Madonna: „In den besten Jahren“ – Das ROLLING STONE-Interview

Seit 30 Jahren provoziert Madonna. Mit Sex, Style, Symbolen – und nun mit ihrem Alter. Ein Hausbesuch von Brian Hiatt.

Sie ist im Anmarsch“, ruft ein sichtlich gestresster Choreograf über die PA. „Alle Mann Hörner und Masken aufsetzen!“ 22 muskulöse Tänzer bereiten sich auf den Ernstfall vor. Mit freiem Oberkörper stehen sie auf der Probenbühne von Sony Pictures in Los Angeles, streifen sich die juwelenbesetzten Gesichtsmasken über, setzen die schwarzen Stierhörner auf und harren der Dinge.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Studios hat Madonna die Garderobe verlassen und stolziert im Torero-Kostüm zur Bühne, um ihre Truppe zu inspizieren. Begleitet von Hair- und Make-up-Stylisten schaut sie sich jeden einzelnen Tänzer mindestens 30 Sekunden lang an und korrigiert kleine Unebenheiten.

„Ich möchte kein Öl auf den Oberkörpern, Ich hatte das gleiche Problem schon im Video. Benutzt besser Feuchtigkeitscreme.“

Dem 28-köpfigen Chor, der sich vor der in der Nähe befindlichen Tribüne aufgebaut hat, schenkt sie sogar noch größere Aufmerksamkeit. Sie bittet diejenigen, die eine Brille tragen, diese abzusetzen, schlägt Frisuren vor, manchmal auch radikale Schnitte („Das Gute an Haaren ist ja, dass sie nachwachsen“), moniert Bärte und Koteletten und legt bei einer Sängerin auch mal selbst Hand an, um deren ungezügelte Locken zu einem Zopf zu flechten.

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Auf den roten Gewändern des Chors ist das „Rebel Heart“-Logo ihres gleichnamigen Albums zu erkennen – allerdings so winzig, dass nicht einmal superscharfe HD-Kameras es in die Wohnzimmer tragen werden. Der Aufwand gilt den fünf Minuten, in denen sie die Premiere ihrer neuen Single, „Living For Love“, bei den Grammys feiern wird. Als sie am Ende des Songs zu der Zeile „Love’s gonna lift me up“ kommt, entschwindet sie tatsächlich – waagerecht schwebend – an einem Tragegurt in die Höhe. Keine Frage, es ist ein krönender Abschluss, dessen dramatische Grandeur sie bei der heutigen Probe allerdings mit einer trivialen Frage konterkariert: „Sitzt das Kostüm – oder rutschen meine Titten raus?“

Am Ende wird das Kostüm tatsächlich ein unerwartetes Problem sein – und für Madonnas live übertragenen Brit-Awards-Stolperer sorgen.

Zwischen den Probedurchläufen kommen zwei kleine Kinder auf die Bühne, beide neun Jahre alt. David, der Junge, trägt einen hellen Leinenanzug, Mercy, das Mädchen, Pullover und Rock, dazu eine glänzende Schleife im Haar. „Hi, Mom“, sagen sie unisono. Madonna lächelt und streckt ihren jüngsten Kindern eine Hand entgegen, die diese brav küssen.

Als sich die Unterbrechung hinzieht, wird „Mom“ allerdings ungeduldig. „Machen wir etwa schon wieder Pause?“, fragt sie ins Mikro. „Ich hab noch Sachen zu erledigen!“

Vier Tage später ist sie zurück in ihrem Haus in New Yorks Upper East Side. Allein im Wohnbereich des ersten Stockwerks gibt es beeindruckende Kunstwerke im Übermaß: Über dem Kamin etwa hängt ein Léger, während Frida Kahlos „Mi Nacimiento“ lässig auf einem Bücherstapel steht. Familienfotos, auch aus Madonnas Kindheit, bevölkern eine gläserne Vitrine, Noten von Mercys Klavierstunden liegen auf dem Piano in der Ecke. Auf den Regalen sieht man einen Querschnitt durch ihre eklektische Lektüre, von Kunstbüchern über Hubert Selbys „Last Exit To Brooklyn“ bis hin zu einer Biografie des 1999 verstorbenen John F. Kennedy jr., angeblich einer ihrer früheren Liebhaber.

Mehr Bücher, säuberlich gestapelt, gibt’s auf dem cremefarbenen Kaffeetisch, der farblich aufs Sofa abgestimmt ist: „Gay New York“, Luc Santes „Low Life“, Curtis Sittenfelds Roman „Sisterland“. Daneben ein Stapel schwarzer Ringhefter, in dem sich die Unterlagen für einen Film befinden, den sie gern als Regisseurin realisieren möchte. Er basiert auf „The Impossible Lives of Greta Wells“, dem erfolgreichen Roman von Andrew Sean Greer aus dem Jahr 2013.

