FUNK SOUL BROTHERS

Die Idee war simpel, aber schien plausibel: Für sein erstes deutsches ROLLING STONE-Cover wollten wir Elvis Costello inszenieren, wie er uns im Juli 1977 auf seinem Debüt „My Aim Is True“ erstmals erschien: als X-beiniger Nerd mit Buddy-Holly-Brille und Fender Jazzmaster im Anschlag. So hat man ihn immer noch im Kopf, obwohl er natürlich längst nicht mehr der Angry Young Man von damals ist. Heute beherrscht er auch die Zwischentöne und die Blue Notes, ist im Adagio genauso zu Hause wie im Prestissimo. Könnte ein spannender Kontrast werden, dachten wir, wenn der 58-Jährige, der sich sicher nicht in umgekrempelter Jeans und zu engem Jackett, sondern in feinem Anzug und mit Hut zeigen würde, die Pose von einst nachstellt.

Aber es kommt alles ganz anders. Elvis trägt zwar tatsächlich einen Anzug, will dann aber doch noch schnell seine Lederjacke holen, weigert sich schließlich, seine Fender Jazzmaster umzuschnallen (sein Manager bringt ein anderes Modell) und die Beine will er auch nicht biegen. Geschweige denn die Sonnenbrille gegen das alte Modell tauschen. Es wird dann sogar noch ein bisschen lauter, und der Künstler verschwindet nach einer Tony-Soprano-artigen Tirade, in der er die Bedeutungsfülle eines englischen four-letter-words in all seinen Beugungen voll ausschöpft, vor Wut dampfend aus dem nur für diesen Anlass angemieteten „Berlinzimmer“ im Hotel Adlon. Betretenes Schweigen. Vielleicht doch keine so gute Idee mit dem Nachstellen. Den sehen wir jedenfalls heute nicht mehr wieder. Nebenan im „Brandenburgzimmer“ hört man Mitglieder des Rotary-Clubs ihre Suppe löffeln.

So ganz ohne Rage ist Elvis Costello immer noch nicht zu haben. Als er im September 1982 durch eine riesige Hornbrille erstmals vom Cover des amerikanischen ROLLING STONE herunterschaute, ging es auch um einen solchen Ausbruch. „Elvis Costello repents“ -„Elvis Costello tut Buße“ war damals die Titelzeile, und Greil Marcus befragte den Hitzkopf zu einem Vorfall, der sich dreieinhalb Jahre zuvor in einer Hotelbar in Columbus, Ohio ereignet hatte. Der damals 28-jährige Brite war dort volltrunken mit Stephen Stills und der Sängerin Bonnie Bramlett aneinandergeraten. Es ging um die Frage, wer musikalisch wohl mehr zu bieten hätte, die USA oder das Vereinte Königreich. Irgendwann war die hitzige Diskussion aus dem Ruder gelaufen, und nachdem seine Kontrahenten Ray Charles und James Brown für Amerika ins Feld geführt hatten, sah Elvis sich wohl in die Ecke gedrängt und beschimpfte die beiden Väter des Soul entgegen seiner Überzeugung aufs Übelste. Kurz danach waren die Zeitungen durch Bramletts Hilfe voll davon. Seine Platten seien nach diesen idiotischem Vorfall nicht mehr im US-Radio gespielt worden, so Costello zu Marcus, „es gab um die 120 Morddrohungen -oder Androhungen von Gewalt welcher Art auch immer. Ich hatte für den Rest der Tour bewaffnete Bodyguards.“ Mit der Karriere in Übersee war es dann erst mal vorbei.

