinem guten Stern. In der Woche meiner Geburt stand sehr uncoole Musik an der Spitze der deutschen Charts. Eine Woche vorher wäre es noch zu ertragen gewesen, da hieß es „These Boots Are Made For Walking“. Eine Woche nach meiner Geburt sangen die Beach Boys von „„Sloop John B.“ Hätte ich mir auch noch gefallen lassen. Aber am Tag meiner Geburt Ende Mai 1966 war die Nummer eins ausgerechnet: „„Hundert Mann und ein Befehl“ von Freddy Quinn! Der lange Schatten der Reichskulturkammer! Sehr viel weiter konnte man nicht entfernt sein von „„A Day In The Life“ oder „„She’s So Heavy“.

Mein familiäres Umfeld steckte knietief im Schlager. Omma schwärmte für Freddy Breck, bei den Parties meiner ziemlich jungen Eltern lief ständig „Griechischer Wein“. Und Oppa schüttelte Samstagabend bei llja Richters Disco nur den Kopf und fragte ein ums andere Mal: „Wieso singt der denn kein Deutsch?“ – „„Oppa, das ist Ian Gillan, der kommt aus England!“ – „„In England kann er ja auch englisch singen, aber wir sind hier in Deutschland!“

Mein Weg zu den Beatles führte über Schwarzarbeit. Mein Vater hatte eine kleine Ein-Mann-Firma für Elektroinstallationen, und so begab es sich, dass er eines Abends, nach Geschäftsschluss, in einer Filiale des traditionsreichen (mittlerweile aber nicht mehr existierenden) Bochumer Unternehmens „„Radio Zerfass“ irgendwas installierte, reparierte oder überbrückte. Statt Geld zu verlangen sagte er aus der Lameng: „„Gib mir doch ein paar Platten mit für meinen Jungen!“ So wurden im Ruhrgebiet damals häufig Geschäfte gemacht: auf Gegenseitigkeit, gegen eine Kiste Bier, ein paar Baumaterialien, eine Pulle Schnaps. Oder eben Schallplatten. So gelangten das Rote Album, das Blaue Album und eine Picture Disc von „„Abbey Road“ in meinen Besitz. Das Blaue Album bestand aus zwei LPs aus blauem Vinyl. Möglicherweise heute eine Rarität.

Ich ging chronologisch vor, begann also mit dem Roten Album. „Love Me Do“ kam recht simpel daher, aber ein bisschen was blitzte schon auf. „„Please Please Me“ ging einen Schritt weiter, „„From Me To You“ wieder etwas einfacher, aber dann wurde man von „She Loves You“ förmlich aus dem Schneidersitz vor den Boxen gehauen. Auf der dritten und vierten Seite wurde es dann schon etwas subtiler, mit „Nowhere Man“ oder „Eleanor Rigby“.

Das Blaue Album begann mit „„Strawberry Fields Forever“, schon ziemlich merkwürdig, aber nicht halb so merkwürdig wie „„I Am The Walrus“. Waren das die gleichen, die noch bei „Love Me Do“ praktisch zum Mitschunkeln aufgefordert hatten? Da wartete jedenfalls eine Menge Arbeit auf mich, was Vertiefung und Exegese anging. Man schrieb das Jahr 1978, die Sex Pistols waren gekommen und gegangen, ohne dass ich was davon mitbekommen hatte, aber vor allem war es das Jahr von John Travolta und „Saturday Night Fever“. Das ging alles an mir vorbei. Für mich gab es nur noch diese Kapelle aus Liverpool, die sich bereits vor acht Jahren getrennt hatte.

