Komm doch mit in die Pilze

JIMI TENOR TRÄGT ROSA Shorts und ein Ringelshirt, in der Hand einen geflochtenen Einkaufskorb. Er spaziert durch den Wald. Die Warholblonden Haare und die dick gefasste Brille scheint er seit seinen Erfolgstagen in den 90er-Jahren nicht ausgetauscht zu haben – nur die Gläser sind vielleicht noch etwas dicker geworden.

Wir suchen Pilze. Pfifferlinge, aber vor allem Steinpilze, die wachsen massenhaft hier im Wald von Kontula, einem Stadtteil von Helsinki. Silberfarbene Flechten ziehen sich über den Waldboden, dazwischen Preiselbeeren. Tenor stapft durch das knackende Unterholz zwischen Kiefern und windschiefen Birken, philosophiert über die in Finnland häufig zu findenden Pilztypen, klimatische Bedingungen und gelbe Birkenblätter, die Pfifferlingen immer zum Verwechseln ähnlich sehen.

Tenor bleibt stehen und lässt den Blick schweifen: „Der Mensch hat ja einen Jagdinstinkt. Wenn er etwas entdeckt, was irgendwie nach Essen aussieht, erkennt er das von Weitem und zoomt drauf.“ Allerdings: Der Sommer war zu trocken, da gerät die Pilzernte eher spärlich. Jimi Tenor summt vor sich hin. Er verbringt sehr viel Zeit im Wald, seinem Ort der Inspiration.

Fast 20 Jahre ist es her, seit Tenor mit „Take Me Baby“ ein eindringlicher Elektro-Pop-Hit gelang, der seinerzeit sogar die Loveparade beschallte. Und spätestens seit das Warp-Label, bei dem Elektro-Größen wie Aphex Twin veröffentlichen, ihn 1997 unter Vertrag nahm, war klar, dass der Finne keine Eintagsfliege ist. Seine ersten beiden Warp-Alben „Intervision“ und „Organism“ etablieren ihn als Künstler zwischen Charts und Club.

Seither hat er beinahe jährlich eine neue Platte herausgebracht: Mixturen aus Electronica, Lounge-Jazz, Psychedelic Soul, African Funk, Easy-Listening-Kitsch. Mit oft abstrusen Texten, verfremdeten Stimmen und schnarrenden Falsett-Einlagen. Diesen „Tenor-Sound“ kann der Musiker selbst inzwischen nur noch schwer einordnen. „Ich mache eben mal dies, mal jenes, auch Filmmusik.“

Tenor schiebt sich eine Handvoll Heidelbeeren in den Mund. „Auch gut“, sagt er kauend: „Aus denen kann man prima Brot backen.“ Die Ernährungswelt der Finnen ist ja sonst eher ungesund. „Mein Hobby sind japanische Pickles“, sagt Hobbykoch Tenor. „Ich koche jeden Tag selbst – in den Supermärkten gibt es nur Müll zu kaufen.“

Neben dem Kochen bleibt aber genug Zeit für Musik. Seine neues Album „Exocosmos“ ist nun auch in Deutschland erschienen: „Eine Zusammenfassung aus meinen letzten zehn Musik-Jahren. Ein bisschen seltsam vielleicht. Mystisch irgendwie.“ Wie ein jazziger Film Noir in schrägen Reimen.

Angefangen hat Tenor alias Lassi Lehto Mitte der Achtziger als Alleinunterhalter an der Hammond-Orgel auf Hochzeiten. Mit den Shamans versucht er gleichzeitig, seinen Landsleuten Industrial Music schmackhaft zu machen. Aber die Finnen mit ihrem Hang zu Hardrock schütteln angesichts des experimentellen Krachs nur mitleidig ihre langhaarigen Köpfe. Also sucht Tenor sein Glück zunächst in Berlin, dann in New York. Tüftelt nächtelang in seinem billigen Apartment an Synthesizern und jobbt als Touristenfotograf auf dem Empire State Building. „Das war richtige Kunst. Aber die Leute haben das nicht kapiert.“ Dann kommt „Take Me Baby“. Und Nicole Willis, mit der er heute zwei Kinder hat, und die mit ihrer Band The Soul Investigators das kauzige kalte Finnland zum Epizentrum des europäischen Soul und Funk macht. Die fantastische Sängerin ist nicht nur seine Ehefrau, sondern auch der Grund, warum er wieder in Finnland lebt: „Sie hat dem amerikanischen Bildungssystem nicht getraut und wollte, dass unsere Kinder auf finnische Schulen gehen.“