Und das, wo er doch nichts mehr liebte als die amerikanische Musiktradition. Bereits auf seiner ersten Single, „Less Than Zero“ von 1977, konterte er die im Windschatten der Sex Pistols von seinem Label Stiff als Punk angepriesene A-Seite mit einem Countrysong auf der flipside. Und nach dem Vorfall in Columbus zeigte er Reue, indem er sein nächstes Album, „Get Happy!!“, dem Sound von Stax und Motown widmete. Seine Band, die Attractions, erwies sich als grandiose R&B-Combo, und Costello begann langsam, sich vom zornigen jungen Mann zum Meister aller Stile und Klassen zu entwickeln, nahm ein Album mit Country-Covers auf, brillierte in klassischem Pop und Folk. Mittlerweile hat er mit Jazzbands gearbeitet und mit Streichquartetten, ein Album mit dem Meister des New-Orleans-Sounds, Allen Toussaint, aufgenommen und eines mit der schwedischen Sopranistin Anne Sofie von Otter, hat Ballettmusik geschrieben und sich an einer Oper versucht. Gerade arbeitet er mit Burt Bacharach an einem Broadway-Musical, und nun erscheint -ein HipHop-Album! Na ja, fast.

So gesehen war der Abgang vom Fotoset durchaus stilecht -zumindest, wenn man den Inszenierungen des Gangsta-Rap aus den Neunzigern folgt oder dem Macho-Image von Kanye West, der vermutlich die Fäuste hätte sprechen lassen. Aber, nein, um diese Art HipHop geht es hier nicht. Costello hat sein neues Album, „Wise Up Ghost“, mit The Roots aufgenommen, einer Band, die sich schon seit ihren Anfängen Mitte der Neunziger in Philadelphia gegen solche Posen wandte und davor warnte, das Genre könne sich bald in eine moderne Minstrel Show und Feier des Materialismus verwandeln, in der Autos und Modelabel mehr zählten als Botschaft und Kunst. Die Roots nutzen Musik als Lautsprecher für Kritik an sozialen Missständen und die Tradition als Hallraum. Sie spielen Soul, Blues und Jazz, versetzen ihre Tracks aber seit einigen Jahren auch mit weißen Musiken und luden echte Aliens im Black-Music-Universum wie Sufjan Stevens oder Joanna Newsom ein, auf ihren Platten zu gastieren. Dagegen ist Costello ja fast schon ein echter brother.

Und der sitzt nun glücklicherweise wieder beruhigt, abgekühlt und überhaupt nicht Gangsta-Style mit einer Tasse Tee in der Lounge, lauscht dem Klavierspieler und checkt E-Mails. Seine Frau, die Jazz-Pianistin Diana Krall, ist mit den sechsjährigen Zwillingen Dexter und Frank gerade auf dem Weg von Budapest nach Montreux. Er wartet auf Nachricht und macht sich Sorgen. „Ich habe die gleichen Probleme und Ängste wie alle anderen auch, nur dass ich ein fahrender Sänger bin und oft weit weg von zu Hause“, bemüht er sich herab vom hohen Ross der eingeschnappten Diva. „Natürlich bin ich nicht mehr der, der ich in den Siebzigern war. Deshalb wollte ich mich eben auch nicht mit irgendwelchen albernen Anspielungen an meine Vergangenheit zum Affen machen. Nicht, weil ich mich ziere, sondern weil ich Besseres zu tun habe.“ Scheint ihn doch immer noch zu beschäftigen, unsere Coveridee.“Wenn Leute mich fragen, warum ich nicht noch mal ein Album wie ,Armed Forces‘ mache, muss ich auch sagen:,Wie soll das gehen?‘ Wie soll ich noch mal in eine Situation kommen, in der ich gerade Bowies ,Heroes‘ und ,Low‘ zum ersten Mal gehört habe, vollkommen begeistert bin von ABBAs ,Arrival‘, in einem Kombi voll mit Wodka und Beatles-Tapes sitze und 25 bin? Natürlich kann man das imitieren, aber dann verdient man auch, aufs Erbärmlichste zu scheitern.“

