Rainald Goetz: „Ich scheiß Euch zu mit meinem Text“

Büchner-Preis für Rainald Goetz ist auch ein Plädoyer für alle manischen Zeitungsleser. Denn wenn es unter Feuilleton-Liebhabern ein Role Model geben kann, dann ihn. Eine Verbeugung. Von Marc Reichwein

Bevor ich Goetz und sein Werk als das eines manischen Zeitungslesers kennenlernte, musste ich im Studium erst Paco kennenlernen, meinen persönlichen Goetz-Botschafter.

So wie im Leben eines Lesers die Anregungen bestimmter Freunde nie die schlechtesten sind, wenn sie nur oft und emphatisch genug vorgetragen werden, so musste ich mir auch „Dekonspiratione“ oder „Abfall für alle“ von Paco erzählen lassen. Ich musste sie diverse Male auf seinen Autorücksitzen ausliegen sehen, bevor ich wirklich zugriff – und von Goetz nie mehr loskam.

Sex, Gnade, Rave

Eigentlich hätte mein Kumpel Paco, bekannt als Frank Fischer und Herausgeber der online beheimateten Feuilletonfankurve www.umblaetterer.de, auch diesen Text hier schreiben müssen, aber er ist im Hauptberuf Wissenschaftler und steckt, wie ich am Tag der Büchner-Freude erfuhr, „gerade knietief in EU-Anträgen“ – was mir übrigens ein sofortiges Goetz-Déjà-vu ungeahnter Güte bescherte:

Gab es in „Abfall für alle“ nicht auch diese Stelle, wo Goetz vor der Aufgabe steht, zwanzig Seiten Antragsprosa für irgendein Stipendium zu verfassen und sich dabei Mut zuspricht: „Kein Problem, aus Abfall, aus Praxis, aus Sex und Gnade, aus Rave. Ich scheiß dich zu mit meinen Seiten Text.“ Genau. Ich scheiß euch zu mit eurem Feuilleton.

Perlentaucher in manisch

Und wie gern wir, die wir das Feuilleton als Ort des täglichen Wahnsinns gerade eben erst entdeckt hatten, uns zuscheißen ließen. Ob in „Abfall für alle“ oder später in „Klage“: Goetz war für uns einige Jahre lang ein regelrechter Feuilletondiskursmitschnittdienst. Eine Art Perlentaucher in manisch. Wann immer Goetz sich zu irgendeinem Thema oder irgendeiner Person geäußert hatte, schien es auch uns relevant.

Unser Role Model im „feuilletonverarbeitenden Gewerbe“, wie mein Goetz-Mentor Paco Goetz einmal vortrefflich genannt hat. Wir brauchten eine Weile, bis wir realisierten, dass es uns als „Umblätterer“ selbst in dieses brotlose Business der Feuilletonbeobachtung und Beobachtung der Feuilletonbeobachtung zog.

Ich weiß gar nicht mehr, wann ich Goetz dann das erste Mal selber live erlebt habe, aber ich glaube, es war bei seinem ziemlich legendären Fernsehauftritt in der Sendung „Nachtstudio“ im ZDF im Jahr 2001. Da saß er zusammen mit Moritz von Uslar, Alexa Hennig von Lange und eben Volker Panzer in diesem Talkshow-Format und hatte um seinen Studiosessel herum eine regelrechte Insel aus Büchern, Zeitungen und so weiter ausgebreitet.

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Die Cloud, die Links, die Likes, die man heutzutage im Smartphone-Gepäck hat, brachte er, Rainald „Papierraschel“ Goetz, einfach als analoge Auslegware mit. So wie er dann auch 2010 bei seinem Auftritt in der „Harald Schmidt Show“ mit einer Feuilletonseite der „FAZ“ wedelte.

Wenn man der These im „Umblätterer“ glauben möchte, lief Goetz‘ ganze Feuilletonmanie teleologisch auf diesen einen Moment hinaus. Zehn Minuten Talk bei Harald Schmidt, den er selbst so oft gefeatured hatte. Tatsächlich kann man große Teile des Goetz’schen Werks nur als Feuilleton-Groupie begreifen.

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Ob „Abfall für Alle“, „Klage“ oder „Loslabern“ – einige seiner Bücher scheinen durch nichts anderes als Feuilletonverdauung gespeist zu sein. In der Begründung der Darmstädter Jury, die von Goetz‘ „nervöser, gespannter Erfahrungsbereitschaft“ und seinen „Eintragungen zur Medien- und Konsumwelt“ spricht, kommt dieses Lebensgefühl nur sehr hölzern rüber.

Feuilleton als Feriensport

Man muss schon in die Archive (zum Beispiel die der Enzensberger-Zeitschrift „TransAtlantik“) gehen, um nachzuvollziehen, wie Goetz bereits 1981 – damals noch als angehender Arzt im Psychiatriepraktikum – nichts Besseres zu tun hatte, als seine Semesterferien für eine „Reise durch das deutschsprachige Feuilleton“ zu verwenden.

Er besuchte Wolfram Schütte, Marcel Reich-Ranicki, Fritz J. Raddatz und weitere hohe Herren des Betriebs, um die Lebensform für zu sich finden, die er selbst als „wahrhaften Feuilletonismus“ bezeichnete.

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Dass Goetz das 2011 als Kommentator im „Umblätterer“ tat, dass er uns also schuldfrei mitlas, wie auch wir vergeben unseren Feuilletonschuldigern, das war schon mehr, als es jedem Blog zur Feuilleton- und ergo auch Rainald-Goetz-Beobachtung zur Gnade gereichen konnte.

Lustig, wie Goetz damals schrieb: „Darauf, dass es wirklich ernst genommen wird, ist das Feuilleton zuallerletzt vorbereitet. Dieser programmatische Inadäquatismus des radikalen Feuilletonismus ist verrückt, diese Verrücktheit ist aber SCHÖN.“ Irre, wie sehr er hier sozusagen recht hat.

Dieser Text von unseren Kollegen der WELT erscheint mit deren freundlicher Genehmigung auf rollingstone.de.

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