In weiter Ferne so nah

Mit ihrem jüngsten Album "Schall & Wahn" schließen Tocotronic die "Berlin-Trilogie" ab. Außerdem wird die Band 18. Ein Gespräch darüber, wie man im Leben und in der Kunst weitermacht.

Ein Fieber sei ausgebrochen, meldet sich die Pressetexterin jetzt aus gegebenem Anlass wieder zu Wort: „Es ist glühend, ansteckend und bringt das Bewusstsein unaufhaltsam durcheinander“. Interessant. Aber warum ist das so? „Das Gebot des neuesten Tocotronic-Albums lautet: Nicht zur Besinnung kommen! Sondern im Gegenteil: Sich reinsteigern! Bis man die Bodenhaftung verliert.“ Die Schweizer Band Yello hat die gleiche Aussage auf eine etwas griffigere Formel gebracht: „You gotta say yes to another excess.“ Aber das waren ja auch noch die guten alten Achtziger.

„Schall & Wahn“ haben Tocotronic ihr jüngstes Album genannt, nach einem Roman von William Faulkner – „der den Titel wiederum von Shakespeare gestohlen hat“, wie die Band-Website naseweis klar stellt. „Schall & Wahn“ markiert das Ende der sogenannten „Berlin-Trilogie“ – die „Pure Vernunft“ wurde schon früher besiegt, die „Kapitulation“ hat längst stattgefunden.

Das offizielle Pressefoto zeigt die Band als ernste, nicht mehr ganz so junge Männer. Fast ein wenig feierlich blicken die Musiker zum Betrachter hin, die Hände ineinander verschränkt, die Körper nah beieinander. Die Posen sind würdevoll, wenn auch ein wenig steif, fast wie eingefroren, und dennoch suggeriert dieses Bild Einheit und Freundschaft. Nichts wirkt lässig und authentisch oder entspricht dem, was man Rock’n’Roll nennt: Treffender kann man die Haltung visuell nicht auf den Punkt bringen.

Tolles Band-Foto…

Dirk von Lowtzow: Eine befreundete Fotografin und Künstlerin hat das gemacht. Sie hat sich dabei an einem Bildband aus den 20er Jahren orientiert: „Photographs Of American Men“. Da sind Fotos von amerikanischen Männern zu sehen, die sich in ganz ähnlichen Formationen gruppiert haben. Miteinander verschlungen und die Hände bilden oft eine Art Kreislauf.

Was verrät diese Pose über euch als Band?

Jan Müller: Das Foto zeigt auf eine sehr schöne Art, dass wir zusammen etwas erschaffen haben. Sonst sieht man ja eher dieses breitbeinige Beieinander- Stehen, dieses Klischee von einer Rockband.

Rick McPhail: Das Bild hat auch etwas von einem Familienporträt: eine Familie, die sich tagein tagaus sieht und sehr vertraut miteinander umgeht. Trotzdem wirken wir alle auch ein bisschen verkrampft.

Warum verkrampft?

DvL: Genau, wir machen eben keinen Free Jazz und keine Neue Musik, auch wenn wir so etwas selbst gerne hören. Wir können diese Sachen einarbeiten oder wie eine Denkfigur über allem schweben lassen. Aber wir finden es wichtiger, klarzumachen, dass wir uns in einem definierten Genre bewegen, als zu sagen: „Anything goes.“ Tocotronic lümmeln in der Wohnung von Gitarrist Rick McPhail auf der Couch. Ein Zimmer weiter befindet sich der Proberaum, ein kleines Studio, in dem auch die Rohfassungen der neuen Songs entstanden sind. Man ist froh, die vier nicht in Anzügen des Gecken-Schneiders Herr von Eden anzutreffen, die jetzt so viele Musiker der Hamburger gerne tragen. Das Dandytum von Tocotronic tobt sich offenbar eher im Kopf aus. Begeistert erzählen sie von der Zusammenarbeit mit dem Neue-Musik-Komponisten Thomas Meadowcroft, der bei einigen Songs ätherische Streicher arrangiert hat: „Viele zeitgenössische Klassikkomponisten fassen Geräusche als Musik auf, das hat uns interessiert“, sagt Dirk, der wie immer auf eine schlichte Art elegant aussieht. „Wir mögen diese Musik, aber es ist sehr schwer, so etwas in unsere Songs zu integrieren.“ Doch es funktioniert, dezent und unaufdringlich.

