Hermeneutik im Herrgotts Winkel . Dylan lässt dich nie kalt – auch nicht in Regensburg

"Der Meister" war wieder mal im Lande. Im Schlepptau die Dylanologen, die glauben, sich Bob Dylan nur noch hermeneutisch, ergo in für Außenstehende nicht zugänglichen Deutungen nähern zu können. Sie reden in Codes wie "bott" und meinen "Blood On The Tracks", und würde man ihnen eine Parkuhr mit Sonnenbrille auf die Bühne schieben, sie würden "Ihn" visionieren.

Ich bekenne, ich hebe Bob Dylan. Der Alte ist unerbittlich wie die Zeit und gnadenlos wie der Ozean. Rasdos rast er über die große Bühne namens Welt und dürfte mittlerweile in jedem Kaff mit mehr als 100 Einwohnern aufgetreten sein. Er selbst nennt dieses Leben zwischen Flugzeug, Tourbus, Bühne und Hotelzimmer „Neverending Tour“. Diese begann 1987 und umfasst seither gut 150 Konzerte jährlich.

US-Wissenschaftler melden Bedenken an: Dylan habe – genau wie der andere, große Reisende aus dem Vatikan – mindestens einen Doppelgänger. Dies könnte zumindest die dramatischen Schwankungen zwischen genialen und katastrophalen, grandiosen und desaströsen Auftritten der beiden ungleichen Klons Wojtyla und Zimmermann erklären.

Im Sommer 1997 kam es ja beim „Eucharistischen Kongress“ in Bologna vor 250 000 jungkatholischen Pilgern zu dieser reichlich skurrilen Begegnung des messianischen Kultnuschler-Duos. Dylan sang dem Pontifex bei dieser Gelegenheit drei Stücke vor: „Hard Rain“, seine eigenwillige Interpretation der Johannes-Apocalypse; ein schwungvolles „Forever Tfoung“, bei dem der Pole leise mitsang und die verzweifelt-unschuldig-vertonte Zentralfrage der Sechziger-Generation „How many roads?“. Der Hirte winkte das Schaf zu sich. Bobby Dee nahm seinen Stetson ab und trat näher. „Es gibt nur einen Weg“, flüsterte der alte Mann, „den Weg von Jesus Christus. Den Weg der Wahrheit und des Lebens.“ Der Barde nickte und machte sich mit 750 000 Mark davon.

Während in den hier zu Lande so überzeugend als kulturbarbarisch abgekanzelten USA kein Jahr vergeht, ohne dass ein Pop-Romancier, ein Rock’n-Roll-Papst oder eine subkulturelle Ostküsten-Edelfeder das ultimative Dylan-Opus verfasst, das in aller Regel bereits am Erscheinungstag überholt ist, macht man sich mit Dylan in Deutschland wenig Freunde.

Um auf einer normalen Dummstehrum-Party mit TWIP’chens, Zielgruppen-Membern, Moneymakern und menschlichem, mobil kommunizierenden Event-Füllmaterial auf schnellstem Weg kaltgestellt zu werden, muss ich nur etwas vom letzten Dylan-Konzert in Aschaffenburg oder Tambach daherfaseln. JDylan? Wo liegt das?“ Der Rest ist Augenkullern, Achselzucken, Arschzeigen. Die Mindeststrafe ist zäsurloser Themenwechsel: Zlatkos Shakesbier. Telekom-Aktien. Joschka rennt Seit Jahren schlage ich z. B. den Redakteuren (früher „Kultur“, heute „Modernes Leben“) all der so rar gewordenen Aufklärungsorgane anlässlich aktueller Dylan-Gigs ein Porträt des einflussreichsten Songwriters des 20. Jahrhunderts vor. Und was bekomme ich zu hören, falls überhaupt jemand mal zum Hörer greift: „Wie bitte? Dylan? Dieser Neger mit der Mundharmonika?, We Shall Overcome‘, oder ,Slowing In The Wind‘, oder? Nee, nee, da stoßen wir unsere Leser lifestyle-mäßig vor den Kopf. Tut uns leid, wenn er wenigstens singen könnte. Aber mit so Kiffern und Kommunisten machen Sie heute keine Aufläge mehr. Die Zeiten ändern sich. Wenn er sterben würde, hätten wir allerdings einen ganz aktuellen Bezug. Wissen Sie zufallig, wann er stirbt?“