Nie sei er von nostalgischen Gefühlen geleitet worden, wenn er nach all den stilistischen Exkursionen der letzten 30 Jahre mal wieder eine laute Rock’n’Roll-Platte gemacht habe wie früher, sagt er. „Es ging mir nicht darum, back to basic zu gehen, wie die Leute immer sagen, oder: zurück in die Garage -ich war ja nie in einer Garage! Ich war in meinem Zimmer und habe mir für meine Lieder den wildesten und größten Sound vorgestellt, der sich denken ließ.,Watching The Detectives‘ hatte einen Reggae-Rhythmus -aber ich wollte, dass der von einem Bernard-Herrmann-Orchester gespielt wird. Und weil ich mir das nicht leisten konnte, musste Steve Nieve (Keyboarder der Attractions und der Nachfolgeband, The Imposters -Red.) das alles auf der Orgel spielen.“

Da war er seinerzeit im vom New Wave überrollten Großbritannien natürlich nicht alleine. Paul Weller dachte an The-Who-und Small-Faces-Platten und später an Curtis Mayfield, wenn er seine Songs schrieb, und die Specials, deren erstes Album Costello 1979 produzierte, träumten von Jamaika, als sie den Punk mit ihrer Liebe zu Ska und Reggae infizierten. „In der Art wie etwa Jerry Dammers (Kopf der Specials) nach jamaikanischer Tradition ein Prince-Buster-Riff nahm, und einen vollkommen neuen Song darüber setzte, war er seiner Zeit weit voraus. Er hat, so wie ich, versucht, aus der Musik, die er liebte, sein eigenes Ding zu machen. Entweder man macht das mit Witz, Verstand und Leidenschaft oder man macht es -ich will keine Namen nennen, aber wir wissen beide, wen ich meine -vollkommen geistlos; dann kommt dabei etwas raus wie ,I Am The Walrus, Teil 9′. Aber warum sollte man das tun? Da macht man doch lieber etwas Neues – oder man nimmt Teile einer alten Platte und macht daraus etwas völlig anderes.“

Aus etwas Altem etwas Neues machen -remake, remix, remodel, recontextualize -, darauf will Costello hinaus, das ist natürlich auch eine Technik des HipHop und ein wichtiges Thema auf dem neuen Album, „Wise Up Ghost“. Sein, wenn man so will, Bruder im Geiste war bei dieser Produktion der musikalische Leiter der Roots, Ahmir Thompson, besser bekannt als Questlove oder kurz: Quest -ein akribischer und nahezu allwissender Song-und Soundarchäologe. Als Produzent und Schlagzeuger war der massive 42-Jährige mit dem – wie er selbst sagt -„uncivilized Afro“ an stilprägenden Alben wie D’Angelos „Voodoo“ oder Erykah Badus „Baduizm“ und „Mama’s Gun“ beteiligt, gab aber auch schon für Fiona Apple, Christina Aguilera und Mark Ronson den Takt vor. Er ist der Sohn von Lee Andrews, der in den Fünfzigern mit der Doo-Wop-Gruppe The Hearts ein paar kleinere Hits hatte. Er habe im schwarzen Ghetto von Philadelphia, zwischen Kriminalität, Gewalt und Drogen, eine Havard-artige musikalische Ausbildung genossen, schreibt Questlove in seinem gerade in den USA erschienenen disko-und autobiografischen Buch „Mo‘ Meta Blues“(der Titel ist eine Anspielung auf Spike Lees Film „Mo‘ Better Blues“ von 1990), das etwas unentschlossen zwischen Erinnerungen, Experiment, HipHop-Historie und -Analyse hin-und herspringt. Hier erfährt man auch, dass der kleine Ahmir, als Doo Wop Mitte der Siebziger ein kleines Revival erlebte, seinen Vater bei den Konzerten am Schlagzeug begleitete.

