Glen Campbells langsamer Abschied

Weil Alzheimer ihm die Erinnerung raubt, zieht sich der legendäre Gitarrist und Sänger von "Rhinestone Cowboy" ins Private zurück.

Ein sonniger Nachmittag in Malibu. Campbell sitzt auf einer Couch seiner „toskanischen“ Villa, mit Blick über Hügel, Palmen und den glitzernden Pazifik, und erzählt von „Rhinestone Cowboy“, seinem Hit von 1975 – dem „vielleicht besten Song, den ich je gesungen habe“. Er stimmt den Refrain an und schmettert: „Like a rhinestone cowboy/ Riding out on a horse in a star-spangled radio.“ Er hält an, um sich selbst zu korrigieren. „Radio?“, sagt er. „Ich meinte natürlich, Rodeo‘.“ Als er weiterzusingen versucht, wollen sich die Worte überhaupt nicht mehr einstellen.

Was in jüngster Zeit immer häufiger passiert. Im Juni ließ der 75-jährige Sänger und Gitarrist verlauten, dass er sich aus der Musikszene zurückziehe, da er an Alzheimer erkrankt sei. Es ist ein Abschied auf Raten: Ende August erschien „Ghost On The Canvas“, sein jüngstes Album, auf dem Campbell-Verehrer wie Billy Corgan, Paul Westerberg und Jakob Dylan ihre Verneigung machen – und die „Glen Campbell Goodbye Tour“, die ihn rund um den Globus führen soll, beginnt jetzt in den USA.

Es ist das letzte Kapitel einer ungewöhnlichen und an überraschenden Haken reichen Karriere. Allein in den USA verbuchte er 21 Top-40-Hits, verkaufte 45 Millionen Alben, hatte eine eigene TV-Show und spielte Gitarre bei Hunderten von Pop-Klassikern, angefangen bei „Be My Baby“ bis hin zu „Good Vibrations“. „Er hatte eine wunderbare Stimme, einen glasklaren Gitarren-Sound und spielte Melodielinien, die wirklich innovativ waren“, sagt Tom Petty, der Campbell als einen seiner Einflüsse bezeichnet. „Seine Musik berührte mich einfach.“

„Ghost On The Canvas“ ist eine Rückkehr zu diesem Sound: emphatische Vocals, eine weit ausladende, orchesterdurchwirkte Produktion und viele Gitarren. Produzent Julian Raymond schrieb, gemeinsam mit Campbell, einen großen Teil der Songs auf besagter Couch, um sie dann gleich in Campbells Studio nebenan aufzunehmen. Raymond, der in der Vergangenheit mit den Wallflowers, Rosanne Cash und Cheap Trick arbeitete, stellte das Material zusammen und rekrutierte Corgan, Cheap Tricks Rick Nielsen, Westerberg und Jakob Dylan. „Es war alles so einfach“, sagt Campbell über die Aufnahmen. „Ich musste einfach nur reingehen und singen.“ Die Songs berühren alle Stationen seines rastlosen Lebens, von den privaten Katastrophen – drei gescheiterte Ehen, seine langjährige Kokain- und Alkohol-Abhängigkeit – bis hin zu dem Glück, das er mit der Frau fand, mit der er nun seit 28 Jahren verheiratet ist.

Campbell wurde nichts in den Schoß gelegt. 1936 wurde er im depressionsgebeutelten Billstown, Arkansas als siebtes von zwölf Kindern einer Farmerfamilie geboren. „Unser Fernseher lief mit Kerzenlicht“, scherzt Campbell mit heiserem Südstaaten-Drawl. Er war ein Wunderkind an der Gitarre, verließ mit 14 die Schule und zog mit seinem Onkel nach Wyoming, wo sie als Duo in Spelunken auftraten. Irgendwie bahnte er sich den Weg nach Los Angeles, wo er 1962 Mitglied der Wrecking Crew wurde – einer Gruppe von Sessionmusikern, die auf unzähligen Aufnahmen der Sechziger vertreten war.

