In den Ruinen des Westens

Songwriter und Schamane Tom Liwa feiert mit den Flowerpornoes die eigene Vergangenheit und entdeckt neue Freiheiten

Tom Liwa fährt in seinem türkisfarbenen Fiat Multipla gerade über die A2 Richtung Hildesheim. Er kennt die Orte an der Strecke gut – Kamen, Oelde, Bielefeld, Bad Oeynhausen. Da hat er überall schon gespielt. Bis zu 80 Konzerte im Jahr waren es manchmal. In letzter Zeit aus familiären Gründen ein paar weniger, aber ein fahrender Sänger ist er noch immer, denn allein vom Plattenverkauf lässt es sich nicht leben. Auch an diesem Abend steht er wieder auf einer Bühne. „Die erwarten alle den traurigen Tom mit der Ukulele“, sagt er und lacht, „die werden sich wundern.“

Den traurigen Tom mit der Ukulele konnte man auf seinem letzten Album, „Goldrausch“, hören, das im Februar 2012 erschien. Für den Songwriter aus Duisburg sind diese Lieder, die von Trennung und Tod handeln (aber ebenso von Gott und Geburt), allerdings ganz weit weg. Mit „Ich liebe Menschen wie ihr“ ist schon das nächste Album erschienen; dieses Mal nahm Liwa mit den Flowerpornoes auf. Bereits 2007 hatte er die Band, die in den Achtzigern und Neunzigern wegweisend war für die neuere deutschsprachige Popmusik, für ein Album reaktiviert, und eine weitere Platte war in Planung; doch dann kamen wieder allerlei Soloprojekte dazwischen. Er versuche gar nicht mehr, seine Karriere zu planen, weil die Intuition ihn doch immer wieder woanders hin führe, sagt der 51-Jährige „Ich kam aus einem Abschnitt meiner Schamanenausbildung „, erklärt er die zweite Wiederbelebung seiner alten Band, „Thema war der mythische Westen des Medizinrades. Da geht es darum, dass die Dinge sterben sollen, die sterben dürfen, um Platz zu machen für die neuen. Unterwegs im Auto hatte ich den Impuls, mit den Flowerpornoes arbeiten zu wollen – auf eine Art und Weise, die unseren gemeinsamen Weg in all diesen Jahren ehrt.“

Schamanenausbildung? Medizinrad? Glücklicherweise muss man dem immer schon spirituell interessierten Liwa nicht auf jedem seiner esoterischen Wege folgen, um seine Songs zu schätzen. Um mal in der für das Singer/Songwriter-Genre allerwichtigsten Person, der ersten nämlich, zu sprechen: Ich bin immer wieder verwundert, wie nah mir Liwas Texte gehen, obwohl unsere Leben auf den ersten Blick nicht viel gemein haben, während andere Songwriter, die in meiner Nachbarschaft wohnen, die gleichen Kinos, Konzerte und Kneipen aufsuchen und in ähnlichen Verhältnissen leben wie ich, mich vollkommen kaltlassen. Gerade mit seinem Ukulelenalbum „Goldrausch“ hat Liwa in diesem Jahr eine neue Höhe seines Intimstorytellings erreicht. Auf „Ich liebe Menschen wie ihr“ hat er seinen Kosmos erweitert. Krautrock und Psychedelia bereichern den Flowerpornoes-typischen Folkrock, und der Blick des Songwriters ist nach außen gerichtet. „Die neuen Songs sollten weniger persönliche Nabelschau sein“, sagt er. „Die Idee war, meine Fähigkeit, Texte zu formulieren, in den Nutzen unserer gemeinsamen Bandgeschichte zustellen.“ Dafür rief Liwa die Band, zu der neben seiner Schwester Birgit Quentmeier auch sein alter Freund Markus Steinebach und dessen Bruder Till gehören, erst mal zusammen, um sich auszutauschen und auf den neuesten Stand zu bringen: Was hörst du gerade? Was liest du? Und sonst so?

Als Nosie Katzmann, Chef von Liwas derzeitigem Label Gim Records und in den Neunzigern mal Songwriter für Culture Beat („Calling Mr. Vain“), im Juni 2012 Wind von der Reunion bekam, überzeugte er Liwa, dass sofort ein neues Flowerpornoes-Album hermusste. Der Songwriter wehrte sich nicht besonders lange gegen diese Idee. „Das war eine völlig neue Erfahrung für mich, ohne einen einzigen Song ins Studio zu gehen“, sagt er. „Meine letzten Platten entstanden alle in kürzester Zeit, weil sie jeweils einen biografischen Auslöser hatten – entweder es ging mir besonders gut oder besonders scheiße. Beim neuen Album habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich auch auf Kommando Songs schreiben kann.“

Ohne Krisen ging die Arbeit allerdings nicht ab. Als etwa Schlagzeuger Till Steinebach kurz vor den ersten Aufnahmen unerwartet ausstieg, war die Feier an der eigenen Vergangenheit erst mal ins Wasser gefallen. Doch nicht nur fanden die Flowerpornoes in Giuseppe Mautone einen Ersatz, der half, die Band zu einer neuen musikalischen Einheit zu formen, auch Liwas mittlerweile in Österreich lebende Ex-Frau Alex Gilles-Videla, die in den Neunzigern zur Band gehörte, gastierte bei zwei Stücken. „In dieser Zeit sind sehr viele positive Sachen passiert, die ich vorher nicht für möglich gehalten hätte“, so Liwa. Sogar mit der Heimatstadt, zu der die Band in früheren Zeiten nicht immer ein gutes Verhältnis hatte, gab es eine Art Versöhnung: Als die Musiker vor einer Imbissbude in Duisburg-Burghausen saßen, rief ihnen ein auf einem Fahrradgepäckträger sitzender Typ mit irren Augen und nach oben gerecktem Daumen zu: „Ich liebe Menschen wie ihr!“ Klar, dass das der Albumtitel wurde. Steckt doch in dieser Ruhrpottherzlichkeit der ganze Themenkreis der neuen Songs: die Freundschaft und die Heimat – der mythische Westen.

Duisburg ist ja eine Art deutsches Pendant zu der amerikanischen Dystopie Detroit – Industrie-Ruinen und verfallene Häuser bestimmen das Stadtbild; die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Zukunft ist grau wie einst der Ruhrgebietshimmel als sich noch Förderräder drehten und Hochöfen glühten und dampften. Immerhin, die Mieten sind niedrig, und dort, wo früher mal eine Berufsschule war, haben nun Künstler ihre Ateliers und Bands wie die Flowerpornoes ihre Proberäume. Große Teile von „Ich liebe Menschen wie ihr“ sind an diesem Ort entstanden, an dem die Kreativen bei ihrer Arbeit auf keinen Kunstmarkt mehr schielen, denn den gibt es hier nicht. Auch eine Art Freiheit. „Durch den überall in der Stadt enorm präsenten Niedergang kapitalistischer Strukturen sind wir einfach soziokulturell einen Evolutionsschritt weiter“, erklärt Liwa und lacht. „In Duisburg stehen schon die Ruinen, die Berlin sich erst mal schaffen muss.“

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