Gemma Ray – Zu gut, um echt zu sein

Die britische Songschreiberin Gemma Ray vergisst schon mal ihr eigenes Alter, hat ein Jahr die Schule geschwänzt und sieht dank Hypnose und Meditation wieder Licht am Ende des Tunnels

Gemma Ray ist eine Alice im Wunderland. Eine bildhübsche, abgründige Britin in Berlin. Unter dem perfekten Lidstrich, der zuletzt Amy Winehouse ähnlich eindrucksvoll gelang, schaut sie einen mit ihren Mandelaugen an und spricht von geheimen Tunneln in Fantasiewelten. Nur Kaninchen hoppeln da keine. Es scheint, als wirke eine metaphysische Bedrohung auf sie ein – ein dunkler Schatten. Das Fleischermesser, mit dessen Rücken sie beizeiten die Gitarre streicht, hat sie für den Fall der Fälle stets am unteren Teil des Instruments befestigt.

Gemma Ray sagt, sie habe sich jahrelang in einem Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen befunden. Es fing im Alter von sieben Jahren an. In Essex. Gemma ging ein Jahr nicht zur Schule. Irgendwas habe mit ihrem Blut nicht gestimmt. Sie war müde, total erschöpft. „Wie eine Blutvergiftung“, aber Genaueres kann sie dazu nicht sagen. Jenes Jahr habe sie sehr schüchtern gemacht.

Die Frau, die, wenn sie steht, spielt und singt, unendlich groß scheint und so Sixties-selbstbewusst wie „Mad-Men“-Überfrau Christina Hendricks, wird ganz klein, wenn sie spricht. Da kommt dann die Peggy (Elisabeth Moss, auch brillant) durch, die Sekretärin, die es bis zur Copywriterin geschafft hat. Gemma und Peggy haben eines gemeinsam: das Mundwinkelzucken, das eine gewisse Unsicherheit mit sich bringt. Sie stockt selbst bei der Frage zu ihrem Geburtstag und dem vollen Namen, denn mal ehrlich: Der Name klingt zu gut, um echt zu sein. „Gemma …“, sie macht eine Pause, dann Zucken, dann schaut sie sich um, so als ob sie auf den Zuruf der richtigen Antwort wartet. „Gemma Ray. Without a middle name.“ Wow, dieses „without a middle name“, dieser kleine Zusatz, macht es irgendwie unheimlich. Beim Thema Geburtstag erzählt sie etwas von Zahlen, die sich durch ihr Leben ziehen. Vieren und Achten und 1984, 1988. „8.8. 1980“, meint man dann verstehen zu können.

Aber zurück zu den Tunneln, die auch „Island Fire“, ihr viertes Album, durchziehen, wie das Reduit die Schweizer Alpen aushöhlt. Zeittunnel. Zurück in die Sechziger. Ganz schön viel Hall. Dramatisch, groß, mit dem Schmetterlingsflatterzupfen in „They All Wanted A Slice“, das sich bald in das noisige Messerkratzen auf dem Griffbrett auflöst. Daneben steht der Girlgroup-Pop eines „Rescue Me“, dessen Zeilen so gar nicht zur Sweety-Schunkelhymne passen. „Opiated, medicated, dreams are all how dear/ A million miles from here“ – das klingt trauriger, als der Song eigentlich ist. So muss sich Gemma Ray wohl gefühlt haben. Bis, ja, bis wann eigentlich? Wieder gibt es nur vage Angaben. Der Schatten war lange ihr Begleiter. So bis 27, bis zur Meditation, bis zur Hypnose. Da hat Gemma ihren „Verstand neu programmiert“. Totaler Reboot. Drei Stunden Hypnose, fast jeden Tag. Und wieder klingt diese durchchoreografierte Kurzgeschichte zwischen Poe, Carroll und Kafka zu gut, um wahr zu sein.

Und kurz bevor die Zeit mit ihr vorbei ist, bemerkt man die falsche Blüte in Gemmas Haar. Hibiscus boryanus, orangener Eibisch, eine Malvensorte. Und die funkelt wie ein nach hinten gewandtes Diadem. Und Gemma sieht schön aus. Zufrieden scheint sie. „Here Comes The Light“, eiert das vorvorletzte Stück im psychedelischen Walzer auf „Island Fire“. Auf ihren braunen Stiefeln läuft sie den Bürgersteig dem Fluchtpunkt entgegen. Da ist Licht auf der Straße um die Mittagszeit, ganz hell. Und der Schatten scheint sehr weit weg.

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