Kritik: U2 live in Berlin – dank „Achtung Baby“ die Kurve gekriegt

U2 gelingt ein würdiger Tournee-Abschluss, auf den eine ungewisse Zukunft folgt. Es war eine harte, anstrengende Konzertreise.

„Narrativ“ ist das aktuelle Lieblingswort vieler lieber Journalistenkollegen, es hat die „Auserzählung“ von 2017 abgelöst. Kaum eine Seite, auf der das „Narrativ“ nicht vorkommt, also dürfen auch wir es ausnahmsweise verwenden: Für das Abschlusskonzert ihrer „Experience + Innocence“-Tour haben U2 das Narrativ ihrer Kindheit in Irland gegen das Narrativ ihrer zweiten, lebensrettenden Chance als Band, den Studio-Aufenthalt in Berlin 1990, ausgetauscht.

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Heißt ganz einfach: Die „Innocence“-Songs flogen aus dem Set, die „Achtung Baby“-Stücke kamen rein. Oder, noch einfacher: Aus einer sehr mittelmäßigen, vielleicht ihrer am wenigsten begeisternden Tournee seit 1980 ist am Ende noch eine gute geworden. „Zoo Station“, „The Fly“ … sie sind nun alle drin, um solche Lieder geht es.

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Gerade noch rechtzeitig also, vielleicht einmalig in der Bandhistorie, veränderten U2 ab ihrer Hamburg-Auftritte im Oktober wesentliche Erzählmomente von „Experience + Innocence“. So uneitel und konsequent wie selten begruben sie das seit 2015 wesentlich aus den zwei Alben „Songs of Innocence“ und „Songs of Experience“ bestehende Set, außerdem „Sunday Bloody Sunday“, das als Laid-Back-Version sowieso nicht funktioniert hatte.

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Ein bisschen was vom Irland-Narrativ ist im Showkonzept geblieben. Aber nur ein bisschen. Statt der Trauergedanken über die früh verstorbene Mutter Bonos („Iris“), seiner Liebe zu seiner späteren Ehefrau Ali („Song for Someone“) oder den Terror der IRA intonieren U2, wie schon beim voran gegangenen Konzert in Dublin, das große „Dirty Day“, welches letztmals vor 25 Jahren regelmäßig gespielt wurde.

Aus dem „Frauen-Block“ des Sets wurde damit quasi ein „Männer-Block“, denn Bono widmet das Lied den Vätern der Bandmitglieder. „It’s a dirty day“, sagte der strenge Senior des Sängers immer, und er hielt auch nichts von den Gesangsversuchen des jungen Paul, wie Bono bürgerlich heißt. Die starke Songzeile „Those days, days, days run away / Like horses over the hill“ stammt jedoch von einer anderen Vaterfigur – Charles Bukowski.

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Und dann kommen jene 20 Minuten, die leider nicht auf 150 Minuten gestreckt werden konnten. Der Berlin-Abschnitt. Er beginnt mit dem bekannten, faszinierenden Geräusch der wie von im Sekundentakt angeworfenen Maschinen, das nur The Edge aus seiner Gitarre herauszaubern kann. Es könnte auch ein Schnellzug sein, den er auf seinen Saiten in Bewegung schickt, oder ein Düsenjet. „Zoo Station“ und „The Fly“, man kann es nicht überbetonen,  zählen zu den beeindruckendsten 1-2-Songabfolgen der Konzertgeschichte. Die Höhepunkte der U2-Konzerte sind sie sowieso.

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Es schließt sich „Stay (Far Away, So Close!)“ an, in dessen Video Bono einst die Siegessäule bestieg, sowie „Who’s Gonna Ride Your Wild Horses?“, der zu Recht meistgefeierte Song des Abends – als undankbare fünfte „Achtung Baby“-Auskopplung ging er 1992 unter, eigentlich sollte „Horses“ damals die erste sein, sie hätte dann natürlich mehr Aufmerksamkeit bekommen. Ein Underdog, der endlich wieder Würdigung erhielt.

MacPhisto und Kashoggi

Bono verkleidet und schminkt sich. In der Rolle des Großmauls MacPhisto, einem gehörnten Clown, stellt er sich in „Acrobat“ als Gewaltherrscher dar, nennt sich Trump und Gauland oder erinnert mit seiner Drohung, Journalisten zu töten, an den Verdacht gegen den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, seine Hände bei der Ermordung Jamals Kashoggis im Spiel gehabt zu haben.

Für einen Abend, der gefilmt und womöglich als Konzertmitschnitt veröffentlicht wird, ist Bono dennoch erstaunlich ruhig, holt nicht zu längeren politischen Reden aus, und die Mottos sind ordentlich („We Don’t Agonise – we Organise, we stick together“). Außerdem erinnert er die Berliner daran, welche tollen Berliner einst in Berlin gelebt haben. Für die, die es nicht wissen, das waren, Bono ruft es aus: „Bertolt Brecht! Max Ernst! Marlene Dietrich!“, und, warum nicht, „Wim and Donata Wenders!“.

