Let’s Dance

Daß sie den Zug der Zeit nicht verpassen wollten, hatte bereits ihr letztes Album dokumentiert. Mit "Pop" heften sich U2 nun noch radikaler an die Fersen des Zeitgeists. Und was, wenn der Gang in die Disco eine existenzielle Gratwanderung wird?

Der Bursche mit dem Dr.-Fu-Man-Chu-Bart wühlt sich mit wachsender Unruhe durch die Massen von Cassetten, die wild verstreut auf dem Fußboden liegen. „Ich find das verdammte Ding einfach nicht“, flucht The Edge – als ihm der Zigarillo- qualmende Freund vom Sofa aus gönnerhaft einen Tip gibt: „Guck doch mal, was da oben auf dem Recorder liegt“, grinst ein hämischer Bono. Und während der Frustrierte das Fundstück einlegt, bittet sein Partner, nun gut zuzuhören. „Bin neugierig, was Du davon hältst.“

Eine ungewöhnliche Hörprobe mit U2 in der Dubliner „Factory“, einer zum Tonstudio umgebauten Fabrikhalle am River Liffey. Anders als der prototypische Megastar, der seine unveröffentlichten Aufnahmen wie den Goldschatz von Fort Knox hütet, erweisen sich ausgerechnet die als Kontrollettis verschrieenen Iren als Datenschutz-Dödel. Es beunruhigt sie offensichtlich nicht im Geringsten, daß da Cassetten mit hochbrisantem Inhalt achtlos auf dem Boden liegen.

„Gut möglich, daß sich der Track rückblickend ab Grütze herausstellt; unmittelbar nach einer Aufnahme bin ich mir da nie so sicher“, sagt Bono. Die Zweifel sind unbegründet: Was aus den Boxen dröhnt, klingt keineswegs wie Grütze: Untermalt von einem sperrigen Gitarren-Inferno, beginnt der Mann, dem früher die besten Ideen beim Studium der Bibel kamen, ein Zwiegespräch mit seinem Meister: Jesus, I know you’re looking out for us.“

Sichtlich bewegt, drückt er den Zigarillo aus. „Ich kenne Edge nun schon so lange“, murmelt er, „aber manchmal ist er mir noch immer unheimlich. Wenn ich diese abgedrehten Riffs höre, habe ich nicht den Hauch einer Ahnung, auf welchem Trip er da ist.“

Eine Begegnung, die zwei Jahre zurückliegt, aber immer noch von Bedeutung ist. Was, zum Teufel, war der Grund, daß die Band diesen exzellenten Track nicht auf ihr „Zooropa „-Album gepackt haben, sondern erst jetzt veröffentlichen. „Wake Up Dead Man“ wird, glaubt man ihrer Plattenfirma, auf dem neuen Album „Pop“ zu hören sein, das nach etlichen Verzögerungen am 3. März erscheinen soll.

Im Internet waren dieser Song und die Single „Discotheque“ bereits im Dezember auszugsweise zu hören. Ein Mißgeschick – so Island Records in London. Ein ungarischer Fan, so heißt es, sei in den Besitz eines Videos mit diesen beiden Songs gekommen und habe je 30 Sekunden lange Auszüge ins Internet geladen. Wie er in den Besitz der raren Ware gekommen sei, konnten selbst renommierte Nachrichtenmagazine wie „Time“ nicht schlüssig erklären. Island indes versichert, es handele sich keineswegs um einen Promotion-Gag. Was die betroffene Plattenfirma allerdings 1991 schon einmal verlautbaren ließ, als auf höchst dubiose Weise unfertige Aufnahmen der „AchtungBaby“-Sessions auf dem Schwarzmarkt auftauchten. Die Meldungen über den „spektakulären“ Diebstahl brachten dem kurz darauf erscheinenden Album reichlich vorab Publicity.

Der gleiche Verdacht liegt auch diesmal nahe: Seit Mitte Januar kann man sich sowohl „Discotheque“ als auch das zugehörige Video in voller Länge und Top-Qualität aus dem Internet runterladen (http://www.owt.com/users/pleeker/U2Disco.html). Honi soit qui mal y pense.

