Lou Reed

Es war irgendwann mitte der siebziger, als patti smith ihr konzert im New Yorker CBGB mit einem Lou-Reed-Song beendete. Doch mitten in „We’re Gonna Have A Real Good Time Together“ schlug die Band plötzlich einen Haken und ging nahtlos zur alten Mitgrölhymne „Louie, Louie“ über. Als sie von der Bühne kam, stolperte Smith fast über Reed, der hinter der Bühne an einer Wand lehnte. Smith, die ihn seit Jahren bewunderte und auch privat kannte, sagte hallo. Reed reagierte kühl. „Ich habe das genau mitbekommen“, sagte er. „Gab’s einen Grund dafür?““Ich sagte:,Respekt'“, erinnert sich Smith, die Velvet Underground 1970 noch live gesehen hatte. Sie erzählt mir die Geschichte einen Tag nach Reeds Tod, der am 27. Oktober an einem Leber-Versagen verstarb. „Er schaute mich an und sagte dann nur:,Okay.‘ Das war’s. Alles in Ordnung.“ Sie lacht. „Ich glaube, dass er stillheimlich über unser Doppelpack schmunzeln musste. Unsere Absicht war auch nur die beste.“ Aber trotzdem:“Er wollte der Sache auf den Grund gehen.“

Reed, der sich im April einer Lebertransplantation unterzogen hatte, starb in seinem Haus in Amagansett/New York -nach einem halben Jahrhundert, das mit Komponieren, Aufnehmen und Touren prall gefüllt war: zum Ende der Sechziger zunächst mit Velvet Underground (die mit ihrer Mischung aus avantgardistischer Radikalität und Reeds entwaffnend ehrlichen Songs vermutlich die visionärste Band des ganzen Jahrzehnts waren), dann mit mehr als zwei Dutzend provokanter Soloalben, die bereits in den Siebzigern alle nur erdenklichen Extreme erforschten: 1972 die Glamrock-Explosion mit „Transformer“, 1973 die bedrückende Mini-Oper „Berlin“, 1974 der muskulöse Arena-Rock von „Rock’n’Roll Animal“, 1975 die Feedback-Orgie „Metal Music Machine“ – und schließlich „Coney Island Baby“, ein Song-Zyklus über eine einsame, schwierige Jugend, musikalisch geprägt von Reeds Liebe für die populären R&B-Harmonien der 50er-Jahre.

Es war eine Lebensspanne, in der Reed die natürlichen Grenzen des Rocksongs auslotete und infrage stellte -mit akustischen Dissonanzen und textlicher Krassheit, aber auch mit hemmungsloser Sensibilität und Verletzlichkeit. Als er die Syracuse University mit einem Bachelor in Englisch verließ, lieferten ihm zeitgenössische Autoren wie Hubert Selby Jr. und William S. Burroughs erste Wegmarken. Reed kombinierte die emotionale Spontaneität von Rockabilly, Doo Wop und Motown mit kompromisslosen Erkundungen sexueller Tabus, psychischer Deformationen und den Folgen unkontrollierten Drogenkonsums: zuerst in so radikal andersartigen Songs wie „Heroin“,“I’m Waiting For The Man“ und „White Light/White Heat“, 1973 dann mit „Walk On The Wild Side“, seiner stilvollen Expedition ins Herz des sexuellen Zwielichts, oder aber der nackten Ehrlichkeit seiner Sex, Tod & Großstadt-Saga „Street Hassle“ aus dem Jahr 1978.

„Das ist nun mal der Vorteil der Rockmusik“, sagte er mir 1987 bei einem der vielen Interviews, die ich im Lauf von 30 Jahren mit ihm führte. „Sie dringt direkt und ungefiltert zu einem durch. Man muss nicht erst ins Kino gehen, sondern hört diese Musik zu Hause – allein, vielleicht morgens um fünf.“

Als wir uns bei anderer Gelegenheit einmal über die Kunst des Songschreibens unterhielten, sagte er Folgendes: „Wichtig war mir, dass die Musik sich den Worten anpassen musste. Waren die Worte beunruhigend, musste es auch die Musik sein. Waren die Worte deprimierend, musste die Musik noch deprimierender sein. Nun könnte man sich fragen:,Warum sollte jemand Musik kaufen, um sich dann in Verzweiflung zu suhlen?'“ Reed setzte zu seiner Version eines Lächelns an, das eher einem spöttischen Grinsen glich. „Nun, ich hatte den Eindruck, dass es da draußen so etwas wie Einsamkeit gab – und dass ich nicht der Einzige war, der dieses Gefühl hatte.“