Costello, der als Declan Patrick MacManus in London geboren wurde und nach der Trennung seiner Eltern als 17-Jähriger mit seiner Mutter nach Birkenhead an die Merseyside zog, hat ebenfalls musikalische Vorfahren: Sein Großvater war Trompeter auf den Schiffen der White Star Line wie der Olympic und der Gigantic (glücklicherweise aber nicht auf der Titanic), und sein Vater Ross spielte ebenfalls die Trompete und sang unter anderem mit dem Joe Loss Orchestra. „Wir haben erst kürzlich rausgefunden, dass wir beide in Musikerfamilien aufgewachsen sind“, sagt Costello. „Natürlich in unterschiedlichen Generationen und an sehr verschiedenen Orten. Aber ich glaube, dass es trotzdem Parallelen gibt. Wenn man schon in jungen Jahren erfährt, dass Musikmachen zugleich Beruf und Berufung ist, lernt man Musik ganz anders zu schätzen. Man lernt, dass Musik eine Währung ist und zugleich magisch, verführerisch und hypnotisch. Man erfährt sie als etwas, das einem eine Richtung gibt und in dem man sich zugleich verlieren kann. Man ist dann wohl auch weniger tolerant gegenüber denen, die es nicht so ernst meinen, weil sie einen anderen Zugang zur Musik hatten und vielleicht eher auf oberflächliche Sachen wie Ruhm aus sind. Ich war jedenfalls als Teenager ziemlich dogmatisch, bin dann aber mit der Zeit freier und toleranter geworden.“

Questlove und Costello lernten sich bei der US-Talkshow „Late Night With Jimmy Fallon“ kennen, bei der die Roots seit 2009 als Hausband arbeiten und mit ihrer Musik das Geschehen kommentieren. Zum Auftritt der rechtspopulistischen Politikerin Michele Bachmann etwa spielten sie Fishbones „Lyin‘ Ass Bitch“, was anschließend ein bisschen Ärger gab. Costello begleiteten sie unter anderem bei einem Cover von Springsteens „Brilliant Disguise“, und Quest nahm nach dem Auftritt seinen ganzen Mut zusammen, um den Gast zu fragen, ob er was dagegen hätte, wenn die Roots einige seiner Klassiker remixen würden. Der gab sein Okay, und wenig später konnte er über radikal umgebaute Fassungen von „High Fidelity“ und „(I Don’t Want To Go To) Chelsea“ staunen.

Als Nächstes wollten die Roots sich in an „Pills And Soap“ versuchen, einem Song, den Costello 1983 als Single unter dem Pseudonym The Imposter veröffentlicht hatte und der seine Wurzeln tatsächlich im HipHop hat -in Grandmaster Flashs „The Message“ nämlich. Für die Band also eine Art „Bringing It All Back Home“-Moment. Doch dieses Mal wollte Costello dabei sein in der Roots-Hexenküche. Also fuhr er spätabends, nach der Aufzeichnung der Fallon-Show von seinem Apartment im West Village mit dem Taxi uptown zur legendären Adresse 30 Rockefeller Center in Midtown Manhattan, wo die Roots ihren klitzekleinen Übungsraum haben.

„Ich hatte die Idee, das Ganze dieses Mal etwas größer anzulegen“, erklärt Costello. „Quest gab den Beat vor, ich spielte Keyboards und Bass, und dann haben wir noch am selben Abend begonnen, Arrangements für Bläser zu schreiben. Und Steven (Mandel, Roots-Produzent) hat sich um die sonic events gekümmert -die Verzerrungen und Brechungen. Das klang plötzlich fast wie ein Dub-Track.“

Auch der Text von „Pills And Soap“ wurde neu gesetzt. Costello stellte Strophen um und fügte Zeilen aus anderen alten Songs wie „Hurry Down Doomsday“ und „National Ransom“ hinzu. „Ich wollte eine Collage machen“, erklärt er. „Denn so entsteht nicht nur eine andere Geschichte, man holt die Texte auch ins Jetzt. Sie sind nicht mehr gefangen im Kontext des alten Songs und bedeuten plötzlich etwas Anderes. Interessant ist, dass Zeilen, die ich 1983 oder 1991 oder 2010 zu einem bestimmten politischen Anlass geschrieben habe, immer noch aktuell sind, weil Menschen wieder und wieder die gleichen Fehler machen und Gräueltaten begehen wie damals -wir marschieren in Länder ein, in denen wir nichts zu suchen haben, die Medien und die Wirtschaft manipulieren die Wahrheit, so wie es ihnen gefällt, und die Politik spuckt den sozial Schwachen ins Gesicht. Eine große schwarze Komödie ist das.“