„Ich war als Rhythmusgitarrist bei so ziemlich allen Aufnahmen dabei“, sagt er und übertreibt keinesfalls: Allein 1963 war er an 586 Tracks beteiligt – und im Laufe des Jahrzehnts an zahllosen mehr: von Elvis Presleys „Viva Las Vegas“ und „Mr. Tambourine Man“ von den Byrds bis zu Merle Haggards „Mama Tried“ und „You’ve Lost That Lovin‘ Feeling“ von den Righteous Brothers. Er schaffte es, sich jeden Sound draufzuschaffen, der gerade angesagt war – und glänzte so auch als Surf-Gitarrist auf Aufnahmen von Jan & Dean, Dick Dale und den Beach Boys. „Ich lernte, wie wichtig es war, knapp neben dem Beat zu spielen“, sagt er. „Es gibt dem Song erheblich mehr Drive. Man scheint dem Beat einen Hauch voraus zu sein, ist es tatsächlich aber nicht.“

Der Erfolg hielt ihn nicht davon ab, in Anwesenheit echter Stars tief beeindruckt zu sein. Bei den Aufnahmen zu Sinatras „Strangers In The Night“, so Campbell, habe er Sinatra so lange angestarrt, bis der Sänger seinen Produzenten zur Seite nahm und sagte: „Wer ist der verdammte Homo, der mich die ganze Zeit mit seinen Augen verfolgt?“ Campbell gackert vor sich hin. „Werde ich nie vergessen. Aber ich habe mir damals wirklich den Arsch aufgerissen“, fügt er an, „weil ich die Jobs nie als selbstverständlich empfand.“

Ende 1964 hatte Brian Wilson, gerade auf Tour mit den Beach Boys, einen Nervenzusammenbruch, und man klopfte bei Campbell an, ob er als Bassist und Sänger einspringen könne – ein Job, der immerhin sechs Monate dauerte. „Er fügte sich nahtlos ein“, so Wilson. „Er ist ein großartiger Gitarrist, aber auch als Sänger war er besser als der ganze Rest. Er konnte sogar höhere Noten treffen als ich.“ Wilson nutzte die freie Zeit, um „Pet Sounds“ zu komponieren, bei dem Campbell ebenfalls auf fünf Tracks vertreten ist. Wilson schrieb und produzierte auch Campbells Single „Guess I’m Dumb“, die zwar eine kleine Pop-Perle war, aber sang- und klanglos unterging.

Der Hit kam schließlich 1967 in Gestalt von „By The Time I Get To Phoenix“, geschrieben von Jimmy Webb, einem jungen Talent aus Los Angeles, das ein Händchen für komplexe, endlos mäandernde Balladen hatte. „Er war der ideale Interpret für meine sentimentalen Lieder“, so Webb. „Wir machten einige Aufnahmen zusammen, die fast schon die Nähe der Perfektion erreichten.“ Die Single war der Beginn einer Zusammenarbeit, aus der die bewegende Vietnamkrieg-Ballade „Galveston“ ebenso resultierte wie „Wichita Lineman“, der Song über die Einsamkeit eines Telefonkabel-Verlegers, der Campbell seinen ersten Top-Ten-Hit bescherte.

Zur Mittagszeit geht Campbell in die maritim eingerichtete Küche, wo seine Frau Kim Gemüse geschält hat, während sein alter Freund Steve Ozark einige „Goodtime Burgers“ auf den Grill wirft – belegt mit Salat, Tomaten, Mayo und viel Zwiebeln. „Wann immer er ein Interview gibt“, sagt Ozark, „muss ich ihm einen Burger machen.“ Schon in der „Glen Campbell Goodtime Hour“, zwischen 1969 und 1971 im US-Fernsehen ausgestrahlt, waren die Burger ein unverzichtbares Requisit. Im Produktionsteam befanden sich damals junge Schreiber wie Rob Reiner und Steve Martin, doch die Sketche, in denen Campbell auftrat, waren oft abgedroschen – ganz anders als seine brillanten Duette, zu denen sich die Pop-Prominenz von Cher bis Ray Charles einstellte. Die Show lieferte auch das Sprungbrett für junge Countrystars wie Willie Nelson. „Er gab uns die Möglichkeit, ein Publikum zu erreichen, das sonst nie von uns erfahren hätte“, sagt Nelson. „Er hat mir immer unter die Arme gegriffen.“

Campbells jugendlicher Charme veranlasste John Wayne, ihn 1969 als seinen Co-Star in „True Grit“ zu besetzen. Doch die unbeschwerten Jahre, in denen alles zu gelingen schien, sollten schnell wieder zu Ende gehen: Die TV-Show wurde abgesetzt, „Norwood“, Campbells erster Spielfilm, erwies sich als Kassengift – und auch die Hits wollten sich nicht mehr einstellen.