Ebenfalls auf dem Kaffeetisch befinden sich meine beiden digitalen Aufnahmegeräte. Madonna bückt sich und schiebt sie so zusammen, dass sie in Reih und Glied liegen. „Ich hab nun mal einen Ordnungsfimmel“, sagt sie gut gelaunt. Sie fragt mich nach meinem Sternzeichen. Die Antwort – „Stier“ – scheint akzeptabel zu sein. „Willensstarke Menschen“, sagt sie. „Mögen keine Veränderung. Aber sehr loyal.“

Ich lache, schicke aber gleich die Versicherung hinterher, mich über Astrologie keineswegs lustig machen zu wollen. „Okay“, sagt sie, „gut. Man kann nämlich kein menschliches Wesen sein und sich über dieses Thema lustig machen. Weil es eine Wissenschaft ist – wirklich! Natürlich gibt es auch in diesem Metier Scharlatane, aber die gibt’s schließlich überall.“

Nach einem Über-Nacht-Flug von der Westküste, aber auch aufgrund jahrzehntelanger Schlafstörungen ist Madonna sichtlich erschöpft. „Ich hab heute Morgen Yoga gemacht“, sagt sie und setzt sich aufs Sofa. Sie trägt heute eine schwarze Bluse von Dolce & Gabbana, einen dazu passenden Rock und Stiefel von Prada. An ihrem Hals baumelt ein kleines Kreuz, auf den Zähnen sitzt ein „Grille“ (die goldenen Zahnspangen, die wir sonst von blingsüchtigen Rappern kennenen – Red.), am Handgelenk eine Jacob-the-Jeweler-Uhr.

„Und ich bin doch tatsächlich in der Todesstellung eingeschlafen“,  fährt Madonna fort. „Wobei Yoga ja ohnehin nichts anderes ist als die Vorbereitung auf den Tod. Die Yogis kommen an einen Punkt, wo sie ihren Herzschlag beliebig verlangsamen können. Und wenn ihre Zeit gekommen ist, gehen sie in den Wald, setzen sich in ihrem Lendenschurz oder was auch immer auf den Boden und treffen die bewusste Entscheidung, ihr Herz anzuhalten. Na ja, egal: Darum geht’s jedenfalls bei Yoga. Es geht nicht darum, seine Körperteile so zu biegen, dass man wie eine Brezel aussieht. Es ist die Vorbereitung auf den Tod. Die Ablösung von sämtlichen Begierden. Ist das nicht ein wundervoller Einstieg in unser Interview?“

Wenn Sie ein neues Album machen: Wie gehen Sie mit dem Druck um, sich an Ihren früheren Erfolgen messen lassen zu müssen?

Die alten Sachen spielen keine Rolle für mich. Ich schaue nur in die Zukunft. Wenn ich mit anderen Leuten zusammenarbeite, sind seltsamerweise sie es, die mich auf alte Sachen ansprechen. Diplo beispielsweise wollte immer wieder die Bass-Figur von „Vogue“ oder irgendein Detail von „La Isla Bonita“ spielen – worauf ich nur sagte: „Lass mal stecken, schauen wir lieber nach vorn!“ Ich vergesse die ganzen Sachen – und habe auch überhaupt nicht das Bedürfnis, mich irgendwie zu übertreffen. Ich denke lieber darüber nach, was ich in diesem Moment schreiben oder spielen möchte.

Dennoch betreiben Sie in einem neuen Song wie „Veni Vidi Vici“ offensichtlich Nabelschau und zitieren sogar alte Songtitel.

Stimmt schon. Aber dann und wann kann man ruhig auch mal die Geschichte des kleinen Mädchens erzählen, das aus Detroit ins große New York kam.

Was mit Sicherheit eine aufregende Geschichte ist. Aber können Sie sich in dieser Geschichte überhaupt noch wiedererkennen?

(Leise) Mein ganzes Leben ist eine verrückte Geschichte. Wenn ich ernsthaft darüber nachdenke, kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass ich wirklich ein unglaubliches Leben gelebt habe. Mit so vielen unglaublichen Menschen, die ich kennenlernen durfte. Bei den Grammys sah ich Nile Rodgers wieder (er produzierte „Like A Virgin“ – Red.), und ich musste ihn einfach ganz fest an mich drücken. Ich hab so viel mitgemacht, so viel überlebt. Manchmal fehlt mir die Unschuld der frühen Jahre. Das Leben war anders. New York war anders. Das Musik-Business war anders. Mir fehlt die Einfachheit, die Naivität der Menschen, die mir über den Weg liefen.

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