Rock am Ring – Helden unter sich

An vier Tagen sahen 85.000 Menschen über 80 Bands auf drei Bühnen - aber wie erleben eigentlich die Musiker das Festival Rock am Ring? Zum 25. Jubiläum des größten deutschen Rock-Events forschten wir hinter den Kulissen - und fanden ein faszinierendes Universum zwischen Rennbahn, Garderobe und Bühne.

Slash

erlebte seine Festival-Initiation mit 14 auf dem World Music Festival in L.A. Headliner damals: Seine Lieblingsband Aerosmith. „Sie waren schrecklich“, sagt er lachend. „Steve Tyler nahm so viele Drogen, dass man die Songs nicht mehr erkennen konnte.“ Sein einprägsamster Festival-Moment ist weniger lustig: Während eines Konzerts von Guns N‘ Roses im britischen Castle Donington kamen 1988 zwei Fans ums Leben. Slash: „Das war der ultimative Downer, dabei hatte es so schön angefangen. 80.000 Leute, die wussten, wer wir sind – der Wahnsinn. Uns war nicht klar, dass wir diesen Punkt schon erreicht hatten. Nie wieder in meiner Karriere lagen Glück und Schrecken so nahe beieinander.“ Über 20 Jahre später gönnt er sich einen Ruhemoment in Hans-Jürgen Topfs (l.) „Rock’n’Roll Laundry“, bevor er mit Guns N‘ Roses-Klassikern die alten Tage aufleben lässt.

Jay-Z

Der Marsch der Jay-Z-Entourage zur Hauptbühne am frühen Freitagabend war einer der eindrucksvollsten Momente des Festivals. Zwar verzichtete der vermeintliche Rock-Exot beim anschließenden Konzert auf „Wonderwall“. Davon abgesehen zog er die Massen jedoch ähnlich souverän in seinen Bann wie beim vielbeachteten Glastonbury-Triumph vor zwei Jahren. Angereist war der Rapper (3. v. l.) mit seiner Frau Be-yoncé Knowles. Eben jene sorgte dann auch für die eigentliche Überraschung: Den abendlichen Auftritt der Headliner Rage Against The Machine begleitete die offenbar Rage-sozialisierte R&B-Diva mit glühenden Augen und einem wilden Tanz. Nachdem die letzten Akkorde von „Killing In The Name“ verklungen waren, entschwebte das illustre Paar im Helikopter.

Ellie Goulding

bereist in diesem Jahr zum ersten Mal die großen Sommerfestivals – und war entsprechend aufgeregt. „Ich wusste gar nicht, dass Ka-sabian meine Musik so sehr mögen“, wunderte sich die Newcomerin. „Vorhin kamen sie an und fragten, ob wir nicht mal zusammen auftreten sollten, das ist so toll!“ Goulding bezauberte mit einem Akustik-Set für MTV ebenso wie mit ihrem Auftritt auf der Alterna-Stage. Schließlich gelang ihr mit Jan Delay eine Neuinterpretation des Klassikers „Die Zwei von der Tankstelle“.

Turbostaat

legten eine kurze Rast auf einer Wiese neben der Rennstrecke ein. Insbesondere Tobert Knopp (auf dem Dach) war erfrischt und ausgeruht: Der Bassist hatte zum ersten Mal in seinem Leben gut in einem Nightliner geschlafen. So gut, dass er am Morgen kurz nicht wusste, wo er war. Kein Wunder: Die Flensburger Band hat die Republik zuletzt unermüdlich im Kleinbus abgegrast und sich so ein immer größeres Publikum erspielt. Bei Rock am Ring waren Turbostaat zum zweiten Mal: „Vor zwei Jahren waren wir auf der Zeltbühne, das war großartig“, erinnerte sich Gitarrist Rotze Santos (r.). „Heute auf der Hauptbühne war es ein bisschen schwieriger. Ist ja eine große Ehre, aber wenn es noch so hell ist, ist das keine optimale Voraussetzung.“ Der Auftritt am Nachmittag geriet ungeachtet dessen formidabel.

Jan Delay

kam verspätet zum Fototermin, weil er den Auftritt von Jay-Z zuende sehen wollte. Am Ring war der Musiker bereits mehrmals zu Gast, sein größter Festival-Moment fand jedoch woanders statt: „Natürlich sind die ganzen Ring-Dinger immer krass, aber das Größte war für mich, 2003 mit den Beginnern beim Hip-Hop-Open zu spielen.“ Gewohnt lässig absolvierte Delay das Shooting mit Ellie Goulding, bevor es vor die Hauptbühne ging — Rage Against The Machine wollte er nicht verpassen.

