Knips dich frei

Die Hülle der aktuellen EP mit Remixen und Coverversionen, darunter „Yang Yang“ von Yoko Ono, zeigt eine schemenhafte Bühnensituation in Schwarz-Weiß. Auf ihrem Debütalbum aus dem Jahr 2010 ist eine angeblitzte blonde Frau undefinierbaren Alters zu sehen. „Diese Person könnte 40 Jahre alt sein oder auch nur zehn“, sagt die Engländerin Annika Henderson. „Ursprünglich wollten wir nur einige anti-pictures knipsen für die Verwendung im Internet. Doch dieser reduzierte visuelle Ausdruck passt exakt zu dem, was ich auch sonst mache: Popmusik als Element einer oppositionellen Haltung.“

Unter dem Künstlernamen Anika (mit einem „n“) veredelt sie einen eklektizistischen Soundteppich mit ihrem tiefen, etwas sperrigen Gesang. „Sie mixt Sensibilität und Härte so filigran, dass es fast schon empörend ist“, diagnostizierte der US-Onlinedienst All Music Guide. Geoff Barrow von Portishead hat das Ganze produziert, als er einst eine weibliche Stimme für sein Projekt Beak suchte. Sie selbst meistert ihr gegenwärtiges Dasein in Berlin im Wesentlichen durch DJ-Engagements. „Ich schleppe meine Kiste und spiele Vinyl. Dabei ignoriere ich komplett die Beats-per-Minute-Zahl der Platten“, sagt sie. Klassische floorfiller braucht sie genauso wenig wie ein knalliges visuelles Image. Gleichwohl ist Anika selbst für die New Yorker Schicki-Model-Agentur Ford ein Thema, die sie für ihren Video-Blog interviewt hat. Eine interdisziplinäre Patchwork-Existenz, wie sie heute nicht untypisch ist in der westlichen Indie-Welt.

Auch Anikas finnischer Gitarrist Obi Blanche, den sie auf dem SXSW-Festival 2011 in Austin kennengelernt hat, ist gleichzeitig Fotograf. Er hatte jüngst im Berliner „Lomography“-Laden eine Ausstellung, die unter dem sinnigen Titel „Girls“ halbnackte junge Frauen in Zufallsoptik zeigte. Bei all dem trifft ein diffuser Widerstand gegen den Smartphone-Mainstream auf ein Knallkopf-Hipstertum, wie es etwa das „Vice“-Magazin weltweit erfolgreich vermarktet. Gut und Böse wohnen Tür an Tür. Interdisziplinäres Machertum zwischen coolem Selbstmarketing und freiwilligem Prekariat. Als Mittzwanzigerin könnte sich Anika mit Musiker/Fotokumpel Obi Blanche leicht den Sitten der viel besungenen digital natives hingeben. Doch sowohl Obi als auch die gelernte Politikjournalistin Anika, die sich einst auf Bildungsthemen spezialisiert hatte, betrachten Pop eben nicht als bunte Spaßmaschine mit Facebook-Twitter-Garnierung. Anika ist im Londoner Umland aufgewachsen, einer suburbanen Gegend, aus der auch Paul Weller stammt. „Die Londoner Clubszene ist in Reichweite, doch ich habe oft genug den letzten Pendlerzug verpasst und in irgendwelchen Nachtcafés geschlafen“, erzählt sie. Beim Studium im walisischen Cardiff wird sie vom Fan zur lokalen Veranstalterin und entwickelt eine Hassliebe zu einem Musikbiz, das allzu sehr auf Funktionieren setzt.

Die Lo-Fi-Ästhetik einer eigentlich überholten Technik ist für sie weniger Hardware-Fetisch, sondern vielmehr ein Vehikel, es anders machen zu wollen. In allen möglichen Medienformaten. Mit analogen Lomo-Apparaten fotografieren auch andere Musiker – von Beirut über Cold War Kids oder Melissa Auf der Maur bis zu Marky Ramone und The Black Lips. Die internationale Lomo-Community im Web hat rund eine Million Mitglieder, die hoch vernetzt ihren Knips-Kosmos kreieren. Andy Warhol hätte sicherlich seine Freude daran gehabt. „Fotografieren heißt für mich dokumentieren“, sagt Anika. „Und dazu gehört schon im Vorfeld eine Limitierung der Möglichkeiten.“

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