Das sei der Grund, warum er auch nach Margaret Thatchers Tod immer noch ab und zu sein Hasslied an die Eiserne Lady, „Tramp The Dirt Down“, spiele. „Maggie Thatcher ist tot, Thatcherism lebt weiter. Die Protagonisten sind andere, aber die Ideen sind dieselben geblieben.“

Strophen aus anderen apokalyptischen Costello-Songs wie „Bedlam“,“Invasion Hit Parade“ und „She’s Pulling Out The Pin“ tauchten auf den ersten neuen Tracks mit den Roots ebenfalls wieder auf und gaben die Richtung für die Texte vor, die Costello eigens für „Wise Up Ghost“ schrieb. „Cinco Minutos Con Vos“ etwa spielt, wie einst „Shipbuilding“, zur Zeit des Falkland-Krieges – nur dieses Mal auf argentinischer Seite. Ein Mädchen (ihr Part wird auf Spanisch von der Latino-Sängerin La Marisoul übernommen) wartet in Montevideo auf seinen Vater, doch der kehrt nicht zurück, weil er entführt und aus einem Flugzeug geworfen wird.

„In unserem Namen werden immer noch Leute verschleppt, und wir wissen nicht mal, ob sie schuldig oder unschuldig sind“, erklärt Costello. „Aber kaum jemand redet darüber. Das Album handelt von den Täuschungen, denen wir ausgesetzt sind und denen wir uns teilweise auch freiwillig aussetzen, um zu verdrängen, was alles schiefläuft in unserem System. Am Ende steht der Song ,If I Could Believe‘ – wenn ich nur glauben könnte, aber man kann nicht glauben, dass sich alles schon richten wird oder dass es etwas oder jemanden gibt, der das für uns tut. Ich bin kein Freund von einfachen Lösungen.“ Natürlich passt dieser politische, zornige, apokalyptische Costello ziemlich gut zu den Roots, die ja schon immer eine Art soziales Gewissen des HipHop waren.

Tariq Trotter alias Black Thought, der normalerweise für die dunklen, schlauen, wütenden Roots-Raps zuständig ist, spielt auf „Wise Up Ghost“ zum Missmut vieler Roots-Fans, die die ersten Tracks des Albums im Netz kommentierten, allerdings keine Rolle. „Zumindest nicht in der jetzigen Version“, sagt Costello. „Aber ich fände es schön, wenn wir die Platte nun für andere Leute öffnen würden, um die Songs auseinanderzunehmen und wieder neu zusammenzusetzen.“ Sehr wahrscheinlich, dass es so kommt. Schließlich steht auf dem Albumcover, das gestaltet ist wie Allen Ginsbergs Gedichtband „Howl And Other Poems“ aus der „Pocket Poets“-Reihe des legendären City-Lights-Buchladens in San Francisco, bereits der Vermerk „Number One“.

Diese erste Fassung ist vor allem das Werk von Costello, Questlove und Produzent Steven Mandel, die sich oft spätabends in 30 Rock trafen, um an Schlagzeug und Klavier das Grundgerüst für die Stücke zu erarbeiten. Manchmal war auch noch der Keyboarder Ray Angry dabei oder der walisische Bassist Pino Palladino, der nach dem Tod von John Entwistle einst bei The Who einsprang. „Wir haben mit der Zeit einen kompositorischen Stil entwickelt“, so Costello. „Das musikalische Fundament bestand häufig aus zwei Akkorden, manchmal auch nur einem, und trotzdem konnten darauf große Melodien entstehen.“

Questlove, der von sich selbst sagt, er habe schon als Kind immer eher auf das gehört, was sich bei einem Song im Hintergrund abspielt, und Costello, der sich mit lauter Stimme und großen Emotionen in den Vordergrund singt, scheinen ein ideales Team zu sein. „Die Roots haben durch die vielen Jahre, in denen sie Tag für Tag zusammenspielen, eine Musikalität entwickelt“, schwärmt Costello, „die sie bei ,Jimmy Fallon‘ für komische Effekte genauso einsetzen können wie wenn es darum geht, dunklere Dinge zu reflektieren, wie etwa auf ihren letzten Album ,Undun‘ oder auf dieser Platte.“