Reed war „ein lebender Widerspruch“, glaubt Bono, seit „Transformer“ ein Fan und seit Mitte der Achtziger auch ein persönlicher Freund. „Er fing damit an, diesen Widerspruch immer weiter zu spreizen und auszureizen – bis er irgendwann an den Punkt kam, etwas unglaublich Schlichtes und Schönes sagen zu können. Und dann musste er nur noch einen akustischen Rahmen finden, der dieser Schönheit entsprach. Lou war der Meister dieser dunklen Schönheit.“

Popstar-Ruhm war Reed nur in kleinen Dosen vergönnt. „Walk On The Wild Side“ (von seinem frühen Verehrer David Bowie für „Transformer“ produziert) sollte seine einzige Top-20-Single bleiben – und ein Gold-Album bekam er nur einmal: 1989 für „New York“, die Liebeserklärung an seine Heimat. Sein Gesang – eher ein trockener, monotoner Sprechgesang, der sowohl Zärtlichkeit wie auch kalten Zorn transportierte – war selbst für Dylan-Fans zu spröde. „Es war die Stimme eines Singer/Songwriters“, so Bono, „und sie gab ihm eine ungeheure Intimität.“

Die Präsenz dieser kühlen Intimität, gekoppelt mit der rohen Gewalt seiner Gitarre, war in den vergangenen 40 Jahren aus der Rockmusik nicht wegzudenken. Ob es nun Glitter war oder Punk oder jede nur erdenkliche Variante von Alternative Rock, ob er von Kollegen oder Eleven wie Bowie, den Stooges, The Smiths, R.E.M., Nirvana oder Jack White kopiert und nachempfunden wurde: Reed kam durch keine Moden aus der Mode -und hatte auch selbst an seinen Qualitäten keine Zweifel. „My week beats your year“ („Meine Woche ist mehr wert als dein Jahr“), schrieb er in den Liner Notes zu „Metal Machine Music“ – und machte auf dem ’78er-Live-Album „Take No Prisoners“ vollmundig die Rock-Kritiker an: „Fuck you! I don’t need you to tell me I’m good.“

Erst im August, bei unserem letzten Interview, beschrieb er den Feedback-Klassiker „White Light/White Heat“ von 1968 als „die Freiheitsstatue des Punk – komplett mit dem Lichtstrahl im Kopf“. Er beklagte sich, dass das Album damals so wenig Hochachtung erfahren habe (es war zwei Wochen auf Platz 199 der Billboard-Charts.) „Niemand hörte es sich überhaupt an – aber da ist es nun, wie aus Stein gemeißelt. Und niemand wagt sich auch nur in seine Nähe.“

Bei einem Gespräch 2008 sah er das Ausbleiben des kommerziellen Erfolgs etwas entspannter. „Für den Mega-Erfolg war ich wohl nie gemacht“, räumte er ein. „Ich war immer ein Außenseiter und bin’s noch heute. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum ich überhaupt überlebt habe.“

„Er war für den Rock’n’Roll, was Miles Davis für den Jazz war“, meint Produzent Hal Willner, der Mitte der Achtziger erstmals mit Reed arbeitete und danach ein enger Vertrauter blieb. „Er war der Mann, der die Musikszene gleich mehrfach umkrempelte. Was immer er zu einem gewissen Zeitpunkt empfand, setzte er auch in Musik um.“ Zu den Alben, die Willner im letzten Jahrzehnt mit Reed produzierte, gehören „Ecstasy“ von 2000 (eine Meditation über Beziehung und Ehe), das Konzeptalbum „The Raven“, basierend auf Texten von Edgar Allan Poe, einem von Reeds literarischen Favoriten, und das kontroverse „Lulu“, das er 2011 zusammen mit Metallica aufnahm. „Er interessierte sich durchaus dafür, was andere Leute dachten“, so Willner. „Ja, er hatte ein ausgeprägtes Interesse. Was aber keinen Einfluss auf das hatte, was er letztlich tat.“