Es verblüfft mich immer wieder, wie sich die Töchter und Söhne jener Väter, denen die Volksnazis den Brunnen der Folklore vergüteten, von einem unbeugsamen Einzelnen abwenden, der lediglich gegen alle Trends und alle Entfremdungen des Zeitgeists und des degenerierten Massengeschmacks immer weiter und weiter zurückging zu den Wurzeln des irisch-schottisch-englisch-amerikanischen Volkslieds. Aber Mister Dylan wird die Projektionen der entmusifizierten Neudeutschen verschmerzen, die ihm den Rufeines verstruppelten, krächzenden Wanderklampfen-Pazifisten anhängen. Selbst Walkman Joschka, da bin ich mir sicher, hört derzeit, wenn er in seiner Panzerglaslimousine von Madame Albright tagträumt, eher Madonnas Hiltonlobbywalzer „American Pie“ als seine olle verkratzte „How many roads“-Ballade aus den vergessenen Sponti-taxi-driver-nächten.

Ja, ich bekenne – ich liebe Dylan. Mit 14Jahren hörte ich „Like A Rolling Stone“. Es sollte mein Leben verändern, auch wenn ich erst viel später verstand, worum es sich da inhaltlich ungefähr hätte handeln können. „Lay Lady Lay“ begleitete die ersten Wirren und Gewitter des unwiederbringlich-romantischen Liebesfiebers. „Tonight I’ll Be Staying Here With You“ flößte Zuversicht ein beim Anlauf auf den ersten Fick., Jt’s All Over Now Baby Blue“ versüßte den Frustkater am Morgen nach der grausamen Trennung. Ohne das Tape mit „Tangled Up In Blue“ fahre ich bis heute keinen Kilometer Auto. Leider gibt’s jetzt immer mehr Mietautos mit CD-Anlage.

„Masters Of War“ brachte unsere halbe Schulklasse vors Ulmer Münster, wo wir uns mit viel zu vielen Spätzle-Cops anlegten, um den Vietnamkrieg zu beenden. Die Boxerballade „Hurricane“ dichtete die Platzwunden zu Trophäen des großen Aufstands um.

Dann trampte ich mal ganz alleine, so 17Jahre alt, durch Südeuropa, landete in Palermo, trank Unmengen „Blue Margaritas“ im „Club Genova“, verliebte mich hier in die Tochter eines Nietzsche lesenden Mafiabosses, und überall lief damals die mediterranste Dylan-LP, „Desire“, mit „One More Cup Of Coffee“ und „Oh Sister“. Auf der Fähre nach Calgiari lernte ich Jeff kennen, einen Ami, der sein Studium damit finanzierte, in den Marburger Jazz- und Folk-Kellern die Dylanhits hoch und runter zu spielen und singen. Wir wurden Freunde, landeten am südlichsten Punkt Sardiniens, in Teulada. Ich spielte mit den Jungs Fußball, und Jeff sang vor der Kirche „When I Paint My Masterpiece“.

Bald versammelte sich ganz Teulada um uns. Die eine Hälfte kickte auf zwei Tore, die andere hörte Jeff zu. Es war wie in einem Fellinifilm, wir brauchten keine Lire, und als wir nach einer Woche weiterzogen, waren alle auf den Beinen: Mädchen, Jungs, Omas, Opas, Hausfrauen, Lehrer, die Eisverkäuferin und der Pfarrer, und wir sangen zum Abschied in der glühenden Sonne noch,,Don’t Think Twice“. In Genua trennten sich unsere Wege. Ich sah Jeff nie wieder, aber der Virus „Dylan“ war endgültig von den Ohren in meine Seele gewandert.

Zurück im Schiller-Gymnasium machte mir „All Along The Watchtower“ beim mündlichen Französisch-Abitur Mut, im Stile Rimbauds so genial wie möglich das Thema zu verfehlen. Setzen, sechs!

Dann gewann die Liebe/Hass-Schlachtplatte namens „Blood On The Tracks“eine gewisse Bedeutung. Es war die Zeit der selbstbewußten, neuen Zicken, die von Liberationsblättern wie „Cosmopolitan“ zur globalen Generalmobilmachung gegen sentimentale Softies aufgestachelt wurden. Aus stolzen Machos wurden im Nu domestizierte Loser. Auf „You’re A Big Girl Now“ sang Dylan all das genau, gallenbitter und zynisch, was uns ums Verrecken nicht einfiel im Geschlechterkrieg.