The Hives

Mehr Festivals als die Schweden haben die wenigsten gespielt, entsprechend reich ist ihr Anekdoten-Fundus: „Mitte der Neunziger war ich mit Vigilante (Carlstroem, hinten links) bei einem Festival“, erzählt Pelle Almqvist (M.). „Auf dem Weg zur Bühne gab es einen matschigen Hang. Ich rutschte runter, Vigilante, der noch betrunkener war als ich, wollte lieber rennen. Dummerweise fiel er hin und landete mit den Zähnen genau auf dem Hinterkopf eines anderen Besuchers. Dabei hat er seine Schneidezähne verloren.“ Für die Foto-Session in einem Schulbus hinter der sogenannten Alterna-Stage legten die Musiker ihre neue Bühnengarderobe an. Beim Auftritt am Sonntagabend nahmen die feschen Matrosengewänder dann Schaden durch den schließlich doch noch einsetzenden Regen.

Dizzee Rascal

Den Turm hatten wir auf einer Art Umgehungsstraße hinter dem Race Track entdeckt. Ohne zu zögern erklärte Rascal sich bereit, ihn zu erklimmen und zog gar bereitwillig das Hemd aus – dann jedoch kamen die Probleme: Nach fünf Bildern streikte die Kamera. So verstrichen qualvolle Minuten. Der Rapper wurde zunehmend ungehalten, als er von einem unmittelbar neben dem Turm betriebenen Generator mit Abgasen eingenebelt wurde. Am Ende war es genau dieses eine Bild, das funktionierte. Bei seinem Auftritt kurze Zeit später war Rascal dann wieder guter Laune: Abermals entblößte er seinen Oberkörper und schaffte es tatsächlich, das vom Auftritt der Goth-Schmock-Truppe We Are The Fallen übrig gebliebene Publikum für britischen Grime zu begeistern.

Kasabian

haben in den letzten Jahren eine erstaunliche Entwicklung hingelegt: Daheim im UK längst etabliert, wurden die Bühnen auch hierzulande immer größer. Vorläufiger Höhepunkt: Der Kasabian-Auftritt bei Rock am Ring am Freitag. „Diese Konzerte können dein Leben verändern“, erklärt Tom Meighan (l., mit Gitarrist Sergio Pizzorno) auf dem Bus-Parkplatz hinter der Center Stage. Privat schätzt der Sänger indes keine Festivals: „Wir hatten nie Interesse daran, unsere Zeit mit Festival-Besuchen zu verplempern“, blafft er im Idiom der East Midlands. „Lieber wollten wir proben, um später selbst welche spielen zu können.“ Hat geklappt.

Slayer

Kerry Kings Wortschatz sei überschaubar, informierte uns vorher der Manager. Der Slayer-Gitarrist kenne nur drei Antworten: „Yes, no, maybe.“ Beim Fototermin kam noch eine vierte dazu: „Both“: Wir hatten gefragt, ob es ihm lieber sei, mit oder ohne Sonnenbrille fotografiert zu werden. Ein längeres Gespräch wäre eh nicht möglich gewesen, da das Shooting im infernalischen Lärm des Alice-In-Chains-Konzerts unterging. Am Abend musste das TV-Publikum beim Slayer-Auftritt dann leider draußen bleiben: Muse hatten auf der Hauptbühne ein Helium-Ufo zum Himmel geschickt, das das Sendesignal von MTV störte. Wer da war, hörte die gewohnt mächtige Maschinengewehr-Double-Bass von Dave Lombardo sowie das eindrucksvolle Geschrei von Tom Araya, stilecht mit Slayer-T-Shirt. Und die Hühnerbrust Matt Bellamy muss sich ab sofort in Acht nehmen!

Die Sterne

bewiesen eine Engelsgeduld: Nachdem drei Tage lang die Sonne geschienen hatte, wurde der geplante Fototermin mit der Band am Sonntag immer wieder durch heftig einsetzenden Regen verzögert. Frank Spilker (M.) ärgerte sich ein bisschen, dass er Cypress Hill verpasste, aber schließlich funktionierte es doch noch mit dem Foto. Am Abend dann ein ähnliches Bild: Aufgrund von technischen Problemen verzögerte sich der ohnehin spät angesetzte Auftritt der Sterne. Abermals bewies die Band langen Atem und spielte, als es dann schließlich klappte, überwiegend neue Songs. Die Gitarre nahm Spilker erst bei „Was hat dich bloß so ruiniert“ zur Hand.