Reed „liebte es, seine Themen im Mainstream zu finden“, glaubt Patti-Smith-Gitarrist Lenny Kaye, der in seinen Tagen als Rockjournalist auch über Reed und die Velvets schrieb. „Für ihn war das provokativ -nicht minder provokativ, als etwas völlig Ausgeflipptes zu machen. Dieses Faible für Doo-Wop-Harmonien beispielsweise und für den ganzen Romantizismus, der sich damit verband – das war ein wichtiger Bestandteil von Lou. Aber er liebte es auch, Leute herauszufordern und auf die Folter zu spannen – zu sehen, wie weit er gehen konnte, wie weit er sie aus der Reserve locken konnte.“

Im Gespräch – und vor allen bei offiziellen Interviews – konnte Reed so barsch und grimmig sein wie in seinen Songs. Er behandelte Journalisten wie Kontrahenten und fertigte sie oft mit einsilbigen Antworten ab. Oder warf ihnen vor, sich nicht hinreichend auf das Interview vorbereitet zu haben. Fragen privater Natur bügelte er grundsätzlich ab. „Niemand hätte das überlebt“, knurrte er 1980, als man ihn wieder einmal auf seinen vermeintlich immensen Konsum von Heroin und Amphetaminen ansprach. Ende der Achtziger hatte sich Reed auch vom Alkohol losgesagt – und war in seiner Nüchternheit so rigoros wie in seiner Arbeit. Tai Chi, der chinesische Kampfsport, war dabei nur ein Teil seines konsequenten Fitness-Programms.

„Wenn ich wissen wollte, an welchem Punkt in meinem Leben ich mich gerade befand, musste ich mir nur die jeweilige Album-Veröffentlichung anschauen“, sagte er einmal. „Man sagt, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. In meinem Fall ist es eine Aufnahme, die nicht weit von mir entfernt ist.“ Das nervenzersetzende „Sister Ray“ von „White Light/White Heat“ etwa wurde nach einem Transvestiten benannt, den Reed und John Cale in Harlem kennengelernt hatten. Am Ende von „Coney Island Baby“ widmet er den Song „Lou and Rachel“ – eine Referenz an eine andere Drag Queen namens Rachel, mit der Reed in den Siebzigern zusammenlebte.

„Faulkner hatte die Südstaaten, Joyce hatte Dublin“, sagte Reed einmal über seine Faszination für New York und seine zwielichtigen Sonderlinge. „Drogen, Gewalt, New York – diese ganze Kiste. Ich hatte das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und in diesen Warhol-Clan zu geraten. (Andy Warhol fungierte Mitte der Sechziger bekanntlich als Mentor und Manager von Velvet Underground.) Was für eine Konstellation.“

„Als Mann war er nicht gerade einfach gestrickt“, meint Patti Smith. „Ich kann mich erinnern, dass wir“ – sie wägt die Worte sorgsam ab – „durchaus Streitereien hatten. Aber dann schaue ich mir Fotos von uns beiden im CBGB an, wo wir so unglaublich vertraut miteinander reden. Ich trete einen Schritt zurück und erinnere mich an all die Gelegenheiten, bei denen er so unbeschreiblich herzlich und hilfreich war -oder vielleicht auch nur melancholisch. Ich habe ähnliche Männer wie ihn kennengelernt. Ihre innere Schönheit, ihre Schwermut ist so rückhaltlos, dass sie sich hinter einer Maske verstecken müssen.“

Sie nennt „Walk On The Wild Side“, seine liebevolle Revue der Warhol’schen Freaks, als ein treffendes Beispiel für seine tief empfundene Humanität. „Man muss schon eine poetische Ader haben, um diese Leute dichterisch zu überhöhen“, sagt sie. Reed sei oft „ein harter Hund“ gewesen, aber gleichzeitig „so unendlich mitfühlend und verständnisvoll – gerade was diese Outcasts betraf, die alle ihre psychischen Blessuren hatten. Er stellte diese Leute auf ein Podest und behauptete: ,Sie haben eine Eleganz und Schönheit, die wir nie erfahren werden – die Könige und Königinnen der Straße.'“

Lewis Allen Reed wurde am 2. März 1942 in Brooklyn geboren, das erste von zwei Kindern. Als er elf war, siedelte Vater Sidney, ein Steuerbuchhalter, die Familie nach Freeport auf Long Island um. Lou durchlebte eine problematische Kindheit. Er war anfällig für extreme Stimmungsschwankungen und lag mit seinen Eltern im Clinch, die in ihrem Sohn vermeintlich bedenkliche Anzeichen von Homosexualität zu entdecken glaubten. Zweimal schickten sie ihn ins Creedmoor State Psychiatric Hospital in Queens, wo man ihn einer Elektroschock-Therapie unterzog -eine Erfahrung, die er 1974 in dem verbitterten „Kill Your Sons“ (auf „Sally Can’t Dance“) verarbeitete.