Die Aufnahmen seien zunächst wenig zielgerichtet gewesen, berichtet Costello. Man habe sich getroffen wenn es passte und wo es passte, habe an Tracks gebastelt, mit Rhythmen und Samples (viele davon aus Costellos Backkatalog) experimentiert, komponiert, arrangiert, abgemischt, die fertigen Stücke beiseitegelegt und von Neuem begonnen. Im Januar dieses Jahres habe Questlove plötzlich gesagt:“Wir haben ein Album!“

„Eigentlich hatte ich gar nicht geplant, noch mal eine Platte zu machen“, sagt Costello, und das nicht zum ersten Mal. „Ich dachte mir,,National Ransom‘ wäre eigentlich eine gute Platte, um aufzuhören und nur noch Konzerte zu spielen. Aber Steven und Quest haben das Ding wirklich in Fahrt gebracht, und irgendwann konnte mich nichts mehr aufhalten -außer vielleicht die Ungewissheit, wohin die Reise geht.“

Am Ende scheint er alles unter Kontrolle gehabt zu haben. „Wise Up Ghost“ ist keine Kuriosität in seinem Werk, sondern eher eine Art Synthese seiner musikologischen Studien der letzten zehn, elf Jahre: vom R&B auf „When I Was Cruel“, dem Funk der besten Stücke auf „The Delivery Man“, dem Soul von „The River In Reverse“ – und sogar die Jazz-Balladen von „North“ hört man hier heraus. „Ich glaube, wenn die Roots und Steven Mandel in meiner Musik nicht irgendwelche Gemeinsamkeiten zu ihren eigenen Sachen gesehen hätten, wäre es nicht zu dieser Zusammenarbeit gekommen“, meint Costello. „Es ging uns nicht darum, irgendwelche alten New-Wave-Stücke im HipHop-Style zu spielen. Wenn etwas frisch klingen soll, muss es zu einer Kollision zwischen bereits bestehenden Stilen kommen. Guck dir an, wie Rock’n’Roll entstanden ist: Zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort kollidierten Hillbilly-Music und R&B, und eine brandneue Idee entstand.“

Die Analogie ist dann natürlich doch ein bisschen zu groß. „Wise Up Ghost“ klingt naturgemäß nicht wie ein Riesenknall nach der Kollision zweier bis dahin auch ethnisch ziemlich segregierter Stile, sondern eher wie das ohne Knall und große Rauchbildung vonstatten gehende Verschmelzen zweier sehr großer, sich nicht unwesentlich überschneidender Plattensammlungen. Die eingangs erwähnte erste Specials-LP könnte hier ebenso gut als Referenz dienen wie einige Lee-„Scratch“-Perry-Produktionen, Sly Stones „There’s A Riot Going On“ oder der Soul aus der Roots-Heimat Philadelphia. Sicher hatte auch Brent Fischer (ebenfalls ein Musikersohn, nämlich der des Jazz-Pianisten und Komponisten Clare Fischer, der auch Songs für Princes „Parade“ arrangierte) mit seinen ganz am Ende auf die Tracks gelegten Streicherminiaturen seinen Anteil daran, dass aus den ohne Blick für das große Ganze produzierten Stücken tatsächlich ein geschlossenes Werk wurde. So ist „Wise Up Ghost“ eine äußerst geschmackvolle Formspielerei mit einer gewissen lyrischen Zeitgeistigkeit geworden.