Eigentlich fallt mir keine Befindlichkeit, keine noch so beschissene Gefühlslage ein, zu der sich in seinen Liedern nichts Treffendes fände. Selbst wenn er „nur“ dichtet und nicht deutet, bringt er die vertracktesten Schräglagen mit biblischen Metaphern und brechtianischer Klarheit auf den Punkt Mag Al Jarreau schöner jodeln, McCartney schöner komponieren und Jagger schöner herumturnen mir spricht Dylan aus der Seele. Ich bewundere seinen Mut, sich wenn nötig mit jedem Gott und aller Welt anzulegen, sich vor keinen Karren außer dem eigenen spannen zu lassen, seine suchende Seele kompromisslos zu veröffentlichen, nach allen Seiten hin verwundbar zu sein, sich mit vollem Risiko zu seinen Widersprüchen zu bekennen, seine Unsicherheiten und Wahrhaftigkeitskrisen authentisch auszuleben, jeden faulen Frieden zu stören, vor allem den eigenen. Egal wie mies, konfus, euphorisch, cool oder traumatisiert sich Dylan live, im Interview oder beim Schreiben und Spielen gibt – wenn er die Glocken der Freiheit läutet, dann klingen die auch wie Glocken der Freiheit. Und wenn er wieder einmal isoliert einen finsteren Scheideweg entlang wankt, dann höre ich einen Mann schreien, der an seiner eigenen Freiheit erstickt Ganz nebenbei hat er fast im Alleingang die Rockmusik der Achtziger und Neunziger vor dem Absturz in die Vollverblödung gerettet

Nun also ist Robert Alan Zimmermann wieder im Lande. Auf dem Weg nach Stockholm, wo er am 15. Mai aus den Händen von König Carl Gustav den Musik-Polarpreis entgegennahm, machte er Halt in Zürich, Stuttgart, Köln, Oberhausen und Hannover. Auf dem Rückweg gen Italien trat er dann vom 23. -25. Mai in Berlin, Dresden und Regensburg auf.

Warum tourt der vermögendste und einflussreichste Musiker aller Zeiten immer noch wie ein blinder Passagier eines zeitlos dahinrasenden Güterzugs durch das irdische Jammertal? Wieso glaubt dieses dauergrantelnde Rock-Monument zum Beispiel am 25. Mai Punkt 20 Uhr ausgerechnet in Regensburg die Bühne betreten zu müssen – die Bandansage brüllt wie immer: „Ladies and Gentlemen. Would you pliiiiiis welcome Columbia recording artist Bob Dylan!“ -, um knapp 20 neu zusammengewürfelte Songs aus seinem Katechismus aufzubieten? Langeweile? Jüdischer Kapitalmaximierungstrieb? Angeberei? Groupies? Christianischer Missionierungsauftrag? Oder steckt wieder mal die CIA dahinter? Fragen über Fragen, die Antworten blowing in the wind.

Am Nachmittag des 5. Oktober 1987 muss der richtige Bobby Dee in einer saumäßigen Verfassung und vermutlich verkleidet als Neil Diamond über den verregneten Marktplatz von Locarno geschlichen sein. Es war dies die Zeit der „Temples in Flames“-Tour mit Tom Petty und dessen JHeartbreakers“. Ich sah sie zufallig in jenen Tagen in der Aida-Arena im Herzen Veronas: ein Haufen lustloser, angekotzter, von sich selbst beleidigter Wracks, die wie Gary Glitter-Zombies auf der Bühne herumtorkelten. Die Augen lagen morphinmüde in aufgedunsenen Fleischschwämmen. Dylan nölte seine Psalmen herunter und entwickelte die Lebensfreude einer Vogelscheuche. Im Hintergrund wippten drei hochtoupierte Gospelmuttis um ihr Leben und wirkten wie bestellte Escort-Klageweiber für eine VTP-Hinrichtung. Es war so grausam wie eine Massenkarambolage mit einer Menge Leichen. Du willst nur abhauen, starrst aber fassungslos hin.