Kurz vor seinem Tod erzählte Reed dem Künstler und Filmemacher Julian Schnabel eine Anekdote aus seiner Kindheit: „Er stand mit seinem Vater zusammen“, so Schnabel, „und streckte seine Hand zum Vater aus. Doch sein Vater gab ihm eine Klatsche. Er ist darüber nie hinweggekommen. Die Grausamkeit dieser Erfahrung traf ihn tief.“

Musik war seine Rettung. Als er 1989 Dion in die „Rock And Roll Hall Of Fame“ einführte, erinnerte sich Reed in seiner Rede daran, dass er im Radio Doo-Wop-Gruppen wie die Paragons und Diablos gehört habe, während er sich in seine Geometrie-Bücher vertiefte. Er war bereits frühzeitig als Musiker aktiv und sang und spielte 1958 auf einer Single der Doo-Wop-Gruppe The Jades. Reeds spätere Aufnahmen wimmelten nur so von Referenzen und Querverweisen zu klassischem Soul, Fifties-Rock und mehrstimmigen R&B-Platten, die sein seelisches Gleichgewicht halbwegs wiederherstellten. (Sterling Morrison behauptete einmal, dass die flauschigen Harmonien von „I Found A Reason“ – auf „Loaded“ – von der ’58er-Single „Chanson D’Amour“ von Art & Dotty Todd stammen würden. „Lou kannte den Song – und der Einsatz der Harmonien ist absolut identisch.“)

Auf dem College verfolgte Reed parallel zwei Interessen: Free-Jazz – ein Einfluss, der sich auf seine Gitarrenarbeit bei den Velvets niederschlagen sollte -und Moderne Literatur. Einem seiner Lehrer, dem brillanten Dichter (und Alkoholiker) Delmore Schwartz, fühlte er sich besonders verbunden. „The Day John Kennedy Died“ von seinem introspektiven Meisterwerk „Blue Mask“ ist in einer Uni-Bar angesiedelt, in der sich Reed und Schwartz oft trafen – „er redete, und ich hörte zu“, wie Reed später einmal erzählte.

„Ich wollte unbedingt einen Roman schreiben“, gestand er 1987, „und gleichzeitig spielte ich in Rock’n’Roll-Bands. Man brauchte nicht übermäßig viel Fantasie, um zu sagen:,Hm, warum bringst du die beiden Sachen eigentlich nicht unter einen Hut?'“ Und schon arbeitete er an frühen Versionen von „Heroin“ und „I’m Waiting For The Man“ – eine radikale Anwendung erwachsener Themen auf eine Form, die bislang, wie Lenny Kaye es ausdrückte, „entschieden pubertär war“.

Nach seinem College-Abschluss bekam Reed einen Job als Songschreiber bei der Plattenfirma Pickwick in Queens. Seine Aufgabe bestand darin, ein paar Songs für Billig-LPs zusammenzuklopfen, die dann in Supermärkten verhökert wurden. Als Reed eine Band zusammentrommeln wollte, um „The Ostrich“ zu promoten (eine ’64er-Single über einen fiktiven Modetanz), empfahl ihm ein Freund, John Cale zu kontaktieren – einen Komponisten aus Wales, der in der New Yorker Fluxus-Bewegung aktiv war und ein Faible für alles Minimalistische hatte. Im Herbst ’65 hatten Reed, Sterling Morrison (ein Klassenkamerad aus Syracuse) und Cale ihr erstes Demo als Velvet Underground aufgenommen. Gleichzeitig lieferten sie in verschiedenen Konstellationen – unter anderem auch mit Percussionist Angus MacLise – Live-Musik zu experimentellen Filmen.