Ein wenig ähneln Tocotronic auch Floressas Des Esseintes, dem morbiden Helden von Joris-Karl Huysmans „Gegen den Strich“ – es gibt sogar einen älteren Song mit dem Titel des Romans. Auch Tocotronic scheinen vor der kumpelhaften Banalität von Zeitgenossen wie Tomte und Kettcar ins virtuelle Exil ihrer Songs zu fliehen. Und wie der Dandy Des Esseintes kostbare Kunstwerke und edle Genüsse in sein Landhaus schafft und sich dort mit ihnen einschließt, horten die vier in ihrem Werk extravagante Einflüsse, Referenzen und kulturelle Liebhabereien. Auch diesmal lassen sich die Musiker den Namen des Komponisten George Crumb genüsslich auf der Zunge zergehen, zitieren sie aus einem Buch des Hamburger Künstlers Herbert Schuldt oder erzählen von dem Underground Filmemacher und John-Waters-Idol Jack Smith. Das ist glücklicherweise nie blöde Pose und Angeberei, sondern wird getragen von einem sympathischen Fantum.

Warum, klingen die Texte von Tocotronic seit „Pure Vernunft darf niemals siegen“ oft mehr nach Dichtern des 19- Jahrhunderts als nach aktuellem Pop?

DvL: Ich glaube, das ergibt eine gute Reibung, ich finde das witzig. Oder es macht zumindest Spaß, das so zu schreiben. Aber woher das kommt, das kann ich jetzt auch nicht genau sagen. Ich versuche immer die größtmögliche Distanz herzustellen. Ich glaube nicht, dass Kunst entsteht, indem man sich oder seine eigenen Gefühle originalgetreu nachbildet. Das entsteht erst durch die Distanz, die man zu sich selber hat. In diesen Texten stilisiert man sich immer hinein in eine gewisse Theatralik oder in etwas Künstliches, Übertriebenes. Daher kommt das.

Hat das auch etwas mit persönlichem Geschmack zu tun?

DvL: Ja, ich mag es gern spleenig und exzentrisch. Wenn ich so etwas schreibe, bin ich mir näher, als wenn ich ein Lied darüber mache, wie ich mit meinem Hund spazieren gehe oder wie ich zum Bäcker gehe. Ich finde so etwas langweilig, mich interessieren Distanz und Stilisierung. Und dadurch, dass die Worte so einen starken Klang haben, werden sie fast unwichtig. Das klingt vielleicht paradox, ist aber mein größter Ehrgeiz. Ich bin sehr nachlässig im Inhalt, aber sehr penibel in der Form.

Es geht also um so etwas wie einen „Sound der Worte“?

DvL: Absolut. Dieser Sound ist mir extrem wichtig, die Texte könnte man auch als eine Art Fremdsprache wahrnehmen. Damit will ich jetzt nicht sagen, dass mir Inhalte nicht wichtig sind, aber man muss sehr präzise in der Form sein, damit diese Inhalte nicht belästigend wirken. Techniken wie Reime stellen ja Forderungen, und man kommt so auf neue Reime, und es ergibt sich ein Flow. Das finde ich hundertmal wichtiger als eine konsequente Aussage oder eine inhaltliche Position, die irgendwie mit mir übereinstimmt.

Tocotronic propagieren eher Zwischenstufen, Ich-Auflösung und Vielheit. Mit der „authentischen“ deutschen Rocklyrik hat das nichts mehr zu tun.

DvL: Das ist ja ein grundsätzliches Merkmal der Musik aus (macht den Hanseaten) „unserem schönen Hamburch“: Hier gibt es schon lange ein hohes Maß an Reflexion über Texte und wie sie sein sollen. In den letzten Jahren hat in dieser Hinsicht allerdings eine extreme Umkehr stattgefunden. Als wir anfingen, waren unsere Texte auf eine fast schon fremde Art konkret. Zumindest im Vergleich zu den sehr assoziativen Texten von Kristof Schreuf, Jochen Distelmeyer oder Tobias Levin, auf die wir letztlich reagiert haben.

Und diese Klarheit in der Sprache ergibt heute keinen Sinn mehr?