Lissie

Nach einer Odyssee, die sie von ihrem Geburtsort am Mississippi über L.A. und London führte, nahm Lissie mit dem Produzenten Jacquire King in Nashville ihr Debüt „Catching A Tiger“ auf, das Folk- und Blues-grundierte Pop-Songs enthält. Ein wenig erinnert die Songschreiberin an 90er-Jahre-Künstlerinnern wie Liz Phair, Joan Osborne oder Fiona Apple — kein Wunder, dass sie demnächst bei der reaktivierten Lilith-Fair-Tour spielt. Das RS-Team traf Lissie vor ihrer Garderobe im Backstage-Bereich der Alterna Stage.

Kiss

eröffneten das erstmals viertägige Festival bereits am späten Donnerstagabend. In voller Pracht erschien die Band in einer eigens vorbereiteten Foto-Kulisse, die Gene Simmons (hinten) jedoch wenig behagte: Bei Sonnenschein, so der Bassist, sei man nicht gewillt, sich fotografieren zu lassen. Also warteten wir bis Einbruch der Dunkelheit und fingen die Band auf dem Weg zur Bühne ab. Beim anschließenden Konzert zeigte sich, dass mit zunehmendem Alter der Comic-Aspekt noch mehr in den Vordergrund rückt als ohnehin. Musikalisch sind Kiss ein bisschen müde geworden. Sagen wir so: Wenn die Materialschlacht von Rammstein und Muse die rockmusikalische Entsprechung des Films „Avatar“ war, dann war das hier ein alter „Godzilla“-Film — also super.

Gogol Bordello

erwiesen sich als hervorragende Ergänzung zum üblicherweise Rock-dominierten Line-up des Festivals. Eugene Hütz spielte seine Akustikgitarre, wie andere eine MP abfeuern. Das Publikum feierte den neuerdings mit Latin-Zitaten angereicherten Gypsy-Punk der Truppe derweil euphorisch — ein einziges Hüpfen, soweit das Auge blickte. Als Hütz später den für den Fototermin vorgesehenen Wohnwagen sah, wollte er gleich zurück und eine Gitarre holen. War gar nicht nötig: Der Besitzer des Caravans, ein am Ring beschäftigter Aufbauhelfer, hatte eine dabei. Und so fing Hütz an zu spielen und sich zu begeistern: „Ein Hippie mit Gitarre vorm Caravan, das ist genau das richtige Bild für mich.“

Tocotronic

waren 2010 bereits zum vierten Mal zu Gast bei Rock am Ring. „Ich mag Wiederholungen“, sagt Dirk von Lowtzow (v.). „Beim letzten Mal haben die Hives nach uns gespielt, heute wieder“, ergänzt Arne Zank (2. V. l.). Das erinnert den Schlagzeuger an den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, den die Band sehr mag. Das erste Festival ihrer Karriere spielten Tocotronis 1995 im bayerischen Puch. Ein Ereignis, das die Band in besserer Erinnerung hat als einen Auftritt beim „Supercrash“ 1996 – Tocotronic wurden damals um die Gage geprellt.

Foals

Unmittelbar nachdem der Auslöser an jener Stelle betätigt wurde, wo am Abend zuvor noch die Aftershow-Party in einem zwischenzeitlich abgebauten Zelt stattgefunden hatte, durchnässte ein infernalisches Hagelgewitter Band, Reporter und Fotografen. Auch am Abend hatten die Briten mit widrigen Bedingungen zu kämpfen. Der Auftritt der Band auf der Club Stage litt unter der Abwanderung des Rammstein-Publikums von der Hauptbühne. „I know that it’s the graveyard slot“, kommentierte Yannis Phlippakis (2. v. l.).

Seit Jahren bereits präsentiert der Rolling Stone das Doppelfestival Rock am Ring und Rock im Park. Beinahe ebenso alt ist der Wunsch, eine andere Form für die Nachbetrachtung der größeren Veranstaltung am Nürburgring zu finden, als stets nur eine Auflistung der wichtigsten Konzerte in Form aufgereihter Kurzrezensionen vorzunehmen. Zum einen wird das oberflächliche Abhaken den Künstlern nicht gerecht, deren Ring-Konzerte ja ohnehin jeder im Fernsehen ansehen kann. Zum anderen erscheint uns die- se Vorgehensweise als eine weniger attraktive Form, um der „Faszination Sommerfestival“ wirklich gerecht zu werden.