Daß Single und Video bereits Wochen vor der offiziellen Veröffentlichung am 10. Februar von MTV und ausgesuchten Radiostationen vorgestellt wurden, ist hingegen keine verdeckte Marketing-Aktion: Appetizer, die man noch nicht kaufen kann, entfachen erfahrungsgemäß Heißhunger auf das Hauptgericht. Bereits 1993 ließen U2 die angekündigte Single „Numb“ vorab in Funk und Fernsehen abspielen, lange bevor sie auf CD erhältlich war. Die PR- Beschallung wirkte: „Zooropa“ stieg auf Platz 1 der deutschen Charts ein.

Man mag über diese Salami-Taktik des U2-Managers Paul McGuinness denken, was man will – das Warten hat sich eigentlich noch immer gelohnt. Nachdem sie die Fans der ersten Stunde schon mit den Sound- Collagen des „Passengers „-Projekts (1995) arg irritiert hatten, schlagen sie auch diesmal einen stilistischen Haken und begeben sich mit „Discotheque“ auf den Dancefloor. Wieder einmal haben U2 die Zeichen der Zeh erkannt. So verschmelzen sie diesmal den Disco-Beat der Siebziger mit TripHop und der Dancefloor-Hipness der Neunziger – und erden das Ganze mit krachenden Akkorden. Die Wandlung vom Politrocker zum postmodernen Zyniker haben sie schon Vorjahren vollzogen; inzwischen sind sie Meister im Spiel ohne Grenzen und machen da weiter, wo sie mit „The Fly“ und „Babyface“ aufgehört haben.

Während sich etwa Simple Minds, Depeche Mode und andere Mega- Bands der 80er Jahre beharrlich an den Sound klammern, der ihnen früher volle Stadien garantierte, gehen U2 in ihrer Entwicklung kontinuierlich weiter. Und weil Bono seinem Idol David Bowie so konsequent nacheifert, ständig mit visuellen Metamorphosen überrascht – und die gesamte Band keine Scheu vor Experimenten hat, sind U2 inzwischen die einzige bedeutende Gruppe, die ihren früheren Stellenwert in die Neunziger hinübergerettet hat „Es macht Spaß, die Leute immer wieder zu verunsichern und auch zu überraschen. Der Vorwurf, wir würden Verrat an unseren Idealen begehen, ist Quatsch“, sagt Bono, „und unsere Fans sind ohnehin viel toleranter, als für gewöhnlich angenommen wird.“

Wohl wahr. In den vergangenen 18 Jahren haben sie verfolgen können, wie Bono den Prediger, den Cowboy, den Blues- Brother oder den Leder-Beau in „The Fly“ mimte und uns zuletzt als MacPhisto erschien. Ihre konservativeren Anhänger verweigerten zwar daraufhin die Gefolgschaft – U2-Alben wurden aber trotzdem millionenfach gekauft. „Ich will von nun an die glamourösen Aspekte des Rock’n’Roll zelebrieren“, sprach Bono – und hielt bis heute Wort.

1997 haben U2 mehr Spaß denn je. Im Video zu „Discotheque“ nehmen sie sich selbst auf den Arm und mimen die Village People für Arme. Ein Käfig voller Narren – der Gitarrist als Sado-Maso-Kerl der Sänger als stimmgewaltiger New York Cop, der sich wie weiland Donna Summer dem simulierten Orgasmus entgegenkiekst. „Sag nichts gegen Donna Summer“, flachst Edge, „die Disco- Musik der 70er Jahre ist besser als ihr Ruf; die klang bei weitem nicht so steril wie vieles, was heute unter dem Etikett Dancefloor verkauft wird. Uns interessieren die Schnittstellen zwischen den Stilen. Aber diejenigen, die Rockmusik mit Gitarre gleichsetzen, haben scheinbar völlig vergessen, daß der Rock’n’Roll mal als Tanzmusik begonnen hat. Wenn ich die nötige Zeit habe, gehe ich liebend gerne zum Abtanzen in die Clubs. Rhythmus ist einfach sexy.“ Während junge Wilde wie die Smashing Pumpkins neuerdings tönen, der klassische Gitarren-Rock habe keine Zukunft, stellen U2 die Gitarren in einen anderen Kontext. „In der Rave-Kultur hat der Song ja längst abgedankt; der Groove ist das einzige, was heute zählt Dieser Approach hat sich längst als eigenständige Alternative zum klassischen Popsong etabliert“, weiß Edge. „Die Entwicklungen in der Dancefloor- Szene sind wichtig und ungemein inspirierend. Aber der Song wird dennoch überleben, weil nun mal nur er Inhalte transportiert. U2 können inzwischen hervorragend auf beiden Hochzeiten tanzen.“