Mit einer Leidenschaft zur Recherche und einer Gehirnspeicherkapazität, die meine Eltern gern auf Lateinvokabeln und Matheformeln angewandt gesehen hätten, vertiefte ich mich in die Geschichte von John, Paul, George und Ringo, und wie jeder echte Fan wusste ich bald mehr über die Lads als sie selbst, aber das ist bei Leuten, die in den Sechzigern erwachsen waren auch keine Kunst, schließlich waren die spätestens ab 1965 komplett zugedröhnt. Irgendwann waren die Beatles dann Thema in der Quizsendung „Alles oder nichts“ mit Günther Schramm. Mein Kumpel Uwe nahm die zwanzig Fragen, denen sich der Kandidat stellen musste, mit dem Kassettenrecorder auf, spielte sie mir vor und stoppte vor den Antworten. Mich selbst überraschte es nicht, dass ich neunzehn Fragen auf Anhieb beantworten konnte. Bei der zwanzigsten dauerte es nur wenig länger, weil ich niesen musste. Die Texte wurden durch eine dtv-Ausgabe des Beatles-Songbook geliefert. Ich begriff zwar nicht alles, aber ich verstand es. Ich war praktisch Mitglied bei den Beatles geworden.

Die Frage aller Fragen unter Beatles-Fans bleibt natürlich: Lennon oder McCartney. IMa gut, die stillen Typen, die was Besonderes sein wollten, begeisterten sich für Harrisons Gitarrenspiel und gaben unaufgefordert zu Protokoll, dass er als Songschreiber sträflich unterschätzt werde – womit sie natürlich recht hatten, aber egal. Ich selbst taugte nie zum Rebellen, immer nur zum Klassenclown und trotzdem – oder gerade deswegen – hatte ich immer einen Hang zu den radikaleren Typen, zu denen, die mir als Einzelkind den großen Bruder geben konnten.

Leiden im Lennon-Lager

Also war ich ziemlich bald im Lennon-Lager, litt stellvertretend noch mal unter dem Tod seiner Mutter, lief in Gedanken die Reeperbahn in Hamburg in Unterwäsche mit einer Klobrille um den Hals hinunter und dachte darüber nach, meine eigenen pubertären Traumata im Keller mit einer Janov’schen Urschrei-Therapie zu bekämpfen. Nur mit dem Bartwuchs wollte es nicht hinhauen, auch fielen mir schon mit zwölf die ersten Haare aus, und mein Sehvermögen ist bis heute, obwohl ich als Kind Möhren immer gemieden hatte und die doch angeblich so gut für die Augen waren, so hervorragend, dass ich keine Chance auf eine Nickelbrille hatte, es sei denn eine mit Fensterglass, aber die konnte ich nicht bezahlen, ich musste das Geld für „„Imagine“ ja schon in einem zweiwöchigen, kleinteiligen Raubzug aus dem Portemonnaie meiner Mutter klauen.

McCartney machte Kinderlieder wie „Yellow Submarine“ oder „„Ob-la-di, Ob-la-da“, Lennon aber schrie „I’m Only Sleeping“ oder „„Tomorrow Never Knows“, und auch wenn letzteres zu sehr abdrehte, um mich wirklich zu erreichen, leuchtete mir schon ein, dass das mutiger war. Und wenn dann einer kam und sagte: Ja, aber der Paul hat doch auch „Helter Skelter“ geschrieben und der John so einen Schmachtfetzen wie „Good Night“, für das er sich offenbar so geschämt habe, dass er es Ringo singen ließ, dann war ich schon so weit auf Linie, dass ich McCartney Anbiederung unterstellte und Lennon tiefes Gefühl und eine größere musikalische Bandbreite attestierte. Und: Lennon machte keine Platten mehr, kam mir nicht als Zeitgenosse unter, lebte im Nebel der Vergangenheit, beziehungsweise in New York. Was er machte, machte er voll und ganz. Diese avantgardistischen Aufnahmen von Fürzen in Stereo zusammen mit Yoko, selbstquälerische Nummern wie „Mother“ und „Isolation“, Weltverbesserungsschnulzen wie „„Imagine“, eine ganze Politscheibe wie „Some Time in New York City“. Sein „lost weekend“, die achtzehn Monate Trennung von Yoko, dann der Rücksturz ins Familienleben, die totale Abkehr von der Öffentlichkeit: zu Hause hocken, Brot backen – alles immer volle Pulle.