Zurück nach Locarno, diesem idealen Ort für ein „no direction home“-Gefiihl. Dylan, so erzählte er das Jahre später einem Interviewer, soll also in tiefster Verzweiflung eine Stimme gehört haben, die sagte: „Du musst jeden Abend singen. Du musst jeden Abend deine Lieder singen. Ob Gott dich erlöst oder nicht.“

Für göttliche Weisungen war Dylan ohnehin bereit, seit ihm Jesus 1978 in einem Hotelzimmer in Tucson/Arizoa erschien, was bekanntlich dazu führte, dass Dylan drei Alben lang seine treuesten Jünger auf die Palmen brachte. Ob nun Gott oder Jesus für diese „Neverending Tour“ verantwortlich sind, sei dahingestellt Tatsache aber ist, dass Dylan seit 15 Jahren in übermenschlichen Sphären agiert. „Mein Reich“, so sagt er ja auch selbst, „ist nicht von dieser Welt“

Vielleicht existiert er auch wirklich nicht richtig und ist tatsächlich nur eine feinstoffliche, geklonte Legende, ein zeitloser Mythos, eine dank spiritistischem Massenwunsch herbeiprojizierte Märchenfigur, die sich schon mal hinter der Maske von Apoll, Jesus von Nazareth, König Lear, Walt Whitman, dem Rattenfänger von Hameln, Rimbaud oder Till Eulenspiegel verbarg, ein tambourinespielender Wanderer zwischen Jenseits und Eden, ein Columbia recording ghost auf seiner neverending Seelenwanderung. Vielleicht ist es aber auch ganz anders.

Irgendwann begann ich damit, mir trotz chronischer Phobien gegen Massenaufläufe Dylan live anzuschauen. Es begann am 1. Juli ’78 mit dem Nürnberger NSDAP-Zeppellinfeld, wo er, wenn ich mich recht entsinne, dem politisch so korrekten Nachkriegspublikum die ganze Zeit über den kalten Rücken zuwendete. Da aber die zahlreichen GI’s im Publikum Lambrusco-Wein mit aufgelösten LSD-Trips kreisen ließen, waren die meisten Zuschauer bald sehr mit sich selbst beschäftigt und meinten beim Nachhausegehen, den besten Howard Carpendale aller Zeiten miterlebt zu haben. In den kommenden Jahren sah ich ihn in Italien und Frankreich, manchmal blau und down wie der letzte Penner, manchmal strahlend und ergreifend wie ein neugeborener König. Manchmal massakrierte er seine Hits, manchmal formte er aus ihnen wahre Meisterwerke. Doch egal, was immer auch passierte -Dylan lässt dich nie kalt Und am besten ist er, wenn er den drohenden Absturz nahen spürt und dagegen ankämpft. Dieses Drama entscheidet sich bereits während der ersten drei Songs. Bei den Ouvertüren beispielsweise von Aschaffenburg ’95 und der von Mannheim ’97 musste ich zuerst wegschauen, dann weghören und dann kurz die Halle verlassen. Nichts ging, nichts stimmte, auf der Bühne regierte antarktische Indifferenz, und die fünf Typen schauten aneinander vorbei, als ob sie sich gerade gegenseitig wegen Falschspiels zu lebenslänglich in St. Quentin verurteilt hätten. Wenn aber jemand etwas von der Dramaturgie einer Rock’n-Roll-Performance versteht, dann Dylan mit seinen gut 10 000 Gigs auf dem Kerbholz. Stets bildet Song Nr. 3 die Wirbelsäule des Konzerts, es ist der Knackpunkt, der „point of no return“ – entweder es geht jetzt alles niagarafallmäßig den Bach runter, oder er kriegt die Kurve, und damit kriegen wir sie alle zusammen. Denn Superstar hin, Zeremonienmeister her – ohne

die Transformation, diese Magie der Energieverwandlung zwischen uns und ihm ist auch er nichts als eine zweibeinige Musikbox. In Aschaffenburg drehte er den Spieß so richtig um, hämmerte plötzlich Mut und Hoffnung ins Leben zurück und sang sein „Spanish Boots“ mit einer Zärtlichkeit und Sehnsucht und unkitschigen Wahrhaftigkeit, dass er selbst Jackie Onassis zum Leben hätte erwecken können.

Und da war die Zeit, als Judas“ mit seinen drei religiösen Offenbarungswerken 1980 auf Kreuzzug ging. Dylan füllte als Folge der „Rolling Thunder“-Tbur zwar noch die 12 OOOer-Arenen, doch das war es auch schon. Vielleicht lag es am Erweckungs- & Erleuchtungs- & Wiedergeburts-Thema, dass der Schatten einer fundamentalistischen Humorlosigkeit über diesen Kirchenlied-Abenden lag.“A Train Coming“, „Saved“ und „Shot OfLove“hörten sich an wie PR-Präsente des christlichen Pfadfinderbundes, und Bobby Dee nölte uns mit seinen afroamerikanischen Gospeltanten die Ohren voll: „Gotta Serve Somebody“. Ratlos betrachtete ich mir sein frei gewähltes Golgatha. Von überall her kam Buhen und Pfeifen, und ich blieb bis zum letzten Lied „I Believe In You“ – und als ich hinter mich blickte, waren da 11999 unbesetzte Polsterstühle.

