Luxus der Traurigkeit

Wilco sind die perfekte Mischung aus altmodischer Rock’n’Roll-Band, poetischem Songwriting, musikalischer Abenteuerlust und modernem Unternehmen.

Ein warmer Sommermorgen im Nordwesten Chicagos. Jeff Tweedy ist den ganzen Weg gelaufen. Anderthalb Meilen von seinem Haus am Irving Park zum Loft. Unter diesem Namen kennt man die dritte Etage eines Lagerhauses, in der er mit seiner Band Wilco probt, experimentiert, aufnimmt und entspannt. „Ein kurzer Weg für einen Deutschen, ein langer Weg für einen Amerikaner“, sagt er, und man ist sich nicht sicher, ob er sich über das Phlegma seiner Landsleute oder das vergleichsweise kleine Land seiner Vorfahren lustig macht (seine im September 2006 verstorbene Mutter Jo Ann Tweedy war eine geborene Werkmeister). Tweedy scheint jedenfalls wirklich ein bisschen erschöpft zu sein. Schweiß steht ihm unter den zerzausten Haaren auf der Stirn. Mit seinem in Violett und Dunkelgrau gescheckten Jackett sieht der 44-Jährige aus, als hätte er gleich noch einen Auftritt als Clown bei einem Kindergeburtstag. Er verschwindet in den Weiten des Raumes zwischen Regalen und Instrumentenkoffern.

Das Loft ist die visuelle Entsprechung zur Musik der Hausherren – Museum, Zukunftslabor und Studentenbude zugleich. Im Eingangsbereich, wo die Mischpulte und die Bücherregale stehen, sind noch ein paar Gitarren, Effektgeräte und Verstärker dazugekommen, seit Wilco hier zuletzt vor zwei Jahren empfingen, um ihr wohl bisher gefälligstes und sattestes Album vorzustellen, das sie auf den Namen „Wilco (The Album)“ getauft hatten. Die bunten Nudie Suits, die die Band bei den anschließenden Shows trug, hängen noch in den offenen Kleidertruhen. Die Klimaanlage surrt.

Im frischen roten T-Shirt kommt Jeff Tweedy zurück, und wir gehen in die Küche. „Dort hat Mavis Staples gesessen“, sagt er und zeigt auf einen Stuhl. Das aktuelle Album der legendären Gospelsängerin, „You’re Not Alone“, hat er im Loft produziert. „Das war die erste Platte überhaupt, die wir vollständig hier gemacht haben“, so Tweedy. „Mit Wilco sind wir immer spätestens zum Mischen in ein richtiges Studio gegangen, weil wir dachten, der Raum klinge nicht gut genug, zu viele Nebengeräusche. Aber Tom Schick, der Toningenieur, mit dem ich mittlerweile arbeite, meinte:, Ist doch super hier.'“ Und so entstand auch das neue Wilco-Werk, „The Whole Love“, komplett im Loft – hätte also auch „The Whole Loft“ heißen können, die Platte. „Der Raum ist tatsächlich wichtig“, so Tweedy. „Wir versuchen nämlich schon seit Langem, eine Platte zu machen, die so reichhaltig klingt wie die richtig guten Aufnahmen aus den Sechzigern und Siebzigern. Man kann quasi hineingehen in diese Lieder, sie sind räumlich.“ Verteufeln wolle er die Art und Weise, in der heute produziert würde, deswegen aber nicht. „Klingt halt nur nicht wie Musik für mich. Wenn die jungen Bands es cool finden – mehr Macht für sie! Ich bin sicher, es ist großartig.“

Tweedy ist ein ziemlich angenehmer, sympathischer Gesprächspartner. Aber wo diese poetischen, vom Bewusstseinsstrom abgezapften Songtexte herkommen, kann man im Gespräch kaum ergründen. Denn er ist ein Pragmatiker, von künstlerischen Visionen spricht er nie. „Das ist mir fremd“, sagt er. „Ich war nie davon überzeugt, wer oder was Wilco sein sollen. Da bin ich vielleicht seltsam oder einfach ein bisschen konfuser als, sagen wir: Bruce Springsteen, der vermutlich ziemlich genau wusste, wo er hinwollte. Egal ob romantisch oder politisch – er schreibt diese hoffnungsvollen Hymnen. Wilco-Songs haben diese Qualität nicht.“ Die Band kann mittlerweile ganz gut davon leben, brüchiger und konfuser zu sein als der Mainstream und schafft es dank einer treuen Fangemeinde regelmäßig auf die oberen Plätze der US-Charts. Eine Wilco-Platte ohne Zweifel und Identitätsängste würde vermutlich niemand kaufen.