„Was viele Leute von musikalischen Abenteuern wie diesem abhält“, sagt Costello, „ist ihre Befürchtung, unhip zu wirken, wenn sie sich zu sehr anstrengen, hip zu sein. Sie versuchen solche Experimente erst gar nicht, aus Angst sich lächerlich zu machen. Aber ich möchte die musikalischen Abenteuer der letzten Jahre nicht missen. Ich erwarte nicht, dass mir alle überall hin folgen und alles verstehen, was ich mache. Aber ich habe immer das nach meinen Möglichkeiten Beste gegeben. Und das aus Überzeugung. Ich habe mich nie verstellt, das war niemals affektiert.“ Und so sei es auch dieses Mal gewesen. „Es passierte nur vollkommen unerwartet, und das war wunderbar, weil wir niemandem davon erzählt haben und vollkommen ohne Angst an die Sache herangehen konnten.“

Vor diesem Nachmittag im Hotel Adlon hätte man gar nicht geglaubt, dass Elvis Costello überhaupt weiß, was das ist, Angst. Am Abend, beim Konzert vor der jedes Jahr ein bisschen kleiner werdenden Geheimgesellschaft seiner Fans, schnallt er sich schließlich sogar wieder seine alte Fender Jazzmaster um. Er muss sich nicht mehr fürchten vor der Vergangenheit -sie wird ihn niemals einholen. His aim is true.

COSTELLO & CO

Elvis Costello &The Brodsky Quartet

THE JULI ET LETTERS 1993

Auf den Vorgängeralben „Spike“ und „Mighty Like A Rose“ hatte Costello sich eher von den schönen Künsten leiten lassen als, wie zuvor, von Schuld und Sühne. Zu dieser „song sequence for string quartet and voice“, die er mit dem Brodsky-Streichquartett aufnahm, ließ er sich von einem Veroneser Literaturprofessor inspirieren, der Briefe aus aller Welt beantwortete, die in seiner Stadt für Shakespeares Julia eingingen. Ein Liederzyklus, der eher an „Eleanor Rigby“ erinnert als an Franz Schubert.

Elvis Costello and Bill Frisell

DEEP DEAD BLUE 1995

Ein Live-Album, das den gemeinsamen Auftritt beim Londoner Meltdown-Festival im Juni 1995 dokumentiert. Frisells glasklare Gitarre ist eher ein Duettpartner als eine Begleitung für Costello, der sich hier als Jazz-Crooner versucht. Die Songauswahl reicht von Charles Mingus‘ „Weird Nightmare“ bis zur Frisell/Costello-Co-Komposition des Titelstücks. Vor allem aber rettet dieses Album das herrliche „Love Field“(im Original auf „Goodbye Cruel World“) vor dem Vergessenwerden. Für eine großenteils instrumentale Jazz-Version des nächsten Costello-Albums, „Painted From Memory“, arbeiteten die beiden erneut zusammen.

Elvis Costello &Burt Bacharach

PAINTED FROM MEMORY 1998

Besser hätte man es sich nicht ausdenken können: Für Allison Anders‘ vom Brill Building ausgehende filmische Reise ins Herz der amerikanischen Musikindustrie, „Grace Of My Heart“ von 1996, schrieben Bacharach und Costello über Fax und Telefon das überirdische „God Give My Strength“ und offenbarten sich anschließend auf ihrem gemeinsamen Album als Songwriter-Duo, das es mit den großen, klassischen Brill-Building-Partnerschaften wie Gerry Goffin und Carole King, Doc Pomus und Mort Shuman, Barry Mann und Cynthia Weil und natürlich dem Gespann, das Bacharach selbst mit Hal David bildete, aufnehmen konnte.

Anne Sofie von Otter meets Elvis Costello

FOR THE STARS 2001

Als man die schwedische Sopranistin Anne Sofie von Otter seinerzeit fragte, welches Album ihres neuen musikalischen Partners sie denn besonders schätze, nannte sie „Kojak Variety“, eine nicht mal besonders gute Sammlung von Coverversionen alter vergessener Popklassiker aus dem Jahr 1996. Die Vermutung, dass die Idee zu dieser Zusammenarbeit nicht von ihr ausging, liegt also zumindest nahe. Costello gab sich aber Mühe, schrieb ein paar hübsche Lieder und suchte berückende Songs seiner Helden und Favoriten Paul McCartney, Ron Sexsmith, ABBA und Tom Waits aus. Die Otter interpretierte alles in der ihr eigenen kontrolliert-kühlen Art. Ein erkalteter Stern.