Wäre Dylan Springsteen, dann wäre es das gewesen. Danke für die schöne Zeit. Bleiben Sie gesund und einen guten Appetit, Reverend Zimmermann.

Viel später, so zwischen Golf- und Kosovokrieg, begann ich nachzuvollziehen, wie weit er sich damals aus dem Fenster lehnte, wieviel Menschlichkeit er versuchte zu etablieren und wieviel Hohn und Spott er auf sich nahm, um einsam zu rufen in der vollklimatisierten Gleichgültigkeitswüste zu Beginn der trostlosen Achtziger. Die Woge der Ablehnung und des Hasses erklärt sich sicher auch dadurch, dass er alle überraschte und keinem damals den Gefallen tat zusammenzubrechen, aufzuhören oder abzudriften wie fast alle ehemaligen Freunde.

Was habe ich alles in Kauf genommen, um Dylan z. B. in Athen, Cardiff oder Tambach zu sehen, widerliche Hotels, indiskutable Hallen, überschwemmte Toiletten und – als ob man das Kreuz nicht schon lange genug getragen hätte – die Fans wie ich.

Die graubärtigen Woodstock-Sandalen mit dieser professoralen „Ich weiß alles über Bobby Dee“-Ernsthaftigkeit. Und dann die Abteilung, die einer der führenden Dylanologen Deutschlands, Günter Amendt, einmal ganz gut so charakterisierte: „Für diese Zeitgenossen hat man jedes noch so poppeüge Bootleg und jeden noch so lustlos runtergehuddelten, uninspirierten Song genial zu finden – sonst gibt es Saures.“ – Denen könnte man um 20 Uhr eine Parkuhr mit Sonnenbrille auf die Bühne schieben. Aber man wird ja nachsichtig mit den Jahren.

Manche Dylan-Konzerte beginnen im ICC-Speisewagen des „Mozart-Express“ von München nach Wien. Ich saß also da mit einem doppelten Braunen und einer unverdaulichen Portion Greil Marcus, dessen eitler Klugschiss „Die unsichtbare Republik“ über Dylan und die „Basement Tapes“ gerade auf deutsch erschienen war. Mir schräg gegenüber schaute ein knapp 50-jähriger Mann, Typ DAS A-Manager, mit deutsch-romantischem Träumerblick auf das vorbeifliegende Donautal. Irgendwann mal summte er die Melodie von „Senor“ vor sich hin, und so kamen wir ins Gespräch. Manfred sitzt normalerweise in den oberen Etagen von Bertelsmann und hatte sich an diesem Tag für das Wiener Dylan-Konzert freigenommen. Und er erzählte von seiner ersten Liebe, der Marxistischen Basisgruppe in Porz, Schulverweis, Abi nachgeholt, Studium in Berlin, Dylan in der Waldbühne, Lorenz-Entführung, Deutscher Herbst, Dylans Winter. Dann machte Manfred Karriere, und Dylan wurde Christ. Mit 40 befiel Manfred die Sinnkrise. Kurz vor Wien meinte er: „Ich bin einfach dankbar, dass es in dieser Zeit wenigstens noch einen Menschen gibt, der uns ohne falsche Worte, ohne Zureden, ohne Überreden daran erinnert, dass es inmitten dieses Irrsinns noch so etwas wie Vi/erte gibt, dass es so etwas wie einen Sinn gibt, dass es so etwas wie Moral gibt und einen Halt. Wir befinden uns im Endspiel. Wir gehen zugrunde an unserem dummen Anspruch auf Selbstverwirklichung und der permanenten Erfüllung unserer Wünsche. Wir sind jämmerliche Junkies. Ich freue mich seit Monaten auf diesen Abend. Selbst wenn er in der Hölle spielen würde, ich wäre da.“

Danach widmete ich mich wieder dem mäandernden Experimentalgeschreibe des Dylanologen und Rockgelehrten Greil Marcus. Marcus wie Marcuse.