„Lou war interessiert, Einblicke in die Avantgarde-Szene zu bekommen“, erzählte mir Cale im Sommer dieses Jahres. „Aber gleichzeitig gab’s da auch diese Konkurrenz zu Dylan: Man verfolgte genau, was er machte und wie er sich in den Köpfen des Publikums einnistete. Wir glaubten jedenfalls, dass wir das auch könnten.“

Die Kombination aus peniblem Handwerk und totaler Freiheit, oft mit ohrenbetäubender Lautstärke umgesetzt -das war das bleibende Geschenk, das Velvet Underground der Rockmusik machen sollten. Maureen Tucker, die MacLise noch rechtzeitig vor ihrem ersten bezahlten Gig ersetzte (im Dezember ’65 in einer Highschool in New Jersey), liebte Reeds Gitarre, vor allem sein kreischendes Feedback. „Es war frappierend, wie er aus dem Feedback ein Solo konstruieren konnte.“ In vielen Nächten war es so laut, „dass ich außer seiner Gitarre nichts hören könnte. Ich beobachtete seinen Mund, um eine Ahnung zu bekommen, an welcher Stelle im Song er sich gerade befand – besonders wenn er bei ,Heroin‘ zu der Stelle ,And I guess I just don’t know‘ kam. Das war nämlich das Zeichen, dass ich mit dem Trommeln aufhören musste.“

„Wenn’s funktioniert, könnte es wirklich bezaubernd werden“, sagte Andy Warhol zu einer lokalen New Yorker Fernsehstation, als er im Februar 1966 die Zusammenarbeit mit der Band bekannt gab -nur wenige Wochen nach ihrem Auftritt im Café Bizarre, wo er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Warhol schneiderte ihnen umgehend ein Multimedia-Paket auf den Leib – das „Exploding Plastic Inevitable“ -, zu dem auch das deutsche Model Nico als Gastsängerin und eisblonder Blickfang zählte. Er finanzierte sogar ihre erste Studiosessions, ohne überhaupt nach einer interessierten Plattenfirma gesucht zu haben. Das historische Resultat -„The Velvet Underground & Nico“ – war wohl das erste echte Indie-Rock-Album aller Zeiten.

„Andy machte unsere Existenz überhaupt erst möglich“, sagte mir Reed in diesem Sommer. (Cale und Reed revanchierten sich 1990 für die Großzügigkeit, als sie Warhol nach seinem Tod auf „Songs For Drella“ verewigten.) Warhol hatte Reed ständig gedrängt, sein Talent auch zu nutzen und von billigen Kompromissen Abstand zu nehmen. „Andy sagte immer, dass ich unglaublich faul sei. Wobei er selbst natürlich 24 Stunden pro Tag am Rotieren war. Selbst wenn er mit uns auf eine Party ging, machte er immer noch Fotos oder Aufnahmen mit seinem Bandgerät.“ Immerhin muss die Anregung bei Reed auf fruchtbaren Boden gefallen sein: Allein zwischen 1972 und 1980 veröffentlichte er 13 Studio- und Live-Alben.

Dass die frühen Velvets kommerziell nicht gerade offene Türen einrannten, habe Reed keineswegs frustriert – behauptet jedenfalls Tucker. „Die öffentliche Ablehnung wurde aufgehoben durch die Zustimmung ganz normaler Leute, die keine Kritiker waren. Sie liebten uns und kamen zu unseren Shows.“ Mitte 1968 hatten sich die kreativen Spannungen zwischen Reed und Cale allerdings so weit verschärft, dass konstruktives Arbeiten nicht mehr möglich war. Cale, der die Gruppe mit aus der Taufe gehoben hatte, wurde im September vor vollendete Tatsachen gestellt.

Von phasenweisen Annäherungen abgesehen (die Arbeit an „Drella“ oder eine kurze Reunion-Tour 1993 in Europa) blieb die Beziehung zwischen beiden gespannt – bis kurz vor Reeds Tod. Danach veröffentlichte Cale ein Statement, in dem er davon schrieb, wie sehr sich beide bemüht hätten, die „Sternstunden unserer Rage“ auf Platte zu bannen, damit „sich die Welt daran ergötzen konnte. Unser amüsantes Gespräch, das wir erst vor wenigen Wochen führten, wird mich aber immer an die Gemeinsamkeiten erinnern, die zwischen uns bestanden.“