DvL: Über die Jahre wurde dieses Deutsch-Singen zu einem Synonym für „verständliche, ehrliche Texte machen“. Und das ist etwas, wo wir schon 1999 gemerkt haben, dass das nicht der Weg sein kann. Und deshalb haben wir uns immer weiter von dieser ehrlichen, direkten Sprache verabschiedet. Wobei das jetzt nicht heißt, dass es da nicht auch ganz klare Aussagen und Strukturen gibt. Aber man musste sich ja befreien von diesem Imperativ der absoluten Verständlichkeit.

Klarer und verständlicher als die Single „Mach es nicht selbst“ kommt wohl kein Song des Albums zur Sache. Worum geht es da?

DvL: Die Form, an der wir uns abarbeiten wollten, war der „Blödel-Knüller“. Ein schönes deutsches Genre, vor allem repräsentiert von Frank Zander und Mike Krüger. Der Text wendet sich gegen eine Form von kreativer Selbstmobilisierung, die in der heutigen Zeit permanent von jedermann und jederfrau gefordert wird. Dem wollten wir eine ganz klare Absage erteilen. Weil dahinter oft die Ideologie steht, dass nur die Sachen etwas wert sind, die man aus sich selbst geschöpft hat.

RM: Ich hab kein Problem mit Do-It-Yourself…

DvL: DIY ist was anderes, da wird ja aus der Not eine Tugend gemacht. Wir müssen ja auch alles selber machen.

Aber was ist denn so negativ am Selbermachen?

DvL: Da entsteht eine Zweiklassen- Gesellschaft. Einmal die Leute, die Zeit haben, sich permanent selbst zu erfinden und kreativ zu mobilisieren. Und dann die, die weder die Zeit haben, das zu tun, noch das kulturelle Kapital dafür besitzen.

JM: Das hat ja durchaus eine gewisse Tragik: Man denke nur an die unendlich vielen, mit viel Mühe gebauten MySpace-Seiten, die sich dann kaum ein Mensch anguckt,(großesGelächter). Es ist ja nicht so, dass Leute, die ihre Sachen selber machen, die Gewinner wären.

Selbermachen hat ja heute nichts mehr mit Freiwilligkeit zu tun. An Bahnhöfen ist es längst ein Zwang.

JM: Da geht’s los!

Arne Zank: Beispielsweise!

JM: Ich war neulich bei Ikea, da kann man seine Sachen an der Kasse selber scannen. Das wird einem als Vorteil verkauft, weil es dadurch schneller geht. Noch!

RM: Und ich war mit meinem Sohn in der Bibliothek. Da arbeitet niemand mehr, der einem die Bücher abnimmt oder beim Auschecken hilft. Man führt eine Karte ein und legt das Buch auf eine Ablage – das ist wie in einem Science-Fiction-Film…(Große Zustimmung und Stimmenwirrwarr)

JM: Uns wird oft so ein komischer heiliger Ernst attestiert. Und das ist ein Stück, das man auch mit einem gewissen Augenzwinkern hören kann. Wir selber nehmen uns ja gar nicht als so kopflastig wahr.

Agamben, Huysmans, Proust, Negri & Hardt, Melville, Faulkner – die philosophisch-literarischen Referenzen, die ihr neben Pop- Einflüssen immer wieder aufrieft, sind aber alles andere als Ulknudeln.

DvL: Trotzdem sind wir der Blödelei grundsätzlich nie abgeneigt. Da waren immer Sachen, die man auch aus Lust an der Übertreibung schreibt. Es ist in Deutschland wohl ein Problem, wie Dinge wahrgenommen werden, ob als Komödie oder als Tragödie. Schon ganz am Anfang beeinflussten uns textlich Schriftsteller wie Thomas Bernhard. Der ist ja auch unglaublich witzig, wird aber nicht so wahrgenommen.

AZ: Diese Ambivalenz wird oft gar nicht gesehen, die Leute meinen sich immer entscheiden zu müssen. Auch wenn das manchmal gar nicht notwendig ist.

DvL: Dazu kommt noch die Abneigung gegen eine Rockmusik, die in letzter Zeit mit extremem Pathos arbeitet, in der es überhaupt keine Gags mehr gibt.