Vorsicht. Tiefgang. Kennen Sie das? Sie lesen 302 superschlaue, zügellos-assoziative Seiten und verstehen nichts, nada, niente. Außer dass Dylan Gitarre spielt und viele seiner Lieder in dunklen Mythen geboren wurden. So etwas nennt man in Schwabing ultradialektische Schwerarbeit. Kostprobe? „…im dichten Unterholz dieses Songs können die Zeilen und Wörter, die man zu identifizieren vermag, nicht jenen Schleier lüften, der die Wörter umgibt, deren Sinn einem verschlossen bleibt. Und das ist noch nicht alles: Die Zeilen, die man versteht, kommen nicht an den betörenden Zauber jener Wörter heran, die man nicht versteht So als wäre er das Leben selber, nimmt der Song die äußere Gestalt der Sprache an, um dann woanders hinzugehen!“

Es gibt ja, wie eingangs bemerkt, sehr viele Leute, die Dylan zum Kotzen finden. Die andern – und dazu zähle ich mich – lassen sich um so intensiver auf diesen sonderbaren Amerikaner ein und enden als Dylanologen. Irgendwie ist er auch so etwas wie Arbeitgeber für eine intellektuelle Armee aus Jung- und Altdylanologen in aller Welt Obwohl er selbst ja nun alles tut, um Spuren zu verwischen und seine hartnäckigsten Interpreten ins Bockshorn zu jagen, haften die sich an ihn wie Egel ans Blut. Da werden Tausende von Bootlegs aufgenommen, verdealt, gesammelt, getauscht, neu gemixt, rund um die Welt geschickt, beschrieben, krititisert, gefälscht. Im Internet existieren für seine Aem/-aw-Gefolgschaft diverse Dylan-homepages, etwa unter www.punkhartcom .

Eine Menge eigenartiger Dylanologen versammelten sich Stunden vor einem Konzert im September 1997 in der Lobby des Hilton-Hotels in London-Wembley. Die kamen aus ganz Europa, und ihre Mienen waren so zufrieden-feierlich wie die von Gipfelkonferenz-Ministern nach einem Bordellbesuch. Auch kannten die sich alle untereinander: Knut aus Stavanger, der den Mann-Frau-Dialogcharakter bei „Spanish Boots“ hervorhob; Dr. Haberland aus Ballmertshofen, der Vorträge hält über den Mythos des Highways in den frühen Dylan-Balladen; Anne aus Kopenhagen, der 1982 eine Wahrsagerin prophezeite, dass sie mit „ihrem“ Bob vier Kinder zeugen werde und die seither menstruationsbedingt jedes nur erdenkliche Konzert besucht; Serge aus Antibes, der schwört, dass ihm Dylan, sobald er ihn im Publikum erkennt, jedesmal „Rainy Day Woman“ widmet Ich kam mir vor wie in der offenen Psychiatrie inmitten dieser Schnittlinien des Dylan-Gemetzels. Und dann schwirrten immer so codierte Begriffe wie „toom“ oder „bott“ in der Luft herum. Zuerst nickte ich da wie ein richtiger Erwachsener voller Verständnis, doch dann wurde es mir zu blöde und ich erkundigte mich, von was denn überhaupt die Rede sei. Knut aus Stavanger schaute mich daraufhin an, als ob ich ihm gerade gesagt hätte, dass ich seit Jahren mit seiner Frau herumvögle. „Toom, Mann, das weiß doch jeder, seine letzte, die insgesamt 41. Platte,, Time Out ÖfMind‘.“ Und was dieses „bott“ dann bedeute, wollte ich tumber Toom-Dorftrottel wissen. Daraufhin schüttelte der Hobby-Lachsfischer erst recht ganz vorwurfsvoll sein Köpfchen. „Sie sind noch nicht lange bei uns? Die Trennung von Sara.“ Dann trällerte er wie ein Tölzer Chorknabe „Buckets of rain, buckets of tears…“. Ich steckte mir eine Filterlose an. „Bott steht für ,Blood On The Tracks‘, 1974.“ 74, dachte ich, da warst du nicht mal in der Planung. JDon’t follow leaders“ sang sein Idol früher. Offenbar stieß es auf taube Ohren – des Troubadours tragischstes Schicksal. Ich tue mich ehrlich gesagt etwas schwer mit dem paradoxen Phänomen dieser spießigen Dylan-Beamten. Doch selbst wenn sie noch so lächerlich erscheinen, beweist dies eigentlich nur, dass es stimmt wenn Dylan über sich sagt: „Ich bin so weit gegangen, wie ich konnte. Niemand, den ich gesehen habe, ist auch nur einen Schritt weiter gegangen.“

Ich freue mich jedenfalls ganz undyknologisch auf diese Kreissägenstimme aus Minnesota, die am 24. Mai, dem Tag ihres Dresdener Konzerts, 59 wurde. Happy birthday, Mister Dylan.

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