Jarvis Cocker – Hamburg, Fabrik

Der einstige Pulp-Sänger singt Lieber über Sex, statt immer nur zu denken.

Die Umfrageergebnisse vor dem Konzert waren ziemlich niederschmetternd. Kaum einer der Cocker-Fans unter den Freunden fand ein lobendes Wort für das neue Album. Derbe rockend sei die Musik und eher einfallslos die Texte. Also trauerte man zur Einstimmung wieder einmal Pulp und allgemein den goldenen Zeiten hinterher. Dieser Nostalgie-Scheiß geht jetzt offenbar auch mit Brit-Pop los, dabei ist das doch noch gar nicht so lange her, oder etwa doch? Cocker ist inzwischen ja auch schon 45, wenn auch optisch noch verdammt gut beieinander. Im Interview zu „Jarvis“ vor gut zwei Jahren erzählte er viel von seiner Ehe – nun ist er seit ein paar Wochen schon wieder geschieden. „Further Complications“ eben, wie der Titel des neuen Albums so treffend behauptet.

Der Abend beginnt unglücklicherweise mit dem absoluten Tiefpunkt der neuen Platte: Grob und ungelenk bollert das Instrumental „Pilchard“ durch die schöne alte Fabrik-Halle, und man fragt sich: Ist das Surf-Rock, Post-Punk oder einfach nur uninspirierter Krach? Doch dann kommt Jarvis auf die Bühne, und alles wird gut: Wie Windmühlenflügel schleudert er die langen Arme hin und her, winkelt sie grotesk an und schreit dabei, als wären wir in einer Russendisko. Dann packt der Sänger erst mal einen Glückskeks aus, den er irgendwo aufgelesen hat. Die weiblichen Fans sind entzückt, als Cocker mit schwerem englischem Akzent vorliest: „Lerne anderen zuzuhören, lerne dir selbst zuzuhören“. Nachdem man ihm den Satz übersetzt hat, ändert ihn der mitteilsame Exzentriker umgehend: „Lerne, die anderen zu zwingen, dir zuzuhören“. Großes Gekicher im Publikum. „The next song is not about Angela Merkel!“, wird nun das nächste Stück angekündigt. Ein deutscher Journalist hatte Cocker mit dem dämlichen Verdacht konfrontiert, „Angela“ sei ein Song über die Kanzlerin. Dabei geht es im Text sehr eindeutig um eine 23-jährige Kellnerin und den alten Lustmolch, der sie begafft. Das Publikum jedenfalls lacht und jubelt – warum bloß ist das mitreißende Stück bei so vielen Kritikern durchgefallen?

Schnell wird deutlich: Es geht darum, das neue Album vorzustellen und zwar komplett. Lediglich „Big Julie“ und eine tolle Version von „Black Magic“ haben es in den Hauptteil des Konzerts geschafft. Publikumslieblinge wie „Cunts Still Running The World“ bleiben leider ungesungen.

Dafür wehrt sich Cocker in „I Never Said I Was Deep“ amüsant gegen den Verdacht, der „denkende Popstar“ zu sein, für den ihn alle halten. Das herrlich triebgesteuerte, von Honky-Tonk-Gitarren sanft umspielte „Leftovers“ behandelt danach die Sex-Thematik des Albums ausgesprochen elegant und süffig.

Die Zugaben sind schließlich der eigentliche Höhepunkt. Krawatte und Jackett hat Cocker längst abgelegt, im komplett nass geschwitzten Hemd verbiegt er jetzt den dünnen Körper. Er scherzt mit den Zuschauern, tanzt wie ein Derwisch. Dann kommt endlich das unfassbar tolle „Big Stuff“. Cocker hatte den Song ursprünglich für Lee Hazlewood geschrieben, doch der inzwischen Verstorbene wollte wohl nicht. Deshalb landete „Big Stuff“ auf der B-Seite der Single „Don’t Let Him Waste Your Time“. Was für eine Verschwendung! Der Song ist ein bombastisch inszenierter, von Pessimismus getriebener Spaghetti-Western. Das Finale schließlich gehört dem besten Song des neuen Albums – „You’re In My Eyes (Discosong)“.

Jarvis Cocker mag ein durchwachsenes neues Album eingespielt haben, doch er selbst hat ja längst seinen Platz im Pantheon des Pop. Und so hallen die Zeilen des letzten Songs noch lange auf dem Heimweg nach: „I don’t want to lose vou again.“

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