Viele Kritiker, gerade in Deutschland, sind auf der Suche nach tiefschürfenden Genies, was man ja am Kult um Jochen Distelmeyer sehen kann: Deutschland sucht den Superdichter…

DvL: Ich glaube, wir arbeiten wesentlich spielerischer, unsere Selbstauffassung ist halt anders. Diese Idee des genialischen Singer/Songwriters hat uns als Band nie interessiert. Weil wir eben eine Gruppe sind und ich als derjenige, der die Texte und Songs im Rohgerüst schreibt, mich immer als im Sinne der Band handelnd verstehe. Dieses Gefühl, man ist selber Songschreiber und schreibt über sich in seiner Erfahrung des Selbst in der Welt, das ist mir fremd.

Du benutzt in den Texten oft ein „wir“ -für wen steht das?

DvL: Meistens ist es ein Pluralis Majestatis. (Gelächter)

Wozu ist das gut?

DvL: Das ist Stil. Wenn man in der ersten Person Plural schreibt, bekommt das einerseits etwas Majestätisches, andererseits auch etwas Wahnhaftes. Zumindest wenn man davon ausgeht, dass die Person, die schreibt, ein Singular ist.

JM: Aber die erste Person Singular gibt es ja auch, „Schall & Wahn“ fingt ja ganz deutlich so an: „Eure Liebe tötet mich.“

DvL: Das ist auch eine Frage der Perspektive: „Bitte oszillieren Sie“ ist ja eine Anrede, eine Höflichkeitsform sogar, (lacht).

„Schall & Wahn“ ist musikalisch offener und vielfältiger als die beiden Vorgänger-Alben, man fühlt sich an euer„Weißes Album“ erinnert. Ist das Absicht?

AZ: Der Vergleich stimmt auf jeden Fall. Man fächert sich auf, sieht nach, was man alles hat. Vor allem die Möglichkeiten der Vierer-Besetzung – was kriegt man da hin? Wir haben den Sound stark betont und einfach mal geguckt, wo alle mitgehen.

JM: Die Strenge von „Kapitulation“ erschien uns glücklich, und es war auch ein starker Titel. Doch dadurch sind wir sehr programmatisch nach draußen getreten. Diesmal wollten wir ganz bewusst zeigen, dass es eine Band ist, die hier spielt. Deshalb fängt das Album mit einem langen Instrumentalteil an. Das schlicht „Tocotronic“ betitelte, „Weiße Album“ von 2002 steht für eine entscheidende Zäsur in der Arbeit der damals noch dreiköpfigen Band. Eineinhalb Jahre haben Jan Müller, Arne Zank und Dirk von Lowtzow in „Workshop-artiger Situation“ im Electric Avenue Studio von Tobias Levin verbracht. Haben entworfen, getüftelt, ausgeführt und dann wieder verworfen. Die uneigentlichen Klangwelten des Electro standen dabei ebenso Pate wie die musikalische Eleganz von Roxy Music und Brian Eno. Textlich war „Tocotronic“ die Abkehr vom klar lesbaren Frühwerk, dessen brillante Slogans falsch verstanden und schlecht kopiert wurden. „Eins zu eins ist jetzt vorbei“, heißt es dazu im programmatischen Song „Neues vom Trickser“. Die Kritiker liebten das „Weiße Album“, doch für die Band wurde es schnell zur Last: „Das ,Weiße Album‘ ließ sich live kaum umsetzen, das muss man auch mal sagen, das war echt schwer zu spielen“, seufzt Arne Zank noch heute. „Tocotronic“ war ein Interims-Album, die Brücke zwischen dem an Thomas Bernhard und amerikanischem Hardcore-Punk geschulten Frühwerk und der von dem Rocker Moses Schneider produzierten „Berlin-Trilogie“ mit ihrer schwärmerischen Tendenz zur Hingabe und Verrätselung.

Warum habt ihr den elektronischen Pop des „Weißen Albums“ damals nicht weiterverfolgt?

JM: 2004 kam Rick McPhail als viertes Mitglied zu Tocotronic. Bei „Pure Vernunft darf niemals siegen“ hat es uns deshalb viel mehr interessiert, wie befreit man mit zwei Gitarren losspielen kann. Im Prinzip lebten alle drei Alben davon, dass wir als Band diese Spielfreude endlich wieder rauslassen konnten.

AZ: Das Steckenpferd von Moses Schneider ist ja auch das Live-Aufnehmen. Deswegen haben wir vielleicht auch einiges an Interessengebieten ausgegliedert. Das kam dann in der Band nicht mehr vor und findet seitdem in Neben-Projekten statt.

JM: Es muss ja auch nicht alles, was uns interessiert, in der Gruppe Tocotronic stattfinden. Diese Rockband hat ja ihr Format, das auch limitieren soll. Das war bei der ersten Platte der Trilogie noch sehr streng und fächert sich jetzt immer weiter auf.

„Berlin Trilogie“ – das klingt nach schwerem Werk. Dabei ist der Begriff ja vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Alben „Pure Vernunft darf niemals siegen“, „Kapitulation“ und „Schall & Wahn“ im Berliner Studio von Moses Schneider aufgenommen wurden.

DvL: Das war ursprünglich einfach ein Gag – wegen der Berlin-Trilogie von David Bowie. Nur leider hat ihn niemand als solchen verstanden. Wären die Alben in Wuppertal aufgenommen worden, hätten wir daraus eben eine Wuppertal-Trilogie gemacht. Beim letzten Album „Kapitulation“ ist etwas Ähnliches passiert: Die Presse hat unser „Manifest“ wahnsinnig ernst genommen und den schrulligen Humor dahinter überhaupt nicht verstanden.

Trotzdem gehören die drei Alben zusammen.

DvL: Ja, es gibt eine deutliche Entwicklung des Sounds, der von Platte zu Platte offener, opulenter und größer wird. „Pure Vernunft“ war außerdem das erste Album, bei dessen Entstehung ich fest in Berlin gewohnt habe, auch die Songs habe ich dort geschrieben. Für mich war das eine einschneidende Änderung, weil ich mich von diesem Hamburg-Bezug gelöst habe.

Was ist in Berlin so anders?

DvL: Die Stadt hat sich in den letzten zehn Jahren zu einer wahnsinnigen Kunst-Metropole entwickelt. Im Privatleben habe ich jetzt fast ausschließlich mit bildenden Künstlerinnen und Künstlern zu tun und nur sehr wenig mit Musikern. Ich empfinde es als wahnsinnig befreiend, nach Feierabend mit Leuten zusammen zu sein, die aus anderen Disziplinen kommen. Gerade weil das eine andere Sicht der Dinge ermöglicht. Die Ambivalenz zwischen dem Hamburger Musiker-Wohnzimmer „Mutter“ und der Kunstszene von Mitte prägt „Schall & Wahn“ ebenso wie die letzten beiden Alben von Tocotronic. Da ist zunächst das klare Bekenntnis zum Rock und dessen Mehrwert. Klare Sache, dass die Songs auch diesmal wieder live eingespielt wurden und es genügend Raum gab für delirierende Instrumentalstrecken, elegant donnernde Rhythmen und aufwühlende Gitarrengewitter. Doch dieses archaisch unbewusste „Abgehen“ – das mehr als einmal an die rauschhaften Feedback-Orgien Neil Youngs erinnert – ist zunehmend stärker eingebettet in ein der Konzeptkunst entlehntes Spiel mit Zeichen, Sprachen und Formen. Die Slogan- und Referenzmaschine Tocotronic stellt Behauptungen auf und Beziehungen her, die über die unterschiedlichsten Kanäle unter Fans und Presse gebracht werden. Wie leidenschaftlich wurde anlässlich von „Kapitulation“ noch über die Schönheit der Niederlage und die Kunst des Verlierens debattiert. Der Schrammelgitarren-Purismus von „Pure Vernunft darf niemals siegen“ war eingebettet in einen klug ausgedachten Kontext aus Waldgeistern, Incredible String Band  und literarischen Ausdruckstänzchen. „Schall & Wahn“ scheint sich jetzt allem der Kunst der Verfeinerung zu widmen. Man fächert sich auf, wie die Musiker gerne sagen, schraubt am Detail, spielt mit Stimmungen und Tempi. Und lässt die Soundwellen und Feedbacks schon mal acht, neun Minuten lang heranbranden. Und wieder gibt es auf dem Cover eine Arbeit aus dem Bereich der bildenden Kunst.

Das Cover von „Schall & Wahn“ zeigt eine Arbeit der beiden Konzeptkünstler Jemen de Riijke und Willem Derooij. Warum dieses ständige Bekenntnis zur Kunst?