Doug Yule, Cales Nachfolger bei den Velvets, erinnert sich an Reed als „angenehmen und freundlichen“ Zeitgenossen, der aber „durchaus auch nachtragend“ sein konnte. Doch diese emotionale Härte habe „nur seinen inneren Kern geschützt – diese Güte und Humanität, die sein ganzes Werk durchzog“. Bei einigen seiner einfühlsamsten Songs -„Candy Says“ etwa oder der melancholischen Hollywood-Ballade „New Age“ – überließ Reed sogar Yule das Mikro. „Es war eine andere Stimme, die da aus ihm sprach“, so Yule. „Eine Stimme, die Unschuld und Naivität signalisierte. Er setzte sie ganz bewusst ein – auch, um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen.“

Im August 1970, als die Velvets ein Dauer-Engagement im Max’s Kansas City hatten – ihren ersten nennenswerten New Yorker Auftritt seit drei Jahren -, glänzte Reed durch Abwesenheit. „Es war eine echte Rock’n’Roll-Show“, erinnert sich Lenny Kaye.“Von dicker Luft oder internen Spannungen war nichts zu spüren. Es war unglaublich: Man hatte das Gefühl, zu einer Party zu gehen, wo eine tolle Haus-Band auftrat.“

Nach der Show am 23. August „hatten wir zwei freie Tage“, wie Yule sich erinnert. „Alle fuhren nach Hause, doch als ich dann in der folgenden Woche wieder zur Arbeit kam, hörte ich nur:,Lou wird nicht mehr zurückkommen. Er hat die Band verlassen.'“ Während die Velvets, inzwischen mit Yule als alleinigem Frontmann, ihre letzten Auftritte im Max’s absolvierten, verkroch sich Reed nach Long Island, wo er vorübergehend im Steuer-Büro seines Vaters arbeitete.

Reed beschrieb diese Phase seines Lebens später als „Exil und großes Grübeln“, indem er sich Fragen „nach dem nächsten Schritt“ stellte: „Soll ich es alleine machen? Will ich überhaupt eine Band haben? Sollte ich vielleicht nur Songs schreiben und auf die Bühne verzichten? Denn eigentlich bin ich die letzte Person auf dieser Welt, die für die Bühne gemacht ist. Einige Leute müssen einfach im Rampenlicht stehen, ich mit Sicherheit nicht. Was mir wirklich am Herzen liegt, ist der Song.“ Und, fügte er hinzu, „es für Leute zu tun, die diesen Song wirklich zu schätzen wissen“.

Zwei Jahre später war Reed in London, um seine Solokarriere ernsthaft in Angriff zu nehmen. Er arbeitete mit Bowie an „Transformer“ und spielte erstmals auch wieder vor Publikum.

„Was ich den Zuschauern geben kann, ist das Substrat all der Trips, die ich selbst unternommen habe“, sagte er in einem ROLLING STONE-Interview, das der Fotograf Mick Rock mit ihm führte. „Ich wünsche mir, dass sie nicht mehr die Gleichen sind, wenn sie nach einem meiner Konzerte nach Hause kommen.“

Die Beschäftigung mit dem Abseitigen und Unerwarteten machte Reed zu seiner Lebensaufgabe – und forderte dafür auch immer die volle Aufmerksamkeit des Hörers. Einige seiner intensivsten Arbeiten lieferte er erst, nachdem er den zwischenzeitlichen Kultstatus längst hinter sich gelassen hatte. Das ’92er-Album „Magic And Loss“ etwa, ausgelöst durch den Verlust zweier Freunde (einer war der großartige Songschreiber Doc Pomus), ist eine Abhandlung über Trauer und die Gnade der Erinnerung – und klingt fast schon wie eine dunkle Vorahnung. „There’s a bit of magic in everything“, singt Reed im Titelsong. „And then some loss to even things out.“

Auch in seinen letzten Lebensjahren stellte er sich ständig neuen Herausforderungen: Er veröffentliche zwei Bücher mit seinen Fotografien, nahm ein Album mit Ambient-Musik auf („Hudson River Wind Meditations“ von 2007), machte mit dem Metal Machine Trio freie Improvisationen und trat auch mit einer weiteren Freeform-Formation auf, zu der seine Frau Laurie Anderson und Saxofonist John Zorn zählten. Reed und Anderson hatten sich Anfang der Neunziger kennengelernt und 2008 geheiratet. (In erster Ehe war Reed mit Sylvia Morales verheiratet, die ihn in den Achtzigern zu einigen seiner romantischsten Songs inspirierte.)