Salman Rushdie geht sogar noch einen Schritt weiter. Er ist davon überzeugt, daß U2 eine Ausnahme-Stellung unter den heutigen Rock- Bands einnehmen. Rushdie hat U2 oft getroffen und gehört inzwischen zum Freundeskreis der Band. Daß islamische Fundamentalisten die Todesdrohung gegen den Autoren der „Satanischen Verse“ nach wie vor aufrechterhalten, hat den musikbegeisterten Rushdie nicht davon abhalten können, sich auf der Bühne mit U2 zu zeigen oder als Musik-Journalist für den „Guardian“ etwa über die Voodoo Lounge-Tour der Rolling Stones zu schreiben. „Eigentlich muß sich jeder Rock- Fan irgendwann einmal entscheiden, ob er ein Beatles- oder ein Stones-Fan ist“, behauptet Salman Rushdie. „U2 allerdings sind eine ganz besondere Band, weil sie diese beiden extremen Pole in ihrer Musik wieder vereinen.“ Welch extremen Pole sie jedoch auf der„Pop“-LP vereinen, das wird den Medien bis dato noch nicht verraten. Der deutsche Session-Gitarrist Carl Carlton aber, seit anderthalb Jahren in Dublin beheimatet und Nachbar von Regisseur Neil Jordan und The Edge, durfte schon mal vorhören. Carlton, der für Maffay, Lindenberg, Niedecken und seit neustem auch für Robert Palmer tätig ist, probt derzeit mit den Kollegen Bertram Engel und Jean Jacques Kravetz für eine Australien-Tour mit dem Ex- Cold-Chisel-Sänger Jimmy Barnes in den Dubliner Factory-Studios. Als ihn Regisseur Jordan zu einem Glas Rotwein einlud, kam überraschend auch The Edge vorbei und spielte einige neue Tracks vor. Carlton ist äußerst angetan: »Die neuen Songs klingen viel rauher als die auf den letzten LPs. Die Grooves erinnern an Led Zeppelin, aber auch der Dancefloor- Einfluß, vor allem von Bands wie The Prodigy, ist unüberhörbar. Nur daß die Rhythmen hier erstaunlich organisch klingen. Da wurde offenbar vieles von Hand eingespielt.“

Momentan zerbricht man sich in Dublin den Kopf, wie sich das Multi- Media-Spektakel der „Zoo-TV-Tour auf der neuen Welt-Rundreise noch überbieten läßt. Carlton: „Nach einigen Gläsern Rotwein haben Edge und Jordan die Möglichleiten diskutiert, die Band als Hologramm in die Mitte des Auditoriums zu projizieren, statt wie bisher nur Videowände einzusetzen. Aber das wird wohl noch Zukunftsvision bleiben.“ Die neue U2-Tournee soll im April in Las Vegas beginnen, Deutschland und das übrige Europa stehen im Sommer auf dem Open-Air-Plan. Branchenkenner munkeln, daß die „Zoo- TV“-Tour wegen der extremen Kosten zu wenig Geld in die Band-Kassen fließen ließ. Deshalb soll diesmal ein Sponsor vor den U2-Karren gespannt werden. Ob VW der Partner sein wird, ist noch ungewiß. Wie es heißt, können sich die bislang eher Sponsor-feindlichen Iren nicht mit dem Gedanken anfreunden, ihren Bandnamen auf einem neuen Golf-Sondermodell prangen zu sehen. Auch die Realisation eines Techno- Parks, der die Konzert- Zuschauer zu multimedialen Spielen animieren soll, steht bislang noch in den Sternen. Aber soviel dürfte sicher sein: Bei den Verhandlungen mit Rock’n’Roll-interessierten Industriellen wird sich U2- Manager Paul McGuinness nicht über den Tisch ziehen lassen. Der in Rinteln bei Hannover geborene Sohn eines Piloten der Royal Air Force gilt als einer der knallhartesten Verhandlungspartner der Branche. „Rockn’RoIl hat mit Verrückheit und Freiheit zu tun, ich sorge dafür, daß meine Jungs sie haben und halte ihnen Ärger vom Hals“, sagt der Mann, der Konzert-Promotern stets in eleganten Anzügen und Krawatten gegenüber tritt.

Der amerikanische Journalist Bill Flanagan, Autor des lesenswertesten Buchs über die Band („U2 at die End of the world“ /Bantam Press, London 1995) kennt noch einen weiteren Grund für den immensen Erfolg des U2-Managments: In dessen Büros in New York und Dublin haben neben McGuinness fast nur Frauen das Sagen. „Wenn du die ganze Zeit mit vier oder fünf Männern auf Achse bist, und dir ständig diese Macho- Sprüche anhören mußt, dann bilden Frauen im Team ein gutes Gegengewicht“, sagt McGuinnes. „Die Frauen werden auch in dieser Branche immer noch unterschätzt, und das ist dumm von den Männern. Wir sind aber nicht so dumm.“

An einem Septemberabend sitzt U2-Pressesprecherin Regine Moylett mit Bono im Auditorium des Parco Novi Sad in Modena/Italien. Auf der Bühne müht sich Luciano Pavarotti, Simon Le Bon dem hohen C näher zu bringen. Später werden Bono, The Edge und Brian Eno mit dem schwergewichtigen Tenor „Miss Sarajevo“ für dessen alljährliches Benefiz- Spektakel „Pavarotti And Friends“ proben. Doch im Moment ist Bono noch Zuschauer. Grinsend streicht er sich über seine streichholzkurzen Haare: „Die Schwester von Edge hat sie mir geschnitten, besser gesagt: geschoren. Aber hey, ich bin kein Junge mehr, ich bin ein Mann.“

Ein Mann, der sich immer wieder gerne verkleidet und in ruhigen Momenten wie diesen über sein Bild in der Öffentlichkeit sinniert. „Es ist oft sehr eigenartig, wenn ich etwas über mich in der Zeitung lese, denn in den meisten Artikeln erkenne ich mich nicht wieder“, sagt er und steckt sich ein neues Zigarillo an, „manchmal frage ich mich wirklich, über wen die da schreiben. Wer ist denn diese Person, von der sie alle glauben, sie sei ich?“ Ist er „enthemmter Narzißt“ („stern“), ein „hellwacher Analytiker der popmusikalischen Traumwelt“ („FAZ“) oder doch nur ein „hochbegabter PR-Stratege“ („Spiegel“)? Fragen über Fragen.

Bono wird sie an diesem Abend nicht beantworten. Jahrelang haben sich Leute, die meist wenig oder gar nichts von unserer Musik verstanden, immer neue Schablonen für uns ausgedacht, wir haben ihnen vielleicht zugearbeitet, wer weiß. Jetzt kreieren wir unsere eigenen Cartoons und haben einen Mordsspaß dabei“, sagt er, „das wichtigste ist immer noch die Musik. Ich wehre mich dagegen, mich zu einem eindimensionalen Charakter reduzieren zu lassen. Gen Ende der „Zooropa“-Tour hat mich der Rummel um MacPhisto richtig genervt“ Nein, er will er sich keine Hörner mehr aufsetzen lassen. Schon gar nicht heute Abend, heute singt er für einen besonderen Zuhörer. „Ich habe Pavarotti nur zugesagt, weil ich endlich mal Dad beeindrucken wollte. All die Jahre mit U2 haben ihn nicht sonderlich beeindruckt, aber jetzt ist er ziemlich stolz auf mich.“

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