Beim Gespräch in seiner Ring-Garderobe bezeichnet Slash die großen Sommerfestivals als „letzten Hort des ursprünglichen Rock’n’Roll-Spirit“. Das mag einem angesichts der totalen Kommerzialisierung insbesondere der großen Festivals euphemistisch erscheinen. Eines aber lässt sich nicht von der Hand weisen: Rockfestivals erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Insofern sind sie tatsächlich ein beruhigendes Kontinuum in einer radikal von Veränderungen gebeutelten Branche.

Und auch wenn etwa Kate Nash ihren größten Festivalmoment im Alter von 16 im britischen Reading erlebte, als sie ohne Eintrittskarte, Geld und Gepäck drei Tage im Zelt eines Freundes nächtigte und das eigentliche Festivalgelände nicht einmal zu Gesicht bekam, geht die Faszination dieser Veranstaltungen doch vor allem von den auftretenden Künstlern aus. So entstand die Idee, die aus unserer Sicht interessantesten Protagonisten der 25. Veranstaltung von Rock am Ring in jener besonderen Welt hinter den Bühnen zu porträtieren, die stets nur für wenige Tage errichtet wird und in ihrer einmaligen Wuseligkeit einem Kleinstaat gleicht. Nicht zuletzt bietet die ebenso traditionsreiche wie weiträumige Rennstrecke für ein solches Vorhaben eine hervorragende Kulisse.

Von Anfang an gab es immer wieder Probleme: Ein Großereignis wie Rock am Ring ist eine infrastrukturelle und organisatorische Herausforderung der Extraklasse. Und auch wenn ein Rädchen erstaunlich gut ins nächste griff, wurden doch immer wieder Zeiten verschoben, Auftritte abgesagt, schlug das Wetter um oder Motive funktionieren nicht.

In diesem Mikrokosmos passiert andauernd überall soviel, dass man es kaum aufnehmen kann. Ständig reisen Leute an und ab, Muse kriegen ein goldenes Album verliehen, Beyoncé tanzt in der Garderobe, Richard Kruspe von Rammstein feiert auf der Aftershow-Party, Tom Morello besucht das Zelt des Gitarrenherstellers Gibson. Allein Hans-Jürgen Topf, der Betreiber der Wäscherei (siehe Slash-Foto), hat in den 28 Jahren, die er mit seinen Waschmaschinen bereits Tourneen begleitet, so viel Geschichten angehäuft, dass man nur mit ihnen problemlos diese Seiten füllen könnte.

Die Künstler kennen einander teilweise seit Jahren, da sie sich alle immer wieder auf den gleichen Festivals treffen. Hinter der Bühne kommt es zu interessanten Begegnungen. So etwa am Sonntag, als mit Tocotronic und den Sternen die Hälfte der sogenannten Hamburger Schule den Backstage-Bereich bevölkert. Keiner aber scheint so beliebt und gut vernetzt zu sein wie Dave Grohl. Der einstige Nirvana-Schlagzeuger, aktuell mit Josh Homme, John Paul Jones und der gemeinsamen Band Them Crooked Vultures unterwegs, ist am Sonntagabend überall zugleich und kann keine zwei Meter gehen, ohne irgendwelche Hände zu schütteln. Natürlich gibt es Festivals, zu denen die Musiker besonders gerne reisen. „Veranstalter, Essen, Publikum – die Leute sind hier immer gut zu uns gewesen“, sagt Pelle Almqvist, Sänger der schwedischen Band The Hives.

Nicht alle haben in ihrer Jugend selbst derartige Veranstaltungen besucht. Jan Delay, von dem am Tag unseres Gesprächs ein neues Live-Album erscheint, bestätigt das Klischee vom Rock-Festival als Veranstaltung insbesondere für die Landjugend: „Wir kommen aus der Großstadt, da fährt man nicht auf Festivals, man ist verwöhnt, was Konzerte angeht.“ Auch Arne Zank und Jan Müller von Toco- tronic erlebten ihr erstes Festival als auftretende Band. Das Vorurteil, dass am Ring nur funktioniere, was ballert, mögen sie trotzdem nicht bestätigen: „Wir haben uns einiges angeguckt, da waren tolle Sachen wie Crystal Castles dabei“, sagt Jan Müller.

In diesem Punkt ist Rock am Ring wie das wirkliche Leben: Die interessantesten Dinge findet man meistens in der Nische.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates