Gefühl und Tiefe

Um zu verstehen, was Soul ist, sollte man nicht nur Platten von Aretha Franklin und Al Green hören – eine durchtanzte Nacht kann das vielleicht noch besser erklären

Es gibt Songs, die ewig bleiben. Abgespeichert als lautlose Melodie im Hirn, als stets abrufbarer Sound, als unwillkürliche Sinneswallung. Immer wenn mir die Zeile „I started to write this song about you“ in den Sinn kommt, höre ich sie auch, setzt sich der ganze Song in Bewegung, spüre ich die überwältigende Schönheit dieses Liedes auf meiner Haut. Die tastende, zitternde, suchende Stimme des jungen Edwyn Collins, den jubilierenden Background-Chor, die fröhlich jingelnde Gitarre, das stoisch patschende Schlagzeug. „L.O.V.E. Love“ war der ergreifendste Song auf dem Debüt-Album der schottischen Pop-Band Orange Juice, und das ist gut 30 Jahre her. Aber immer wieder klingt er wie gerade eben zum ersten Mal gehört.

Das hat Soul. Aber es ist kein Soul.

Viele Jahre später sah ich den Autor von „L.O.V.E. Love“ in einem dunkelgrünen Anzug und höflicher Laune auf der Bühne eines dieser disneyworldartigen Live-Läden in Los Angeles, in denen die Tickets gerne 70 Dollar kosten und das 7er BMW fahrende Publikum Meeresfrüchtesalat an eingedeckten Tischen isst. Es war erschütternd. Aber Al Green traf mich mitten ins Herz wie keiner zuvor.

Das war Soul. Und er der größte Soulsänger.

Klar, es gibt andere Große: Marvin Gaye, Otis Redding, O. V. Wright, Sam Cooke, Geno Washington, Frank Ocean. Oder Aretha Franklin, Ann Peebles, Esther Phillips, die Emotions, Erykah Badu, Mary J. Blige. Für mich blieb Al Green die größte Stimme, vielleicht auch weil ich sie auf Umwegen lieben lernte und weil sie Sätze sang wie: „I would give my life for the glory/ Just to be able to tell the story/ About love.“ Und wie diese Stimme sang: zart, leicht nasal, in den Höhen schleichend, im Refrain druckvoll, schließlich entfesselt, aber immer pointiert, immer voll urbaner Eleganz und der Dramaturgie des Songs folgend.

So ist die Geschichte des Soul eine Geschichte der Stimmen. Und die Stimme des Soul ist hochemotional und beseelt – egal ob sie himmelwärts jauchzend jubiliert, ob sie kreischt und wimmert, ob sie erzählt oder schmeichelt, tieftraurig croont oder fröhlich zwitschert, ob sie lasziv seufzt und ihr die schon längere Wegstrecke Leben eingekerbt ist oder ob sie taufrisch der Adoleszenz entspringt. Sie bewegt.

Wo fing das eigentlich an? In den Blues-Kaschemmen am Mississippi und in den Gospel-Kirchen Alabamas, in den Jazz-Lokalen von New York und Chicago, bei den ersten Doo-Wop-Gruppen – hier liegen die Wurzeln eines Sounds, der sich später von Rhythm’n’Blues und Rock’n’Roll gewässert zu einem eigenen, starken Ast der Popkultur auswuchs. Vielleicht setzte Ray Charles‘ legendäres „What’d I Say“ von 1959 den definierenden Grundton, und Atlantic Records, das Label des nicht minder legendären Ahmet Ertegün, griff ihn früh auf. Im Süden der USA klang dieser Sound in den Sechzigerjahren rau und kratzig, das in Memphis beheimatete Label Stax steht dafür. Im Norden, in Detroit, definierte Motown den Sound, der eleganter und massenkompatibler war als der Southern Soul. Mit dem Ende der 60er-Jahre und der mit der Desillusionierung der Bürgerrechtsbewegung einhergehenden Desillusionierung der selbstbewusst aufstrebenden schwarzen Mittelschicht veränderte sich auch die schwarze Popmusik: Die Hitfabrik Motown ging auf Kurzarbeit und Stax gleich ganz pleite. Andere Sounds – der mal agitierende, mal lüsterne Funk von Bands wie Sly & The Family Stone auf dem einen, der schwelgerische, hybride Philly-Soul auf dem anderen Ende der Skala – dominierten, der klassische Soul lebte und entwickelte sich jedoch weiter, Künstler wie O. V. Wright, Ann Peebles oder Al Green hörten nicht auf, Platten zu machen; Isaac Hayes, Marvin Gaye und Curtis Mayfield schufen inhaltlich und kompositorisch herausragende Meisterwerke. Disco kam, funkelnd und verkokst, HipHop, der Modern Soul der 80er, House, Breakbeat, moderner R&B und schließlich die seelenvollere unter der elektronischen Musik unserer Tage.

Eine Vielzahl von Stimmen. Und ein Begriff, der sowohl ein Genre umreißt als auch ein Gefühl. Man kann Aretha Franklins „Respect“ zu Hause in der Küche hören und wird unwillkürlich lauter drehen, die Schultern werden zucken, die Füße wippen und Endorphine durch das Hirn jagen, Ermutigung und Glück könnten am Ende der zweieinhalb Minuten stehen. Oder pure Gleichgültigkeit – womit dann aber klar wäre, dass man nicht zur Spezies Soulboy oder Soulgirl zählt. Potenziert werden Ermutigung und Glück höchstens noch auf den Holzdielen eines Clubs, wo kurzgeschorene Jungs in durchnässten Fred-Perry-Shirts verzückte Pirouetten zu einer stampfenden Maxine-Brown-Single drehen, oder in einem anderen Club, in dem mit den Armen rudernde Mädchen in einer Woge verzückter Hedonisten und eingehüllt in deepe House-Sounds die Nacht ins Endlose verlängern. Denn Soul ist nicht bloß Soul. Sondern mehr als ein Begriff für die schwarze Popmusik der 60er- und frühen 70er-Jahre; Soul steht als Synonym für einen spezifischen künstlerischen Ausdruck, der sich bis heute immer wieder in Sounds und Stimmen findet, in Frank Oceans „Channel Orange“ beispielsweise, dem besten Soul-Album des Jahres, das beim Händler garantiert unter HipHop oder R&B wegsortiert ist. Und er steht für eine hoch-emotionale, hedonistische, mitunter gar hysterische Lebenshaltung. Ein Schlüsselbegriff des Soul ist Tiefe. Gemeint ist das Tiefempfundene, sei es Liebe oder soziale Ungerechtigkeit. Und es ist weniger der gesungene Text selbst als die Art, wie er gesungen wird, was diese Tiefe erzeugt.

Mitte der 80er-Jahre hatte die heute fast vergessene Joyce Sims einen Hit, der „Come Into My Life“ hieß und ziemlich mitreißend war. „Es sind bloß dusselige Worte“, sagte Sims damals, einigermaßen erstaunt, dass ihr Song Menschen zu Tränen rührte, und einigermaßen gelangweilt, dass man mehr wissen wollte. „Es geht doch nur um eine Frau, die verliebt ist.“

Wobei wir wieder bei der Stimme sind. Und in einer Küche in Glasgow, 1981, wo der junge, bleiche Edwyn Collins dieses Lied im Radio hört, das mit „I started to write this song about you“ beginnt und das ihn nicht mehr verlässt, das er schließlich mit seiner euphorischen, versnobten, wunderbaren Schrammelband in einer Garage einstudiert und dann Al Greens dusselige, liebestrunkene Worte auf Platte aufnimmt.

Und Al Green selbst? Der gibt immer noch Konzerte. Und manchmal, ganz ab und zu, schreibt er sogar mal wieder einen Song.

DIESE 50-KÖPFIGE JURY HAT ÜBER DIE 100 BESTEN SOUL-ALBEN ABGESTIMMT:

MARUAN ABU-DAGGA, Bar 3, Berlin – JENS BALZER, „Berliner Zeitung“, RS – ANDREAS BANASKI, Autor RS – MAIK BRÜGGEMEYER, Redaktion RS – HANNS PETER BUSHOFF, Sony Music – RALPH CHRISTOPH, c/o pop – ERIC D. CLARK, DJ und Produzent – LESLIE CLIO, Sängerin – FRANK CASTENHOLZ, „Get Happy“ – JOY DENALANE, Sängerin – DETLEF DIEDERICHSEN, Haus d. Kulturen d. Welt, Berlin – WOLFGANG DOEBELING, Autor RS, Radio Eins – JONATHAN FISCHER, „Frankfurter Allgemeine“, „Die Zeit“ – LOTHAR GORRIS, „Der Spiegel“ – MAX GÖSCHE, Autor RS – TORSTEN GROSS, „Spex“ – CHRISTOPH GURK, HAU Berlin – STEPHAN HEINTKE, Soulshack – CHRISTINE HEISE, „tip“, Radio Eins – JOACHIM HENTSCHEL, „Süddeutsche Zeitung“, RS – STEFAN HOFFMANN, Autor von „Rare Soul“ – TINA HOHL, Übersetzerin und Autorin – KARIN HÜTTENHOFER, Traumathek, Köln – PETRA KALB, Geschäftsführung RS – OLAF KARNIK, Universität Paderborn – ALBERT KOCH, „Musikexpress“ – KONRAD VON LÖHNEYSEN, „Embassy Of Music“ – ANDRÉ C. LUTH, Fettes Brot – NNEKA, Sängerin – DAGMAR MAZIEWSKI, digalittledeeper.de – RALF NIEMCZYK, Redaktion RS – HANS NIESWANDT, DJ und Autor – ASTRID NORTH, Sängerin – ERIC PFEIL, „Frankfurter Allgemeine“, RS – JENS- CHRISTIAN RABE, „Süddeutsche Zeitung“ – MICHAEL REINBOTH, Into Something, Compost Records – ROBERT ROTIFER, Autor RS – FRANK SCHMIECHEN, „Die Welt“ – MARKUS SCHNEIDER, „Tagesanzeiger“, RS – FRANZ SCHÖLER, „Stereoplay“, RS – SMUDO, Die Fantastischen Vier – FRANK SPILKER, Die Sterne – MATTHIAS STRZODA, Musiker und Autor – KARSTEN TOM- NITZ, Autor von „Rare Soul“ – KLAUS WALTER, ByteFM – KATHARINA WEINGARTNER, Regisseurin und Autorin – UWE WELTER, Groove Attack, Köln – JAN WIGGER, „Spiegel Online“ – ARNE WILLANDER, Redaktion RS – ROLF WITTELER, Le Pop Musik – SEBASTIAN ZABEL, Redaktion RS

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