Humor, Haltung, Stilwillen

Mit PRAG aus Berlin beginnen endlich auch in der deutschen Popmusik die Zehnerjahre. Ein Traumteam, das Liebe zum Detail zur Maxime macht

Am frühen Abend sitzen Tom Krimi, Erik Lautenschläger und Nora Tschirner an der Bar. Draußen auf dieser Straße im Wedding verdichtet sich der kalte Nebel zu einer 1-A-Edgar-Wallace-Atmosphäre. Drinnen im Warmen geht das Gepose für die Fotografin nahtlos in eine durchgedrehte Blödelei über. „Hände!“, „Hände!“, „Hände!“, ruft Nora und macht mit den Handflächen flinke Dancefloor-Bewegungen.

Ihre Kollegen, etwas abgespannt vom heutigen Interview-Marathon lassen sich von Tschirners Energie mitreißen. Also gut: „Hände!“, „Hände!“ Verglichen mit den üblichen, meist reichlich steifen Promotion-Situationen ist das hier in jedem Falle reif für eine Nischenfernsehen-Sendung des ZDF, die 2013 mit einem Grimme-Preis prämiert wird.

Selbst Noras Hund, der die ausgedehnte Fragerei gelegentlich knurrend in einem Hundekorb erduldet hat, wird mal eben in die spontane Knips-Session eingespannt. Das alles hier verdichtet sich zu einem frühen Fazit: Das Trio Prag, das sich im Laufe des Jahres 2011 zusammengefunden hat, kommt überaus gut vom Start weg.

Lassen wir an dieser Stelle die berechtigte Begeisterung über Nora Tschirner als Schauspielerin, moderne Frauenfigur und Ulknudel unserer Zeit mal außen vor. Konzentrieren wir uns auf die Musik der drei (Ost-)Berliner: Nach einigen warmherzig umjubelten Warm-up-Konzerten in den vier Millionenstädten des Landes, die von einem massiven Gerummel in den sozialen Netzwerken flankiert worden sind, steht Ende Januar 2013 die Veröffentlichung ihres Debütalbums „Premiere“ bevor.

Was Hörer darauf erwartet, deutet sich aussagekräftig auf der Vorab-Single „Sophie Marceau“ an, die seit November in Handel und Internet steht: Melancholisch schöne Melodien in fast barocker Instrumentierung. Echte (!) Streicher sind ebenso wichtig wie Gitarren. Schwitzige Rockmusik oder auch erdiges (Blues-)Gebolze sucht man hier vergebens.

„Die Soundentwürfe für diese Platte waren schon weit gediehen, als Nora dazukam“, erzählt Sänger Erik Lautenschläger, der bereits innerhalb seines Zwischenprojekts Erik and Me an Form und Inhalt einer deutschsprachigen Chanson-Variante gearbeitet hatte. Eigentlich ging es nur um eine zeitweilige Kooperation für zwei kleinere Duette. Doch dann hat es – wie sagt man so schön – zwischen Erik, Tom und Nora gefunkt.

„Wie Nora so klingt, daran denke ich mittlerweile schon beim Schreiben von neuen Songs. Und bei der Entwicklung von Streicherlinien denken wir jetzt an echte Orchester; und nicht wie anfangs noch an Füllstimmen-Geigen. Die Technologie hat da heute Erstaunliches anzubieten, aber am Ende klingt es dann doch nicht so gut vom Chemo-Geiger.“

In seinem Knickerbocker-Look wie aus den Tim-und-Struppi-Geschichten wirkt Lautenschläger wie ein Style-Schnösel, der auf Vierzigerjahre macht. Doch in Kombination mit seinem schnoddrigen Berliner „Icke“-Idiom bekommt seine offensichtliche Dandy-Verehrung die nötige Bordsteinhaftung. Müsste man eine Figur für eine Neuverfilmung einer Schnurre von Heinrich Zille besetzen, sollte der Caster mal bei Lautenschläger anklopfen.

Den smart-seriösen Gegenpart in dieser Besetzung übernimmt Multiinstrumentalist Tom Krimi, der wiederum an einen Inspektor von Scottland Yard aus den frühen Sixties erinnert. Und Nora Tschirner ist die Nora, die sich einst am Konservatorium „wegen zu wenig Üben“ eine „Musikschul-Blockade“ zugelegt hat und über den Umweg MTV-Moderatorin und Kinostar zurück zum Pop gekommen ist.

Darin erinnert sie etwas an ihr US-Pendant Zooey Deschanel. Beide Anfangdreißigerinnen kommen von der Leinwand, sind im Kino erfolgreich und machen Musik, weil sie cool genug dafür sind. Aus vollster Überzeugung. Hübsche, quirlige Typen mit görenhaftem Charme und einem Humor, der sowohl das Pippi-Kacke-Jungsterrain bespielt, als auch feuilletontauglich ist. Offbeat-mäßige Nerdfrauen mit Pfadfindersexappeal.

Und weil das, im Gegensatz zu allen Tussis, Diven und Dummbeuteln, von denen sich so viele im Schauspieler- und Musikermilieu tummeln, erfrischend unkompliziert ist, können theoretisch auch Musikfan-Männer zum Teamsystem von Prag stehen. Wären da nicht die deutschen Texte in süßlicher Koloratur, die fast dandyhaft vorgetragen werden und die so gar nichts von der sonst üblichen deutschen Post-Pop-Kompliziertheit der versammelten Kollegenschaft von Die Türen bis zur Austria-Krawallstudentenband Ja, Panik haben.