Die Familie lebt in einem Mehrfamilienhaus mit verwaschener Fassade in Kontula. Nah am Flughafen, um schnell bei Gigs in Zürich, London oder New York zu sein. Denn bis heute gilt Tenor nichts im eigenen Land. „Hier könnte ich nicht überleben. Das Land ist voller Moll.“ Unbequem war Tenor aber nicht nur für finnische Rockfreunde – sondern auch für die Plattenfirmen: Als ihm etwa Ende der 90er-Jahre das digitale Geböller der Techno-Fraktion zu langweilig wird, spielt er – statt weiter minimalistische Hits zu produzieren – mit einem polnischen Orchester das Album „Out Of Nowhere“ ein, das Jimi Tenor als ernsthaften Komponisten zeigt, mit viel Gefühl für Salon-Jazz. Die Stimmen für die 60 Musiker schreibt er selbst und lässt unter anderem einen Sitar-Virtuosen nach chinesischen Tonleitern spielen, um einer „Hollywood-Idee orientalischer Musik näher zu kommen“. Ein paar Jahre später „rekomponiert“ er im Auftrag der Deutschen Grammophon Gesellschaft Stücke so illustrer Komponisten wie Erik Satie, Pierre Boulez oder Edgar Varèse. Schön, aber nicht massentauglich. Tenor zuckt mit den Schultern. „Musik ist alles, was ich kann, ich hatte nie eine andere Idee.“

Tenor stromert weiter durch den Wald, und dann endlich: Er hält einen grellgelben Pilz in die Höhe, der gefährlich aussieht, auch wenn er gut mit seiner rosafarbenen Hose kontrastiert. Kennerdiagnose: „Semmelgelber Stacheling. Er hat keine Röhrchen, sondern Lamellen.“ Tenor zückt sein Pilzmesser mit Pinselaufsatz, streicht die Erde weg, kappt dann das untere Ende. Immerhin, der erste Pilz im Korb.

Jimi Tenor hat in New York gelebt, in Berlin, London und Barcelona. Aber im Grunde ist er immer finnisch geblieben: praktisch, ironisch, mit romantischem Unterton -und eben: kauzig. Er rauscht in wehenden Gewändern über die Bühne, im Glitterfrack, begleitet von Drag-Queens oder auf einem Pferd („manche Outfits entwerfe und nähe ich selbst, zum Beispiel aus Vorhängen“). Er performt Stücke über finnische Waldgottheiten, mit einem Sound, der aus elektronischen, analogen und aus Fahrraddynamo und Walkman zusammengebastelten Instrumenten kommt. Im Sortiment hat er auch eigens geschnitzte Flöten aus Eberesche und Balafone, eine Unterart des Xylofons. „Meine eigene Version habe ich Halkofon getauft, die besteht aus Holzscheiten, die ich mit der Axt zerteile. Ein primitives Instrument, klingt aber super.“

Hier im Wald scheint Jimi Tenor aber doch eher wie der typisch wortkarge Finne mit Liebe zum Einfachen. Er sammelt Pilze, und er backt Brot. Für ihn sind das Dinge, die zum Finnischsein gehören wie die Sauna. „Unsere Religion“, sagt Tenor. „Sie ist viel wirklicher als die Kirche! Aber, oh Gott, Sauna in Deutschland, schrecklich! Man sagte mir, in Deutschland muss die Sauna ein Event sein. Hier in Finnland sitzt man einfach nur. Man wird sauber. Man entspannt. Mehr braucht man nicht.“

Szenenwechsel: Flow Festival in Helsinki, zwei Tage später. Zwischen Kraftwerk, Alicia Keys und Nick Cave steht erst Nicole Willis mit ihren Soul Investigators auf der Bühne, am nächsten Tag dann das Ehepaar als DJ-Set „Cola &Jimmu“ an den Keyboards. Er im rosafarbenen Anzug mit weißen Lack-Slippern, sie unprätentiös mit Schnürschuhen und einem langen, schlichten Kleid, das sie am Abend zuvor auch schon getragen hat: „I’m a Brooklyn girl“, singt sie, er dreht an den Knöpfen. Und immerhin: Ein paar Leute tanzen sogar. Vielleicht sind das aber auch nur die extra angereisten Fans aus dem Ausland.

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