Und dann 1980: eine neue Platte. Erstmal nur eine Single. Die war im Bochumer Musikladen „„Alro“ noch nicht ganz ausgepackt, da gehörte sie schon mir. Ich weiß nicht mehr wieso, aber ich hörte das Ding zuerst auf der alten Musiktruhe meiner Omma. „Starting Over“, aha, ja, schöne Nummer. Oppa zog die Augenbrauen hoch, weil mal wieder Englisch gesungen wurde. Dann die B-Seite. Da sang Yoko. „Kiss, Kiss, Kiss“. Aber es blieb nicht beim Singen. Die Frau legte vor den Ohren von Omma und Oppa einen 1a-0rgasmus aufs Vinyl, noch dazu in Japanisch. „Watt is datt denn?“, wollte Omma wissen, und Oppa rutschte heraus: „„Nee, lass doch mal laufen!“

Kurz danach kam „„Double Fantasy“ heraus, das Album. Immer ein Song von John, dann einer von Yoko. Okay, also der große Bruder ließ seine Frau mitsingen. Einer der größten Songschreiber des Planeten stellte sich in Reihe mit einer Frau, die, sagen wir mal: nicht vom Fach war. Und nicht singen konnte. Das hörte man sich aus Höflichkeit ein oder zweimal an, so wie man sich mit der unerträglichen neuen Freundin des besten Kumpels auch erstmal unterhielt, um rauszukriegen, was er an ihr fand. Dann aber übersprang man die Songs ganz einfach, beziehungsweise überspielte die Lennon-Titel auf eine Cassette, um sie in einem Rutsch hören zu können. Aber egal. Lennon lebte, und die meisten seiner neuen Songs kamen in die Wertung, nur zu dem obligatorischen Yoko-Ergebenheits-Statement („„Dear Yoko“) und dem Kinderlied („„Beautiful Boy“) fand ich keinen Zugang.

Und dann der Morgen des neunten Dezember. Es regnete und ich trug meine Nato-Kampfjacke, also den Parka, wo die dünne Kapuze im Stehkragen versteckt war. Kurz vor acht kam ich zur Schule. Vor dem Windfang harrten nur zwei, drei Hardcore-Raucher aus. Die anderen standen wegen des Regens alle in der Pausenhalle, deren Fenster schon bis oben hin beschlagen waren. Martina und Gitta kamen auf mich zu und fragten, ohne einen Guten Morgen zu wünschen, ob ich es schon gehört hätte. Die nächsten Stunden ging es rum. Sicher wurde auch bei dem einen oder anderen Lehrer drüber geredet. Ein namenloser Mitschüler stieß hervor: „„Scheiße, wieso nicht McCartney!

Nach dem Unterricht hastete ich nach Hause, musste bis vierzehn Uhr warten und hörte die Nachrichten auf meiner Schneider-Kompaktanlage, die ich mir vor einem halben Jahr von meinem Konfirmationsgeld gekauft hatte. Heute würde eine solche Nachricht ganz vorne stehen, damals kam sie kurz vor dem Wetter. Ich weiß noch, dass ich ausstieg, als der Sprecher „„In New York…“ sagte. Diese schlichte Ortsangabe beseitigte die letzten Zweifel. Es gibt Tage, die taugen für eine Reihe „„Wo waren Sie als…“. Kennedy-Ermordung, Mauerfall, Elfter September, die verlorenen Pokalendspiele des VfL Bochum – und der Tag, an dem ich vom Tod meines großen Bruders hörte. Klingt pathetisch, aber ich habe ironische Rockmusik eh nie verstanden. (Ja, ich höre auch gern Springsteen.)

Fresse halten, Paul!