Elvis Costello & Allen Toussaint

THE RIVER IN REVERSE 2006

Der Hurrikan Katrina, der New Orleans in den Fluten verschwinden ließ, brachte Allen Toussaint und Elvis Costello zusammen. Bei einem Benefiz-Konzert für die Opfer der Katastrophe trafen sie sich 18 Jahre nach ihrer ersten Zusammenarbeit für Costellos „Spike“ wieder, und die Idee für ein gemeinsames Album mit Toussaint-Covers und neuen Stücken entstand. „The River In Reverse“ ist ein berührendes Tribut an die versunkene Heimat des Jazz und ein wütender Protest gegen die ausbleibende Hilfe der inkompetenten und ignoranten Bush-Regierung. Man hätte sich nur gewünscht, dass Toussaint seine elegante, helle Stimme ein, zwei Mal mehr erhoben hätte.

BEST OF QUEST

The Roots

THINGS FALL APART 1999

Ende der Neunziger bastelte das Neo-Soul-/HipHop-Kollektiv der Soulquarians in den New Yorker Electric Lady Studios an der Zukunft des Genres: Gleich drei Klassiker entstanden hier gleichzeitig. Das vierte Roots-Album, „Things Fall Apart“, ist hier das erste unter gleichen. Mit einem Sample aus Spike Lees „Mo‘ Better Blues“ beginnt das Album: „The people don’t come because you grandiose motherfuckers don’t play shit that they like“ – und dann beginnt eine Reise durch die schwarze Musik des 20. Jahrhunderts, in der die Roots Kunstwillen, Botschaft und den Shit, den wir mögen -wuchtige Beats, toughe Rhymes und die Stimme von Erykah Badu im Über-Hit „You Got Me“ – miteinander vereinen.

D’Angelo

VOODOO 2000

Die meiste Zeit sei er während der Aufnahmen zu „Things Fall Apart“ eigentlich mit der Produktion von „Voodoo“ beschäftigt gewesen, schreibt Questlove in seinen Memoiren „Mo’Meta Blues“. Wie die Roots war auch D’Angelo frustriert über den Weg, den der zeitgenössische R&B nach seinem Debüt, „Brown Sugar“ von 1995, Richtung Radiofreundlichkeit und Mainstream eingeschlagen hatte. „Voodoo“ war der widerständige Gegenentwurf dazu: ohne klare Songstrukturen, großenteils live und analog im Studio aufgenommen, klingen diese 70 Minuten, als hätte Prince den Weg in die Zukunft des R&B gefunden.

Erykah Badu

MAMA‘ S GUN 2000

Das dritte Album, das bei den Soulquarian-Sessions in den Electric Lady Studios entstand. Badus mystisches Debüt „Baduizm“, bei dem die Roots auch schon mitwirkten, war 1997 eins der Gründungsdokumente des Neo-Soul. „Mama’s Gun“ scheint eine Reaktion auf den immensen Erfolg des ersten Albums zu sein, die schwarze Version von Joni Mitchells „Blue“ vielleicht. Die Künstlerin stellt ihr eigenes Leben in den Mittelpunkt dieser Lieder. Ein direktes, introspektives Album, dem Jay Dee und Co-Produzent Questlove einen frischen, klaren Sound verleihen.

The Roots

UNDUN 2011

Das beste Roots-Album des 21. Jahrhunderts hat seinen Ausgangspunkt in Sufjan Stevens‘ Song „Redford (For Yia-Yia & Pappou)“(im Original auf „Michigan“), und erzählt in umgekehrter Chronologie den letzten Tag im Leben des jungen Drogendealers Redford Stevens in einem Slum von Philadelphia. Neben Black Thought übernehmen Rapper und Sänger wie Big K.R.I.T. und Bilal die Rolle des Protagonisten. Musikalisch ist „Undun“ selbst für die Roots ambitioniert und vielfältig – neben HipHop und Neo-Soul sind Ambient-Passagen, die Stevens-Piano-Ballade und eine Free-Jazz-Improvisation zu hören. Am Ende steht ein Streichquartett.

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