„Sie waren das perfekte Paar“, sagt Willner über Reed und Anderson. „Sie hatten ähnliche Ansichten über Leben und Arbeit, gleichzeitig aber einen völlig unterschiedlichen Background. Und sie versteckten sich nicht. Man konnte sie jederzeit in New York auf der Straße treffen. Sie waren fast schon so etwas wie die modernen John & Yoko. Die Leute sagten: ,Ich habe Lou Reed und Laurie Anderson gesehen. Jetzt weiß ich wirklich, dass ich in New York war.'“

Im Sommer dieses Jahres schloss Reed die Remastering-Arbeiten an seinen Soloalben der 70er-und 80er-Jahre ab, die zu seinem 72. Geburtstag im nächsten Jahr als Boxset wiederveröffentlicht werden sollten. „Es gab nichts Schöneres, als gemeinsam mit ihm Musik zu hören“, so Willner. „Dafür hat er gelebt – für die Schönheit der Musik. Wenn er sich die Streicher und Vocals auf ,Transformer‘ anhörte und anmerkte, dass ,niemand die Background-Elemente besser arrangieren konnte als Bowie‘, dann machte das einfach ungeheuren Spaß.“ Willner erwähnt aber auch, dass die Arbeiten an „Lulu“ „für Lou eine Qual waren“.

Anfang Oktober, sechs Monate nach seiner Lebertransplantation, kreuzte Reed in der John-Varvatos-Boutique (dem ehemaligen CBGB) auf, wo der Fotoband „Transformer“ vorgestellt wurde, in dem Mick Rock seine besten Lou-Reed-Motive zusammengestellt hat. „Er war offensichtlich sehr schwach“, sagt Rock. „Als ich rausging, um ihn und Laurie zu begrüßen, kam er angeschlurft, auf Lauries Arm gestützt. Nachdem er etwas warm geworden war, kehrte die alte Stärke dann allerdings wieder zurück. Als wir uns unterhielten, gab’s in unserer Nähe eine lautstarke Auseinandersetzung. Lou rief nur: ,Shut up!‘ Er konnte noch immer richtig pampig werden.“

„Wir alle wussten ja, dass er ernstlich krank war, weil er kein Geheimnis draus machte“, sagt Produzent Tony Visconti, mit dem er sonntags eine Tai- Chi-Klasse im West Village besuchte. „Er machte Tai Chi, um seinen Körper in Schuss zu halten. Ich habe neulich auf Facebook ein paar Fotos von ihm gesehen, auf denen er unglaublich austrainiert aussah. Er hatte eine Muskulatur, um die ihn jeder 30-Jährige beneidet hätte.“

„Wenn er mal nicht so gut drauf war“, erzählt Rock, „sagte ich ihm immer: ,Ich kenne dich, Lou, in Wirklichkeit bist du doch ein Gladiator.‘ Und das war er tatsächlich.“

„Genau wie Bette Davis habe ich keinen Bock auf ausgelutschte Gefühle“, sagte er mir 1987, als ich ihn danach befragte, welche Kraft – musikalisch wie spirituell -ihn in seinem bisherigen Leben angetrieben habe. Um dann doch meine Frage nach seinem Werk ausführlich zu beantworten:“Wenn man es sich als Buch vorstellt, als die ,Great American Novel‘, dann ist jedes Album ein Kapitel. Es erzählt dir alles über mich, über meine Jugend in den Sechzigern, dann die Siebziger, jetzt die Achtziger. Es ist der Weg einer Person, die ihren Weg zu gehen versucht – mit all den Problemen, die jeder kennt. Der einzige Unterschied ist der, dass mein Weg durch die Öffentlichkeit führte. Und auch darüber schreibe ich.“

Reed sollte noch mehr als ein Dutzend weiterer Kapitel schreiben -im Studio wie live auf der Bühne -, bis der Roman ein natürliches Ende fand. „Das ist das Tolle an Menschen, die ihr Leben damit verbringen, Zeug für andere Leute zu machen“, sagt Bono. „Dieses Zeug bleibt uns immer erhalten.“

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