Ein neues Album wird jedes Mal so sehnsüchtig erwartet wie die nächste Staffel einer heiß geliebten Serie des US-Fernsehsenders HBO. Tweedys Passionsgeschichte – die Migräneattacken und die Tablettensucht, die Minderwertigkeitsgefühle und die Depression -, die internen Streitereien und Umbesetzungen der 16-jährigen Bandgeschichte sind Teil der Faszination. Wenn man sich durch das Gesamtwerk hört, hat man eine große amerikanische Erzählung mit Dramatik, tragischen und hoffnungsvollen Momenten, Rückschlägen und Katharsis. Im neuen Song „Born Alone“ singt Tweedy: „Please come closer to the feather smooth lens fly/ Sadness is my luxury.“ Mit Wilco leistet man sich den Luxus der Traurigkeit.

Es scheint für viele Fans eine Art Hobby zu sein, die unterschiedlichen Besetzungen zu vergleichen und die Alben gegeneinander auszuspielen „Das ist nicht ganz fair – die Leute tun es trotzdem“, so Tweedy. „Aber diese Platten sind in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen entstanden, mit wechselnden Beteiligten. Man kann das nicht wiederholen, man muss der natürlichen Entwicklung ihren Lauf lassen. Abgesehen davon teile ich die Einschätzungen der Öffentlichkeit zu den jeweiligen Platten nicht mal. Wir kämpfen da gegen Mythen und seltsame Zuschreibungen von der Musikkritik., Yankee Hotel Foxtrot‘ war für mich zum Beispiel nicht das experimentelle Avantgarde-Album, sondern eine Pop-Platte. Mit, Sky Blue Sky‘ sind wir nicht plötzlich mild geworden – das ist eine Meditation über den Tod! Das Ziel ist einfach, jedes Mal eine Platte zu machen, die wir nicht eh schon im Regal stehen haben.“

War „Wilco (The Album)“ eher eine Art Rückschau, die noch einmal alle Qualitäten der Band ausstellte, kann man auf „The Whole Love“ neben einigen charakteristischen Countrystücken jede Menge Songs hören, die keine Entsprechung im bisherigen Wilco-Werk finden. Das zwölfminütige „One Sunday Morning (Song For Jane Smiley’s Boyfriend)“ etwa – ein Hybrid aus epischer Folkballade und repetitivem Minimalismus. „Auf das Lied bin ich besonders stolz, vielleicht von allen Sachen, die wir je gespielt haben, mein liebstes“, so Tweedy. „Die neuen Songs fühlen sich frischer an als zuletzt. Ich habe das Schreiben lange nicht mehr so genossen. Das liegt vor allem daran, dass wir uns zum ersten Mal überhaupt eine längere Auszeit gegönnt haben. Die Lieder entstanden also, ohne dass ich die ganze Zeit die alten Stücke, die wir bei den Live-Shows spielen, im Kopf hatte. Das fühlt sich wirklich an wie zwei unterschiedliche Gehirnhälften. Schreiben ist für mich eher eine philosophische, psychologische Übung – ich versuche, mit meinem Unterbewusstsein in Kontakt zu treten. Live spielen bedeutet eher, den Körper in Form zu halten. Vom Unterbewusstsein möchte ich auf der Bühne jedenfalls nicht belästigt werden. Ich überlege eher, wo meine Schlüssel sind.“

The Whole Love“ ist lyrisch weitaus komplexer als die letzten Alben. Abstrakte Texte seien für einen Songwriter ein Luxus, so Tweedy. Man brauche Distanz und Muße. Als er Anfang der Neunziger mit der Wilco-Vorgängerband Uncle Tupelo um die Welt tourte, sei so was gar nicht möglich gewesen. „Damals hatten wir nicht viel Zeit zum Songschreiben. Ich habe die Texte nicht mal aufgeschrieben, es musste immer so einfach sein, dass ich es mir sofort merken konnte. Und irgendwann während der Aufnahmen zu, Being There‘ hat mich das angeödet, und ich habe versucht, stream-of-conciousness-Sachen zu singen. Es hat später großen Spaß gemacht, die zu singen, weil sie für mich von Abend zu Abend ihre Bedeutungen änderten. Das ist der Grund, warum ich seitdem manchmal abstrakter werde.“

Mittlerweile entscheide er anhand der musikalischen Atmosphäre des Stücks, wie abstrakt und assoziationsreich ein Song sein könne. Das hymnische „Born Again“ etwa habe quasi nach einem lyrischen Bruch geschrien (hätte Bruce Springsteen vermutlich anders gesehen). „Ich habe also eine alte Lyrikanthologie genommen, mir ein paar Verben bei Emily Dickinson und ein paar Hauptwörter bei (John Greenleaf) Whittier geborgt und versucht, die zu verbinden“, so Tweedy. „Das Ergebnis hat mich seltsamerweise tiefer getroffen als viele meiner eher direkten Songs. Aber wenn sich etwas in unmittelbarer Form offenbart, sollte man es trotzdem nicht verkomplizieren.“