Er komprimierte all diese Erfahrungen in „Rhinestone Cowboy“ – einem trotzigen Song von Larry Weiss, in dem der betagte Protagonist schwört, seine Karriere trotz aller Widrigkeiten fortzusetzen. Die Single war 1975 der erste Song seit 1961, der die Spitzen der amerikanischen Pop- und Country-Charts erreichte, doch Campbells Abstieg in die Koks- und Alkohol-Hölle hatte längst begonnen. „Als ich zum ersten Mal Kokain nahm“, erinnert sich Campbell, „war es, als träten die Augen aus ihren Höhlen.“

An diese Zeit hat Campbell nur noch vage Erinnerungen. Er erinnert sich weder an die 16-jährige Ehe mit seiner zweiten Frau Billie Jean Nunley, von der er sich 1976 trennte – noch an die 15-monatige, drogenumnebelte Affäre mit der 21-jährigen Countrysängerin Tanya Tucker, die ihnen 1980 das Titelblatt des „People“-Magazins eintrug („The wildest love affair in showbiz“). „Kann sein, dass ich damals was mit ihr hatte“, sagt Campbell heute achselzuckend.

Er erinnert sich allerdings an das Blind Date mit Kim, einer Tänzerin aus der Radio City Music Hall, das katastrophal endete, als er nonchalant erklärte, sie „bespringen“ zu wollen. Aber er ließ nicht locker und rief sie weiterhin an, bis ein Jahr später die Hochzeitsglocken läuteten. Bei der Feier war Campbell so betrunken, dass er seine Schwiegermutter mit der Nachricht überraschte, dass Kim bereits drei Monate schwanger war. Mit Kims Hilfe schaffte er es aber bis 1987, seinen Dämonen endgültig den Rücken zu kehren. „Ich kann mich nur bei ihr bedanken“, sagt Campbell. „Wenn man aus ganzem Herzen um etwas betet, bekommt man auch eine Antwort.“

Als er sich über seinen Burger hermacht, fröstelt ihn plötzlich – und er fragt, ob jemand die Klimaanlage angestellt habe. Alle schütteln den Kopf, doch Campbell klettert die Wendeltreppe hoch und verbringt die nächsten 20 Minuten in diversen Schlafzimmern, wo er geräuschvoll nach der Ursache forscht. „Kim!“, ruft er mehrfach. „Wir brauchen kein Airconditioning. Es ist eiskalt hier oben. Seid ihr alle übergeschnappt?“

Seiner Krankheit zum Trotz ist Campbell sonnengebräunt, wirkt voller Energie und ist regelmäßig auf dem Golfplatz. Auf der anstehenden Tournee wird er von seinen vier Kindern begleitet (drei von ihnen spielen auch in einer von Arcade Fire inspirierten Band namens Instant People), und Campbell scharrt bereits mit den Hufen. „Ich denke, dass es für ihn eine positive Erfahrung ist“, sagt Ashley, seine 24-jährige Tochter. „Vor der Ankündigung hörte man oft:, Er ist Alkoholiker, er ist wieder voll drauf.‘ Aber inzwischen mehren sich die wohlmeinenden Stimmen, die ihm in seiner Situation Mut machen.“

Campbell ist mittlerweile wieder in der Küche erschienen, trägt einen violetten Bademantel über T-Shirt und Jeans und hält ein Glas mit Saft in der Hand. Zeit für eine letzte Frage: Wie geht er selbst mit seiner Krankheit um? Er sieht mich mit leeren Augen an, selbst als man ihn an seinen jüngsten Besuch bei seinem Doktor erinnert. „Ich kann mich nicht mal dran erinnern, überhaupt beim Arzt gewesen zu sein“, lacht er nervös. „Ich fühle mich auch völlig okay. Ich kann mich nicht erinnern, je mit einem Arzt gesprochen zu haben, der sagte:, Sie haben Alzheimer.‘ Ich weiß nicht, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat. Ich war schon seit Jahren nicht mehr beim Arzt.“

Er dreht sich zu Ashley. „Was ist mit diesem ganzen Alzheimer-Mist, Honey? Kannst du mir das erklären?“

„Ja“, sagt sie. „Du bist in einem frühen Stadium. Es ist ein Verlust des Kurzzeitgedächtnisses.“

„Ein Kurzschluss auf der Memory Lane?“, fragt er.

„Ja. Manchmal hast du Probleme, dich an etwas zu erinnern.“

„Nun“, sagt er. „Ich wollte den ganzen Mist eh schon seit Jahren entsorgen. Aber wer behauptet das denn?“, fragt er.

„Dein Doktor.“

„Oh.“ Campbell lacht für einen Augenblick. „Na, wenn das so ist, warte ich wohl am besten, bis der Blitz einschlägt.“

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