In den nächsten Wochen war im Blätterwald die Hölle los. Sogar die BILD brachte eine Serie über die Beatles. In Hamburg hatten sie also in ihrer Garderobe auf den Boden gekotzt und dann kleine Union-Jacks in die Haufen gesteckt. Ja, nee, ist klar. Das blieb also von der größten Band der Galaxis, wenn es nach Leuten wie meinem Oppa ging. Jahrelang verwahrte ich drei schwere Aktenordner mit Zeitungsauschnitten, dann gingen sie, wahrscheinlich bei irgendeinem Umzug, verloren.

Jetzt hatte ich nur noch Paul, George und Ringo. Die machten bisweilen auch ganz schöne Platten. McCartney versuchte, „„Yesterday“ noch mal zu schreiben, und zwar als sentimentalen Abgesang auf John Lennon: „Here Today“. Auch ein Beatle sollte ab und an einfach mal die Fresse halten. George Ham’sons Hommage „„All Those Years Ago“ war wenigstens musikalisch etwas schmissiger. Das Beruhigende an Lennons Tod war, dass es nun definitiv keine Chance mehr auf eine ßeatles-Reunion gab. Die hätte nur in der Katastrophe enden können. Lennon hat mal gesagt, was die Sechziger zu den Sechzigern gemacht habe, habe auch die Beatles zu den Beatles gemacht, und dem ist nichts hinzuzufügen. George Harrison, der nicht nur als Songschreiber lange unterschätzt wurde, sondern auch als Humorist (auf die Frage eines Reporters, wie die Beatles ihren Haarschnitt nennen würden, antwortete er: „Arthur“) gab einem hartnäckigen Journalisten auf die Frage, ob die drei verbliebenen Beatles denn wieder zusammen auftreten würden, zur Antwort: „„Nicht so lange John tot ist.“ Als Harrison dann selbst diese Welt verließ, musste er sich von McCartney noch gönnerhaft hinterherrufen lassen: „He Was My Little Baby Brother“ (wegen Fresse halten siehe oben). Zwar macht der Mann mittlerweile wieder recht schöne Platten, aber wer sich früh genug erschießen lässt, hat dafür keine Heather Mills an der Backe.

Eine Quasi-Reunion gab esja anlässlich des „„Anthology“-Projektes, an dem die Cover von Klaus Voormann das Beste waren und das vor allem eines klar machte: Die Beatles hatten sich in den acht Jahren ihrer Platten-Karriere weitgehend auserzählt. Wo bei Bob Dylan ständig Preziosen von verstörender Genialität aus dem Archiv auftauchen, findet sich bei den Liverpudlern nur wenig Sensationelles. Auch hier wusste Harrison zu punkten, nämlich mit einer sehr schönen Akustik-Version von „While My Guitar Gently Weeps“ inklusive Extra-Strophe. Aber es war schon klar, wieso John Lennon „„Free As A Bird“ und „„Real Love“ nie veröffentlicht hatte. Auch Genies müssen sich halt manchmal den Dreck aus dem Kopf schreiben, damit sie wieder brillieren können.

Als ich im September 2007 zum ersten Mal in New York war, nahm ich mir vor, das Dakota Building, vor dessen Eingang Mark David Chapman (may you rot and burn in hell!) Lennon niedergeknallt hatte, auf jeden Fall zu meiden, aber dann stand ich doch davor. Es war ein bisschen peinlich, weil lauter Leute da standen und den Wachmann fotografierten. Aber auf eine bescheuerte Art und Weise machte es mich auch stolz. Okay, die Leute trauerten nicht, sondern sie gafften nur, aber sie taten das immerhin für jemanden, der zu meiner Familie gehörte. Und gegenüber, im Central Park, hatten sie rund um das im Boden eingelassene „Imagine“ frische Blumen abgelegt. Das habe ich fotografiert und es auch den Kindern erklärt. Nur als ein Typ mit Gitarre anrückte, da wurde es mir dann doch zu dicke.

Beatles hören ist für mich heute noch so, als würde ich nach Jahren mal wieder an dem Haus vorbeischlendern, in dem ich aufgewachsen bin.

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