Tweedys Texte scheinen auf „The Whole Love“ wesentlich unruhiger und dunkler als etwa auf dem fast zen-weisen „Wilco (The Album)“. Der Titel des neuen Werks bezieht sich auf einen Slangausdruck aus einem Krimi: „This guy is pretty close to giving us the whole love.“ („Dieser Typ ist kurz davor, uns die ganze Wahrheit/ein vollständiges Geständnis zu geben.“) „Einige der Songs haben etwas sehr Obsessives“, so Tweedy, „das ist vielleicht das Thema dieses Albums. Daher haben wir auch diese abstrakten, akribischen Zeichnungen von Joanna Greenbaum für das Cover ausgesucht. Das korrespondiert ziemlich gut.“

Der Grundton von „The Whole Love“ erinnert wieder an die spannungsgeladenen Meisterwerke „Yankee Hotel Foxtrot“ oder „A Ghost Is Born“, auch wenn Tweedy dieser Deutung ein bisschen skeptisch gegenübersteht. „Es gibt Elemente, die all unsere Alben verbinden – bestimmte Themen, Melodien, ein starker Country-Einfluss und so weiter. Meine Theorie ist ja: Der erste Song gibt vor, wie eine Platte rezipiert wird. Das letzte Album beginnt mit dem leichtfüßigen, Wilco (The Song)‘ – das war also unsere beschwingte, lustige Platte. Hätten wir das Album mit einem anderen Stück eröffnet, wäre es vielleicht unsere Mörderplatte oder unsere George-Harrison-Platte gewesen. Und das neue Album? Hm, mal sehen: Das erste Stück ist ziemlich lang. Vielleicht ist das unsere lange Platte.“

Wenn die Theorie stimmt, könnte „The Whole Love“ auch als die Pink-Floyd-, die Ambient-, die Cinemascope-Streicher-, die „I Am The Walrus“-, die Gitarrenschredder-, die Elektronik- oder die Dekonstruktionsplatte in die Wilco-Geschichte eingehen. Denn all das ist zu hören in den ersten sieben Minuten titels „Art Of Almost“.

Ursprünglich kam Tweedy mit einem einfachen akustischen Folksong ins Loft, und die Band stieg langsam ein. „Am Ende einer Aufnahme spielte Glenn (Kotche, Schlagzeuger) einen interessanten Beat, und ich sagte:, Lass uns den doch mal unter die Melodie legen und hören, wie das klingt.‘ Und jemand anders, ich glaube es war Mike (Mikael Jorgensen, Keyboarder), sagte:, Wie wär’s, wenn wir einfach all die Noten, die wir hier spielen, wie eine Wolke über den Song abregnen lassen?‘ Dann sagte irgendwer:, Glenn, guck mal, wie lange du es schaffst, nichts als die Snare zu spielen.‘ (kichert) Und Nels (Cline, Gitarrist) kam mit diesem unglaublichen Gitarrensolo.“

Mehrere Monate probierte die Band an „Art Of Almost“ herum. „Jede Version klingt auf ihre ganz eigene Art großartig“, sagt Tweedy und strahlt. „Es war wirklich so, wie wenn einer einen Satz mit der Schreibmaschine schreibt, der Nächste guckt sich das an und sagt:, Ich weiß, wie’s weitergeht‘, und seine Idee darunter schreibt, dann der Nächste und so weiter.“ Die Chemie der Band scheint zu stimmen. „Mit Ausnahme von John (Stirratt, Bassist) und mir ist jeder aus der aktuellen Besetzung zu einer Zeit zur Band gestoßen, als Wilco schon ganz gut lief. Sie mussten sich jeweils erst in etwas Bestehendes hineinfinden und gingen verständlicherweise zunächst ein bisschen vorsichtiger vor, um nichts zu zerstören. Mit dieser Platte hat wirklich jeder seinen Platz gefunden und das Selbstvertrauen, etwas Eigenes beizutragen.“

Vor allem Pat Sansone, neben Nels Cline jüngster Neuzugang in der Band, hat als Co-Produzent eine wichtige Rolle in dieser seit 2004 unveränderten und damit beständigsten aller Wilco-Besetzungen. „In allem, was mit Musik zu tun hat, ist Pat außergewöhnlich gut“, so Tweedy. „Er spielte fast alle Instrumente, kennt sich mit der Produktionssoftware Pro Tools aus, ist ein guter Toningenieur und definitiv ein sehr guter Arrangeur – er hat dieses Mal sogar einen Streicherpart geschrieben. Und er ist detailversessen. Da ergänzen wir uns vorzüglich, denn ich bin immer eher auf das große Ganze eines Songs fokussiert, weil ich nicht den Kontakt zur ursprünglichen Idee verlieren möchte.“