Zusammen mit dem sepiafarbenen Making-of-Video beim Prager Rundfunkorchester wird deutlich, dass Prag für eine aufwendig choreografierte, deutsche Popmusik stehen, die es in dieser überbordenden Perfektion so noch nicht gab. Bislang hat man sich nur in Großbritannien oder Frankreich mit ähnlichem Stilwillen und einer ähnlichen Liebe zum Detail mit der Herstellung von perfekten Popsongs beschäftigt.

Selbst das Designkonzept, das in einem Interviewbüchlein auf gelblichem, holzhaltigen Papier (Ostblock!) gipfelt, kommt aus Eigenproduktion. Sänger Lautenschläger ist in seinem anderen Leben Grafiker. Moderne Patchwork-Biografien also, die sich wie bei der britischen Band Underworld (die gleichzeitig eine erfolgreiche Gestaltungs-Agentur betreibt) zu einer neuen Qualität verdichten. Sehr jetztzeitig modern, das Ganze.

Ausgefeilte oder gar artifizielle Unterhaltungsmusik hat es hierzulande noch nie einfach gehabt, sieht man mal ab von Annette Humpes millionenschwerem Produktionsgeschick für Die Prinzen, Ich & Ich und zuletzt Max Raabe. Auch der gefühlige Powerpop von Rosenstolz brauchte einige Jahre, um aus der Schwulenszene zum Vorstadtpärchen und den Kleinfamilien in Jack-Wolfskin-Funktionsjacken und somit in Platinplatten-Dimensionen vorzudringen. Die vergleichbar stilbewusste Hamburger Band Die Antwort, Bernd Begemanns V-Ausschnitt-Pullover-Combo aus den mittleren 1980ern, kann von der Vergeblichkeit des Ringens um Erfolg genauso ein Lied singen wie die auf Detlef Diederichsen und Timo Blunck geschrumpfte Hanseaten-Legende Die Zimmermänner, deren Comeback-Tour im Jahre 2007 kaum 50 Fans in eine Kölner Konzerthalle lockte.

Ein gutes Jahrfünft später stehen die Zeichen gar nicht mal schlecht, dass sich neben den hierzulande bestens eingeführten Spielarten von Emo-Rock bis Minimal-Elektronik auch avancierte Pop-Konzepte etablieren können. Ganz egal, ob diese in letzter Konsequenz mainstream-tauglich sind oder nicht. Bei Prag geht es um urbane Sound- und Songstrukturen jenseits der provinziellen Gefühligkeit von Silbermond, Glasperlenspiel und Konsorten. Jenseits auch der biederen Aura einer Judith Holofernes, die vom Freiburger Hippiemädchen nach einem kommerziellen Zwischenhoch zur kritischen Kreuzberger Kreativmutter mutiert ist.

Es geht vielmehr um eine Klang-Noblesse, wie sie Filmkomponisten wie John Barry oder im Westen weitgehend unbekannte Kinderfilmmusiker des Ostblocks erzeugen konnten. „Wir entwickeln unseren gesamten Kosmos von der Musik über die Grafik bis hin zur Bühnenpräsentation komplett selbst. Wobei natürlich allen klar ist, dass das jetzt eine Art Investitionsphase ist und wir auch auf Kumpels angewiesen sind, die wir schon lange kennen. Halt Freunde und Bekannte, die in ihrem Metier durchaus Top-Leute sind, die für uns zu Freundschaftspreisen abmischen oder sonstige Jobs übernehmen, bei denen wir Hilfe gebrauchen können“, sagt Nora Tschirner. „Selbst die Labelarbeit mit allen Konsequenzen und unternehmerischer Verantwortung haben wir nach Prüfung verschiedener Angebote übernommen. Vollkommen independent alles. Band und Label sind jedoch keineswegs auf eine ästhetische Linie festgelegt oder für die nächsten zig Jahre auf einen bestimmten Stil beschränkt. Prag soll eben nicht auf ewig mit Aquarell-Porträts im Artwork oder Matrosenbluse beim Livekonzert verknüpft sein. Es ist unsere verdammte Aufgabe als Label oder Produktionsteam, das Ganze am Kochen zu halten!“

Und die Kollegen Krimi und Lautenschläger assistieren wie in einem fein justierten Theaterstück. „Prag hat im Frühjahr als reines Liebhaberprojekt angefangen. Unser Ding, bei dem niemand reingeredet hat. Und mit Nora hat diese musikalisch-atmosphärische Idee direkt nach dem ersten Treffen ein Tempo aufgenommen, das uns selbst erstaunt hat.“

Nora Tschirner, die Schauspielerin, versichert mit Nachdruck, dass sie trotz Weimar-„Tatort“ (die Dreharbeiten beginnen im April 2013) und sonstigen Filmjobs gewillt ist, mit der Band Prag die nächsten Berufsjahre zu bestreiten. Ihre beiden Mitstreiter sind Künstlertypen genug, sich von der „Gala“- und „GQ“-Berühmtheit der werten Kollegin nicht kirre machen zu lassen. Bemerkenswert auch, wie viel Mühe sich die drei bei der Live-Umsetzung ihrer komplexen Popsongs geben. Beim umjubelten Testgig im Berliner Babylon-Kino stand ein kleines Orchester auf den Brettern.

Auf die Frage, ob das heutzutage nicht alles viel zu teuer und gegen jeden Trend zur Computer-Konserve ist, giggeln die Prager kollektiv los: „Ja, natürlich!!“, rufen Erik, Nora und Tom im Chor. „Doch wir sind erwachsen und unsere Eltern dürfen uns nichts mehr verbieten. Darum machen wir das einfach. Mit unserem Sound können wir gar nicht anders, als dieses wirtschaftliche und künstlerische Risiko einzugehen.“

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