DvL: Das aktuelle Cover zeigt eigentlich sehr schön unsere Arbeitsweise: Das ist tatsächlich eine künstlerische Arbeit dieses holländischen Paares, doch wenn man sich nicht dafür interessiert, ist es einfach nur ein schöner Blumenstrauß. Ich mag es nicht, wenn Sachen zehn Meter gegen den Wind „Hallo Kunst!“ schreien. Das wäre ein bisschen belästigend.

Sonic Youth haben Anfang des Jahres in der Düsseldorfer Kunsthalle eine eigene Ausstellung kuratiert. Wäre das nicht auch eine Aufgabe für Tocotronic?

DvL: Wir wollen das Interesse an Kunst gar nicht so stark ausstellen. Bei einer Band wie Sonic Youth fängt es an, mich unfassbar zu langweilen, weil da unwidersprochen einer Musealisierung stattgegeben wird, nach dem Motto „Und dann zeigen wir hier noch unsere Kunstsammlung“. So weit entfernt von Mick Flick ist das dann auch nicht mehr, (lacht).

Es ist also eine Frage der Balance zwischen dem Anspruch, Teil einer Kunst- szene zu sein, und dem Massen-Appeal des Rock?

DvL: Ja, wenn man diese Nähe zur Kunstszene zu stark vor sich herträgt, dann bekommt das schnell etwas Prätentiöses. Man sollte sich die Musik auch ohne diesen ganzen Überbau anhören können. Wir haben eine fast schon neurotische Angst vor Zuschreibungen, Schubladen und Vereinnahmungen. Man muss mit solchen Dingen sehr subtil umgehen. Andererseits ist es oft ja auch ganz einfach: Wir sind mit Künstlern befreundet, also klatschen wir mal ein Bild aufs Cover.

Wie ist das eigentlich mit dem Theater, habt Ihr dazu auch einen Bezug?

DvL: Bei uns beschränkt sich das Engagement vor allem auf eine ganze Reihe von Konzerten an der Berliner Volksbühne, das fing schon 1996 an. Christoph Gurk dort bis vor kurzem ein unfassbar gutes Musikprogramm gemacht.

Sein Nachfolger veranstaltet nun Konzerte mit Nigel Kennedy und Partys mit Russendisko und Dancefloor-Jazz. Wo ist der ehemalige Chefredakteur von „Spex“ denn bloß hin?

DvL: Er ist seit Beginn der Spielzeit verantwortlich für das Musikprogramm des Hebbel-Theaters; ich habe dort schon letztes Jahr für Angela Richters Inszenierung von „Jeff Koons“ eine Art Drone-Musik gemacht. Man kann grundsätzlich sagen, dass Plätze wie Hebbel-Theater und Volksbühne wirkliche Freiräume bieten für eine Musik-Wahrnehmung, die jenseits des Event- oder Spektakelhaften normalen Konzertbetriebs liegt.

Geht ihr auch ins Theater, um euch Stücke anzusehen?

DvL: Ja, ich bin ein wahnsinnig großer Fan von Rene Pollesch. Wenn ich einen herausragenden zeitgenössischen Regisseur, Autor oder Text-Arbeiter nennen müsste, dann würde ich auf jeden Fall ihn nehmen. Obwohl ich mich nie direkt bei ihm bedient habe, finde ich die Art, wie Pollesch mit Sprache umgeht, wahnsinnig inspirierend.

Er ist der Meister des High-End- Überforderungs-Theaters. Man wird fast erschlagen von all den Referenzen und Anspielungen, eigentlich müsste man sich seine Stücke gleich mehrfach ansehen.

DvL: Das habe ich schon oft gemacht. Da kommt man manchmal auf sehr gute Gedanken: Der Titel „Gesang des Tyrannen“ fiel mir während eines Pollesch-Stücks ein – obwohl er gar nichts mit dem Stück zu tun hat. Ich habe mal in einem Interview gelesen, dass Stephen Merritt gerne in infernalisch laute und hysterische Gay-Discos geht, sich dort an einen Tisch setzt und seine Songs schreibt.

Stephin Merritt, der geniale Songwriter hinter The Magnetic Fields, und Rene Pollesch, der es mühelos schafft, philosophische Theorien als Slapstick- Komödie zu inszenieren: Man glaubt gern, dass sich von Lowtzow solchen Künstlern nahe fühlt. Die Band Tocotronic ist heute mehr denn je eine Klasse für sich.

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