Mit Jay Bennett hatte Tweedy Ende der Neunziger eine ähnlich intensive Arbeitsbeziehung, die allerdings gegen Ende der Aufnahmen zu „Yankee Hotel Foxtrot“ im Streit endete. Noch kurz vor seinem Tod im Mai 2009 hatte Bennett Tweedy auf ausstehende Tantiemen verklagt. „Wir haben alle Fehler gemacht“, so Tweedy. „Jay war ein großartiger Musiker, der einen auch ganz schön entmutigen konnte.Heute ist die Atmosphäre in der Band eine andere. Jeder schätzt die Fähigkeiten des Anderen, alle arbeiten in eigenen Projekte, in denen sie sich austoben können, und das, was sie dort lernen, bringen sie wieder bei Wilco ein. Eine ideale Situation.“

Beim „Solid Sound Festival“ in North Adams, Massachussetts kamen Ende Juni all die Nebenprojekte bereits das zweite Jahr in Folge für drei Tage zusammen. Jeff Tweedy gab eine Soloshow an der akustischen Gitarre, Kotche spielte allein und im Duo mit Bassist Darin Gray als On Fillmore, Pat Sansone und John Stirratt kamen mit ihrer Band The Autumn Defense, Mikael Jorgensen mit Pronto, Nels Cline gab mit Thurston Moore eine rare Performance des gemeinsamen Projekts Pillow Land. Die ersten beiden Tage endeten jeweils mit einer Wilco-Show, der dritte mit einem Auftritt von Levon Helm und seiner Band. „Wir dachten, es würde vermutlich nie passieren, dass all unsere Projekte auf dasselbe Festival gebucht werden“, so Tweedy. „Dafür sind sie einfach zu verschieden. Also haben wir selbst eins auf die Beine gestellt und noch ein paar Freunde eingeladen.“

Doch Wilco sind nicht nur Konzertkuratoren, mittlerweile hat die Band auch eine eigene Plattenfirma – dBpm Records. Das Kürzel steht für „decibels per minute“, ein verworfener Titel für das Album von 2004, das schließlich „A Ghost Is Born“ hieß. „Der Name ergibt überhaupt keinen Sinn, aber er sieht gut aus“, so Tweedy. Erste Veröffentlichung von dBpm: die neue, ein bisschen an Elvis Costello & the Attractions erinnernde Wilco-Single „I Might“ mit dem Nick-Lowe-Cover „I Love My Label“ auf der B-Seite.

Sie scheinen wirklich stolz zu sein auf ihre kleine neue Firma. Der Schritt in die Unabhängigkeit sei ihm nach dem Ende des Vertrages mit dem Warner-Imprint Nonsuch nicht schwergefallen, so Tweedy. „Wir haben uns zusammen mit unserem Manager Tony Magherita schon vor längerer Zeit eigene Strukturen aufgebaut und sowieso schon vieles selbst gemacht, für das normalerweise die Plattenfirma zuständig ist. Als wir im vorigen Jahr mit einigen Labels verhandelten, haben wir auf unsere Frage, Was tut ihr eigentlich für die 80 Prozent, die für euch rausspringen?‘ keine besonders vielversprechenden Antworten bekommen. Abgesehen davon ist es einfach keine gute Idee, sich für fünf Jahre an eine Firma zu binden, von der man nicht mal weiß, ob sie in zwei Jahren überhaupt noch da ist.“

Klar, Wilco sind trotz aller musikalischen Experimente eine altmodische Rock’n’Roll-Band, die in Alben denkt und in Tourneen, in Traditionen und Originalität. Jeff Tweedy sieht den idealen Hörer wohl aufmerksam vorm Plattenspieler sitzen und nicht mit Ohrstöpseln in der U-Bahn. Und wenn man aus Chicago kommt, ist diese Vorstellung wahrscheinlich gar nicht so ungewöhnlich. Es ist wohl kein Zufall, dass die Verfilmung von Nick Hornbys Bestseller „High Fidelity“ in dieser Stadt spielte. In Szene-Vierteln wie Wicker Park haben Plattenläden in beträchtlicher Anzahl überlebt. Und in jedem davon scheint ein signiertes Wilco-Plakat zu hängen. Kann gut sein, dass dieser Band, die sich aus Zweifeln und Ängsten, Konfusion und Depression, großen Songs und Erfindungsgabe, der Liebe zu alten Platten und neuen Ideen ein eigenes Imperium erschaffen hat, die Zukunft gehört.

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