Das Ende des Konzerts, „13 (There Is A Light)“ widmet Bono dem verstorbenen Bühnendesigner Mark Fisher, der für ihre Shows „Zoo TV“ (Trabbis und Fernseher), „Popmart“ (McDonalds, Zitrone, Olive) und „360°“ (Krake) zu Recht gerühmte Bauten kreierte. Ein wirklich schöner Moment, Bono zitiert den Freund, der noch auf dem Sterbebett zu ihm gesagt haben soll, dass der Band doch eigentlich nie die futuristischen Konzepte, sondern allein die messianischen Botschaften wichtig gewesen seien: „Ein Kreuz, das ist es doch, das ihr auf der Bühne stets sehen wolltet!“ Was natürlich nicht ganz abwegig ist; bei „Pride“ positonieren sich die vier U2-Musiker an vier verschiedenen Stellen auf Podesten im Saal. Sie sind vier Achsen, die ein Kreuz bilden.

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Nun geht mit diesem Berlin-Konzert eine der schwierigsten Phasen zu Ende, schwieriger als die „Pop“-Phase von 1997. Bühnen-Unfälle, sogar Todesfälle im Band-Umfeld plagten U2 seit Tourbeginn 2015. Es folgte Bonos Zusammenprall mit einem Radfahrer, ein komplizierter Bruch, der ihn bis heute nicht mehr Gitarre spielen lässt. Danach sein viel zitierter, nie erklärter „Brush With Mortality“ – also die Erfahrung, beinahe gestorben zu sein. Wann und wie ist unklar.

In einem Interview mit der irischen „Sunday Times“ offenbarten U2, dessen erstes Mitglied im nächsten Jahr 6o wird, eine fast schon beängstigende Offenheit. Ihre Körper seien müde, sagten sie, und überhaupt glaube man, dass die Leute für erste genug hätten von ihnen. Es gebe keinerlei Pläne, keine Ideen für die Zukunft. Dieses Eingeständnis von Leere ist neu. Das heutige Konzert fand nur deshalb heute statt, weil es nachgeholt werden musste – am 1. September brachen U2 den Auftritt ab, da Bono die Stimme mittendrin versagte.

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Was bleibt?

Am Ende der Konzertreise stehen live sechs „Experience“-Songs sechs „Achtung Baby“-Songs gegenüber. Allein das demonstriert, wie U2 jetzt schon ihre aktuelle Platte relativieren. Die „Innocence“- und „Experience“-Alben sind mit der Zeit auch nicht gewachsen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Stücke in Zukunft dasselbe Schicksal wie „No Line On The Horizon“ ereilen – nichts davon wird mehr gespielt. Die zunehmenden Bezüge auf die Berlin-Ära jedenfalls spiegeln die Sehnsucht nach gefeierter Neuorientierung wider. Es war damals wohl ihre schwerste wie schönste Zeit, sie kamen verändert aus Deutschland zurück.

Das Konzept der zwei Bühnen, eine große am Rand („Unschuld“), eine kleine Partybühne in der Mitte („Erfahrung“), führte nun zwar zu abwechslungsreichen Momenten unterschiedlich großer Nähe zur Band. Als Darstellung einer Entwicklung (einem Narrativ!) aber funktionierte das nie: „New Years Day“ ist von 1983, wurde vor drei Jahren der „Erfahrung“-Bühne zugeschrieben, „One“ ist dagegen von 1991 und landete auf der „Unschuld“-Bühne, usw. Vielleicht folgen U2 aber auch nur dem Theologen David Bentley Hart, den sie auf einer Leinwand-Einspielung zitieren, und der auf die Notwendigkeit pocht, die Anfänge wiederzuentdecken, auch am Ende des Lebens: „Wisdom is the recovery of innocence at the far end of experience.“

Wann kommen U2 zurück? Bono hat wohl erkannt, dass Songs viel mehr sagen können als Worte. Die aus der Konserve abgespielte Musik vor Konzertbeginn scheint eigens für den Tourabschluss zusammengestellt worden zu sein.

Wir hören „The End“ von Kings of Leon. „The Final Countdown“ von Europe, uncoole Nummer, aber dem Abend angemessen. „Don’t Dream It’s Over“ von Crowded House (oha!). Dann das gehässige „Sha Na Na Na Kiss Him Goodbye“ der Dave Clark Five. Treten U2 sich selbst in den Hintern, auf Nimmerwiedersehen?

Nun, die Beatles kommen auch zu Wort: „You say goodbye … and I say hello.“

David Wolff - Patrick Redferns
David Wolff - Patrick Redferns
Simone Joyner Getty Images
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